Palästinenserinnen aus Zürich: «Das kollektive Trauma sitzt tief»
Sie wollen nicht länger schweigen. Drei Palästinenserinnen aus Zürich erzählen, wie es ihnen geht und was sie sich von der Gesellschaft, Politik und den Medien wünschen.
Die humanitäre Lage in Gaza spitzt sich weiter zu. Am Mittwoch veröffentlichten gemäss dem ARD mehr als hundert internationale Organisationen eine Erklärung gegen Einschränkungen ihrer Hilfe vor Ort.
«Während die palästinensische Bevölkerung hungert, warten Lebensmittel, Medikamente, Wasser und andere Hilfsgüter im Wert von mehreren Millionen Dollar in Lagerhäusern in Jordanien und Ägypten darauf, eingelassen zu werden», erklären die Unterzeichnenden – unter anderem Ärzte ohne Grenzen, Oxfam und Care.
Fast zeitgleich wurde klar: Israels neuer Kriegsplan sieht laut Ministerpräsident Benjamin Netanyahu die Einnahme der Stadt Gaza vor, wie das SRF mitteilt.
Was macht das mit Menschen aus Palästina? Drei Zürcherinnen erzählen.
Shirine Dajani, 43
Ich bin müde.
Seit ich 16 Jahre alt bin, setze ich mich dafür ein, dass alle Menschen in Palästina in Freiheit und Würde leben können. Meine Grosseltern wurden 1948 gewaltsam aus Haifa und Jaffa vertrieben und flüchteten in den Libanon. Sie haben ihr Zuhause, ihren Besitz, ihre sozialen Beziehungen verloren, aber nie ihren Stolz.
Bis zu ihrem Tod hofften sie, irgendwann zurückkehren zu können. Diese Hoffnung teilen auch meine Eltern und ich. Angesichts der aktuellen Situation ist es schwierig, die Hoffnung nicht zu verlieren. Das kollektive Trauma von Entwurzelung, Vertreibung und der Aberkennung unserer Identität sitzt tief.
In den letzten zwei Jahren hat sich vieles verändert. Die Menschen in Gaza erfahren unsägliches Leid. Mindestens 60’000 Menschen sind tot, Hunderttausende verletzt. Die Stadt liegt in Trümmern, die Menschen werden von Israel gezielt ausgehungert. Gleichzeitig hat die Gewalt der Siedler:innen im Westjordanland nochmal stark zugenommen.
«Worte allein werden den Horror in Gaza nicht stoppen.»
Shirine Dajani
Die Nakba – die Vertreibung von 750‘000 Palästinenser:innen zwischen 1948 und 1949 – war schlimm, aber das, was jetzt passiert, lässt sich nicht in Worte fassen. Eine Bevölkerung wird ausgelöscht und wir sehen auf unseren Smartphones dabei zu.
Auf der gesamten Welt protestieren Millionen von Menschen gegen die Tötung von Kindern und gegen den Genozid in Gaza. Sie sagen ihren Regierungen, dass es die Menschen in Gaza verdienen, in Frieden und Sicherheit zu leben.
Die faschistische und rassistische israelische Regierung muss gestoppt werden; durch Boykotte und Sanktionen. Der Bundesrat muss handeln und so lange Druck ausüben, bis Israel das Völkerrecht respektiert.
Worte allein werden den Horror in Gaza nicht stoppen.
Der einzige Unterschied zwischen Palästinenser:innen in Gaza und uns in der Schweiz ist, dass wir durch Zufall an unterschiedlichen Orten geboren worden sind. Als Mutter, als Schweizerin, als Mensch, weigere ich mich, wegzuschauen.
Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben.
Sonya Alkhadi, 40
Mein Cousin wurde im Westjordanland von einem israelischen Soldaten erschossen. Sein Tod hat viel bei mir ausgelöst.
Er hat mein Schweigen über meine Herkunft gebrochen, obwohl ich ihn nicht persönlich kannte: «Jetzt hat es auch meine Familie getroffen», dachte ich, nach all den Jahren des Widerstands. Da ist grosse Wut, aber auch Unverständnis und Ernüchterung.
Ich wurde in Jerusalem, der heiligen Stadt geboren, und wuchs in Hamburg als Kind einer Gastarbeiterfamilie auf. Wir sprachen oft über Palästina, da viele meiner Verwandten dort geblieben sind. Sie haben sich trotz widriger Umstände eine Existenz aufgebaut, doch der Preis dafür ist hoch. Ihr Alltag ist geprägt von Unterdrückung und der ständigen Angst, alles zu verlieren.
1996 war ich zum letzten Mal auf palästinensischem Boden, da war ich 11 Jahre alt. An ein Erlebnis erinnere ich mich noch besonders gut: Um nach Hebron zu meinen Verwandten zu gelangen, muss man mehrere Checkpoints passieren. Während Israelis problemlos durch das von ihnen besetzte Gebiet fahren können, müssen sich Palästinenser:innen Kontrollen unterziehen lassen.
«Ich weiss, dass es ganz viele Menschen gibt, die das Vorgehen der israelischen Regierung verurteilen, aber sich nicht trauen, sich zu äussern.»
Sonya Alkhadi
Oft sind diese sehr erniedrigend, man muss sich bis auf die Unterhosen ausziehen, all sein Hab und Gut von Soldat:innen durchwühlen lassen. Meinem kleinen Bruder wurde sein Spielzeug-Helikopter weggenommen, angeblich, weil sich darin irgendwas schmuggeln lässt.
In den letzten Jahren hat sich die Situation für Palästinenser:innen weiter verschärft – nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Doch davon spricht kaum jemand. Weder die Schweizer Politiker:innen noch die Medien machen ihre Arbeit: Manchmal werden Fakten verdreht, Gräueltaten relativiert.
Viele versuchten lange, das Vorgehen der israelischen Regierung zu legitimieren – manche tun das bis heute, obwohl es gegen die Menschenrechte verstösst.
Seit die Lage in Gaza so schlimm geworden ist, habe ich Instagram deaktiviert. Ich kann das Leid nicht ertragen, das meinem Volk angetan wird. Ich weiss, dass es ganz viele Menschen gibt – in Deutschland, der Schweiz oder in Israel – die das Vorgehen der israelischen Regierung verurteilen, aber sich nicht trauen, sich zu äussern.
Doch das Schweigen kostet Leben.
Farah Khaleel, 37
Ich habe aufgehört, die Situation in Gaza auf Social Media zu verfolgen. Ständig mit Bildern von ausgehungerten Kindern und der vollkommenen Zerstörung konfrontiert zu werden, macht mich krank. Die Szenen lassen mich nicht mehr los, begleiten mich durch meinen Alltag als Mutter einer kleinen Tochter.
Deshalb musste ich lernen, mich von den News zum Genozid abzugrenzen. Ich kenne die Realität. Ich weiss, wie schlecht es meinem Volk geht.
Die Videos sollen sich Menschen anschauen, die nicht glauben wollen, was vor unseren Augen passiert und das humanitäre Völkerrecht nicht ernst nehmen.
Nach der Nakba im Jahr 1948 musste meine Familie nach Jordanien fliehen, weil das Leben in Lifta zu gefährlich wurde. Sie dachten, dass sie zurückkehren könnten, sobald sich die Lage verbessert hätte, doch mit der Zeit mussten sie sich ein neues Leben in Jordanien aufbauen.
«Unsere Kultur hat den Schmerz überlebt, den meine Grosseltern und Eltern erdulden mussten.»
Farah Khaleel
Bis heute hoffen meine Eltern darauf, dass ihre Heimat endlich frei wird. Meine Herkunft prägt mein Leben: Ich besitze einen jordanischen Pass, habe in Deutschland studiert und lebe seit fünf Jahren in der Schweiz, doch in meinem Herzen bin ich Palästinenserin.
Früher hatte ich Mühe zu sagen, das zu sagen. Unser Volk, unsere Geschichte und unser Kampf werden von einigen Politiker:innen und Medien falsch dargestellt. Wenn ich sage, dass ich Palästinenserin bin, herrscht entweder Schweigen oder meine Nation wird geleugnet: «Gibt es Palästina überhaupt? Ich habe noch nie von Palästinenser:innen gehört!»
Ich merke: Als Palästinenserin bist du Terroristin, kein Mensch mit einer eigenen Haltung, eigenen Werten, individuellen Erfahrungen oder Träumen.
Seit ich mich erinnern kann, versuche ich, die Katastrophe zu verstehen, die meinem Volk widerfahren ist. Es ist schwierig zu verstehen, wie dieses Leid so lange andauern kann. Wenn ich mich jedoch auf die positiven Aspekte der palästinensischen Geschichte konzentriere – die Mode, das Essen, der Tanz –, hilft mir das, hoffnungsvoll zu bleiben.
Unsere Kultur hat den Schmerz überlebt, den meine Grosseltern und Eltern erdulden mussten. Ich möchte nicht, dass dieses Erbe verloren geht, deshalb sammle ich Kleidungsstücke, stelle sie aus und spreche über sie. Diese Arbeit hilft mir, mit dem Trauma umzugehen, die schwierigen Gefühle zu verarbeiten und sie auszudrücken.
Ich mache das auch für meine Tochter. Auch wenn sie im behüteten Zürich aufwächst, wird sie früher oder später vom Leid unseres Volkes erfahren und sich fragen, wie es so weit kommen konnte.
Ich wünsche mir für sie, dass sie irgendwann nach Lifta zurückkehren kann, in ein freies Land, in dem Palästinenser:innen als gleichwertige Menschen wahrgenommen und geschätzt werden.
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Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.