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«Die Sexindustrie ist nicht feministisch, weil unsere Gesellschaft es nicht ist»
In der Berliner Szene sind sie inzwischen ganz gross – jetzt kommen sie nach Zürich: Das Berlin Strippers Collective. Das feministische Stripper:innen-Kollektiv möchte aufräumen mit veralteten Klischees und kämpft für mehr Rechte in der Sexarbeit. Gemeinsam zeigen sie, wie kreativ und politisch Strippen, abseits der traditionellen Stripclubs, sein kann.
Die Beine eng umschlungen an der Pole-Stange, kopfüber hängend, mit nichts als einem Netzhöschen und endlos hohen Highheels, begleitet von rhythmischer Popmusik und gleissenden Lichtern – so sieht die nächtliche Realität der beiden Sexarbeiter:innen Ivy* und Edie* aus. Doch an diesem Freitagmorgen zeugt nichts davon. Die zwei Mitglieder des Berlin Strippers Collective machen auch durch den Laptopbildschirm bereits nach kurzer Zeit klar, dass ihre performative Sinnlichkeit auch stark politisch ist.
In einem Berliner Stripclub formierte sich die Gruppe engagierter Stripper:innen im November 2019 zum Berlin Strippers Collective. Sie hatten genug von den haltlosen Arbeitsbedingungen der Sexindustrie und dem Machtgefälle zwischen Clubbesitzern und Stripper:innen, so Edie, Mitgründerin des Kollektivs und erklärt: «Stripclubs sind sehr altmodisch. Es ist eine sehr binäre Sache: ‹Ich Frau, Du Mann›. Genauso bei den Beauty-Standards: Es ist nicht wirklich akzeptiert, dass du Haare hast.» Und Ivy ergänzt: «Auf dem Körper, meint sie. Auf dem Kopf ist es gut.»
Lautes Gelächter durchströmt den virtuellen Raum. Augenblicklich löst sich die Amüsiertheit auf und Edie fährt fort: «Es ist eine Industrie, in der ganz viel Body-Shaming und Rassismus passiert. Deshalb wollten wir unser Spiel zu unseren eigenen Regeln kreieren.» So könnten nicht nur cis Frauen, sondern zum Beispiel auch nicht-binäre und transmaskuline Personen Teil ihres Kollektivs werden, wie Ivy erklärt, die unter anderem als Grafikerin für das Kollektiv agiert. So sagen sie zusammenfassend: «Es ist jetzt 2022 – es ist Zeit, diese Industrie zu modernisieren.»
«Ganz viele Leute waren noch nie in einem Stripclub. Sie wissen nichts über unser Leben und unsere Arbeit und malen sich irgendwelche Geschichten über uns aus.»
Edie, Sexarbeiterin
Meet the Strippers: Bald auch in Zürich
«Strippen hat auch eine kreative Seite», sagt Edie, «das wollten wir gemeinsam im Kollektiv entdecken, abseits der traditionellen Strukturen eines Stripclubs.» An der Schnittstelle von Sexarbeit, Aktivismus und Kunst zieht das Kollektiv mit Live-Drawing-Sessions, Performances, Varieté-Shows und anderen sexpositiven Events mittlerweile von einem Berliner Club zum nächsten. Das mit grossem Erfolg, denn, wie Ivy erklärt, wird das 16-köpfige Kollektiv für immer mehr Veranstaltungen angefragt. So auch in Zürich, wo sie am Freitag, 30. September, im Last Tango zu sehen sind.
«Wir wollen als Sexarbeiter:innen mehr Sichtbarkeit erhalten und eine Diskussion über Sexarbeit anstossen.»
Ivy, Sexarbeiterin
Durch die zugängliche Art ihrer Events sollen auch Menschen angesprochen werden, die sonst nie mit Sexarbeiter:innen in Kontakt kommen. «Ganz viele Leute waren noch nie in einem Stripclub. Sie wissen nichts über unser Leben und unsere Arbeit und malen sich irgendwelche Geschichten über uns aus», so Edie und legt nach: «Viele wissen nicht, dass wir als Sexarbeiter:innen Reisebeschränkungen unterliegen und zum Beispiel nicht einfach so in die USA reisen dürfen.»
So kam auch die Idee eines Events namens «Stripper Stories» auf, bei dem die Stripper:innen lustige, manchmal unangenehme, aber authentische Erlebnisse aus ihrem Arbeits- und Lebensalltag teilen, was das Publikum näher an die Realität der Sexarbeiter:innen heranführen soll. «Wir wollen dadurch als Sexarbeiter:innen mehr Sichtbarkeit erhalten und eine Diskussion über Sexarbeit anstossen», sagt Ivy.
Consent is the key: Auch bei Sexarbeiter:innen
Edie hat ihren Masterabschluss zum Mediendiskurs über Sexarbeiter:innen gemacht und erklärt: «Sexarbeit widersetzt sich den Normen von Gender und Sexualität unserer Gesellschaft.» Wie sie ausführt, herrscht in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft die Überzeugung, dass Frauen, aber auch andere Frauen, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen (FINTA) stets unentgeltlich sexuelle Leistungen vollbringen sollten. Dabei seien FINTAs regelmässig Opfer von sexueller Gewalt und Belästigung.
«Es geht um Consent. Und wenn ich ja sage, dann musst du mich auch bezahlen.»
Edie, Sexarbeiterin
So gingen zum Beispiel in Zürich von Mai bis Dezember 2021 pro Tag durchschnittlich knapp vier Meldungen in Zusammenhang mit sexueller Belästigung von überwiegend FINTAs im öffentlichen Raum beim Meldetool «Zürich schaut hin» ein. «Sexarbeiter:innen drehen diese Situation um und sagen: ‹Wenn du etwas von mir willst, musst du mich zuerst fragen – es geht um Consent. Und wenn ich ja sage, dann musst du mich auch bezahlen›», sagt Edie.
Immer wieder komme es in Clubs und sogar an ihren Veranstaltungen zu Grenzüberschreitungen, so Edie, die in ihrer letzten Strippers Story auf der Bühne erzählte: «Wir flirten mit den Kund:innen, aber es ist nicht echt. Es ist unsere Arbeit. Wir verkaufen Entertainment. Aber so viele männliche Kunden fragen nach unserer Telefonnummer und wollen mit uns Kaffee trinken.»
Sie erinnert sich: «Kurz darauf gab ich einem Mann einen Lapdance, da er diesen gewonnen hatte. Danach kam er zu mir und meinte: ‹Dieser Lapdance war der beste, den ich je hatte.› Er erzählt mir von seiner Scheidung und seinem Haus und fragt: ‹Möchtest du mein Haus sehen?› ‹Was?›, denke ich. Hast du meiner Geschichte überhaupt zugehört?»
Sexarbeit ist feministisch, die Sexindustrie nicht
Da Sexualität in unserer Gesellschaft gleichzeitig immer noch stark tabuisiert und als etwas ausschliesslich Intimes dargestellt werde, werde Sexarbeit in diesem Kontext als verwerflich verstanden, so Edie. Diese Stigmatisierung zeige sich auch innerhalb der Sexarbeitsszene: «Whorearchcy» (Wortspiel zwischen engl. für Hure und Hierarchie) bezeichnet gemäss Ivy und Edie die Einstellung einiger Stripper:innen und anderer Sexarbeiter:innen, welche sich als «besser» empfinden, da sie «keinen Sex verkaufen». Diese Ansicht würde sich aber nicht mit jener des Kollektivs decken, erläutert Edie: «Wir wollen Solidarität mit allen Arten von Sexarbeit zeigen.»
Sie sagt: «Die Sexindustrie ist nicht feministisch, weil unsere Gesellschaft nicht feministisch ist.» Denn diese existiere so, weil eben die Werte und Normen unserer Gesellschaft dazu führen, dass Sexarbeit kriminalisiert, damit den Sexarbeiter:innen Rechte vorenthalten und sie in Abhängigkeitsverhältnisse zwingen würde.
Auch ältere Damen erfreuen sich an Lapdances
Diese prekäre Situation zeigte sich für Ivy und Edie auch mit Beginn des Lockdowns und den Massnahmen infolge der Corona-Pandemie, wodurch sie ihre Arbeit, ihre Einnahmen und damit ihre Existenzgrundlage über lange Zeit verloren haben. Trotz allem scherzen die beiden: «Dadurch hatten wir viel Zeit, die wir ins Kollektiv investieren und unsere Reichweite auch online ausbauen konnten.»
Diese Realität zahlt sich nun aus, denn inzwischen zählt das Kollektiv auf Instagram über 19'000 Follower und ist auch über die Grenzen von Berlin hinaus bekannt geworden. So war die Gruppe bereits in Köln, München, Osnabrück und Warschau zu sehen. Ivy erklärt, dass sie schon an einigen Orten abseits von Berlin waren, wo die Menschen sie eher vorsichtig auf Distanz beobachtet haben und erzählt: «Aber auch dort haben wir das Publikum dann doch irgendwie geknackt. Zum Beispiel in Osnabrück, wo eine ältere Dame um die 60 Jahre mit Freude dagesessen ist und das Ganze gefilmt hat. Das war ein schöner Moment.» Dabei geben sich die beiden Stripper:innen aber auch kämpferisch: «Egal ob die Leute bereit sind oder nicht: Die Revolution fragt nicht nach Erlaubnis.»
*Anmerkung: Sexarbeit ist in diesem Artikel von Zwangsprostitution zu unterscheiden. Dennoch sorgen sich auch Sexarbeiter:innen um ihre Sicherheit, weswegen im Artikel möglichst wenig der interviewten Personen preisgegeben wurde.
Berlin Strippers Collective: Events in der Schweiz |
Am Freitag, 30. September, ist Ivy gemeinsam mit einer anderen Stripperin vom Berlin Strippers Collective |
Das mache ich bei Tsüri:
Die Augen und das Herz offen halten, was in und um Zürich vor sich geht, darüber philosophieren, reden und schreiben.
Das mache ich ausserhalb von Tsüri:
Chillen auf Balkonien, an der Aare, in den Bergen oder einfach bei Cappuccino mit Lieblings-Menschen, um mein «Overthinker-Brain» auch mal zur Ruhe kommen zu lassen.
Über diese Themen schreibe ich am liebsten:
Das grosse Ganze in kleinen Alltagsbegegnungen und -beobachtungen mit einem kritischen Blick und einer Spur Ironie.
Darum bin ich Journalistin:
Kitschig, vielleicht grössenwahnsinnig, aber: um Geschichten zu erzählen, die uns einander besser verstehen lassen und dadurch näher zusammenbringen.
Das mag ich an Züri am meisten:
Laue Nächte auf warmem Asphalt begleitet von Klängen der Stadt.
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