Falkenkamera: «Wir hoffen, dass es bald Eier gibt»
Am Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage an der Josefstrasse wohnen derzeit zwei Turmfalken. Grün Stadt Zürich hat zwei Kameras installiert, beobachten kann man das Treiben live – rund um die Uhr. Hoch oben in der Luft geschieht so einiges und vielleicht bald mehr, die Hoffnung auf Nachwuchs ist gross. Beflügelt vom Treiben der Falken.
In der Ferne ertönt eine Sirene, ob es jene eines Polizei- oder eines Krankenwagens ist, kann ich nicht zuordnen. Die zwei Falken hören sie jedenfalls auch. Seit einigen Tagen schalte ich regelmässig zu den beiden Vögeln. Auf dem Hochkamin der Kehrichtverbrennungsanlage an der Josefstrasse befindet sich ein Falkenhorst, der mit einer Innen- und Aussenkamera ausgestattet ist. Rund um die Uhr kann man das Treiben beobachten, via Livestream auf Youtube.
Während ich anfangs nur gelegentlich auf den Link geklickt habe – mehr aus Spass – sind die beiden Kameras auf meinem Computer mittlerweile in zwei Browsertabs geöffnet und so auf dem Bildschirm arrangiert, dass nebenbei noch gearbeitet werden kann.
Ein Mittwoch mit Falken
Den Tipp für dieses Spektakel kam aus der Redaktion, «zur Beruhigung». Der Technologie sei Dank, der Vogelstream kann auch unserem 10 Uhr Tsüri-Teammeeting zugeschaltet werden. Da die Aussenkamera keinen Ton hat, ist die Innenkamera umso wichtiger. Dank ihr höre ich alles, was im Hochkamin passiert und kann sofort reagieren, wenn’s abgeht. Das Piepsen, das ab und zu ertönt, nervt meine Mitbewohner*innen. «Mis Dach isch de Himmel vu Züri», solle ich mir anhören, sagen sie. Ich setze mir Köpfhörer auf, das Lied kenne ich nicht. Es ist Mittwochmorgen um 8.30 Uhr und 30 Leute sind live dabei. Ich bin nicht alleine.
Durch das Teilen des Bildschirms habe ich beide Ansichten im Überblick: Huscht ein Vogel raus, so verpasse ich seinen Abflug nicht. Spannend ist hierbei der tote Winkel: Hält sich das Tier im «Eingang» auf, so ist es weder auf der Aussen- noch auf der Innenkamera zu sehen. Komm raus oder rein, ich will dich sehen, denke ich mir.
Über Mittag schnellt die Zuschauer*innenzahl auf 41. Essen wir mit den Falken z’Mittag?
Am Nachmittag ist es ruhig. Wo fliegen die zwei umher, wenn sie nicht im Falkennest sind? Durch die Abwesenheit der Falken ist das Bild ganz still. Man könnte fast denken, dass aus Versehen auf Pause gedrückt wurde. Autos im Hintergrund, die über die Hardbrücke brausen, bringen etwas Leben auf den Bildschirm. Das Mittagessen der zwei Falken findet gegen 16 Uhr statt – wobei, geteilt wird diese Beute nicht. Der eine kommt, grosse Aufruhr herrscht und zack wird in Windeseile eine Eidechse vertilgt.
Auf dem Boden der Falkenbox liegen Knochen. «Das ist ganz normal. Das Männchen bringt die Beute und ob drinnen oder draussen gegessen wird, putzen tut niemand», sagt Max Ruckstuhl, Leiter der Fachstelle Naturschutz der Grün Stadt Zürich. Er ist zuständig für die Falkenkamera.
Das Duell – Gemeinderat vs. Falken
Mittwochabend. Die Vögel haben um 17.15 Uhr mehr Zuschauer*innen als der Gemeinderat im Livestream. 29 zu 42. Was heisst das für die Politik? Zugegeben, der Gemeinderat holt gegen 18 Uhr auf. Als ich Ruckstuhl mit diesem Vergleich konfrontiere, muss er lachen: «Wird wohl schwer sein, wenn alle Gemeinderäte lieber Falken beobachten, wer weiss.» Die Zugriffe auf den Falkenstream seien momentan enorm, es sei wohl eine gäbige Liveshow für zuhause. Zumal der Stream ganz neu sei. Seit März ist er online, rechtzeitig zur Brutperiode. Grün Stadt Zürich hatte schon zuvor einen Stream, aber der kann mit dem jetzigen nicht mithalten.
Viel hetero Liebe und Kapitalismuskritik
Die ganze Nacht ist kein Vogel zu sehen, gegen Donnerstagmorgen um 6 Uhr kehren sie zurück und schlafen. Gerade mal 12 Zuschauer*innen interessiert das. Wie aus dem nichts – ohne Vorspiel oder Ankündigung – wird um 9.17 Uhr gevögelt. Wenige Sekunden. Der eine fliegt weg, der andere versteckt sich im toten Winkel. Würd ich auch so machen.
Es gab auch schon Angriffe von anderen Falkenmännchen, aber die hatten keine Chance
Max Ruckstuhl / Grün Stadt Zürich
«Ist es ein lesbisches Pärchen?» Mit dieser Frage wurde Ruckstuhl schon einige Male konfrontiert. Langsam zeichne es sich jedoch ab, dass es sich um ein junges, hetero Falkenpaar handle: «Es gab auch schon Angriffe von anderen Falkenmännchen, aber die hatten keine Chance.» Ob Falken ihr ganzes Leben monogam leben, wisse er nicht. «Aber in dieser Zeit ist es normal, dass die Vögel als Paar gesichtet werden. Es ist Frühling, die Zeit des Paarens. Wir hoffen, dass es bald Eier geben wird», sagt er.
20/04/30 um 17.12 Uhr
20/04/30 um 9.17 Uhr
Tsüri-Chefredaktor Simon Jacoby erinnern die Falken an einen ehemaligen Dozenten. Nicht optisch, aber ein Zitat schwebe ihm seit der Entdeckung der Falkenkamera im Kopf: «Die einzig wirklich wirkungsvolle Kapitalismuskritik ist das Nichtstun.» Wissen die Falken um den Kapitalismus?
Die Falken tun nicht nichts. Sie fressen Eidechsen und Mäuse, verteidigen ihren Horst, fliegen aus, wachen über Zürich und machen Liebe über den Dächern der Stadt. Und spätestens wenn Nachwuchs im Anmarsch ist, werden die jungen Eltern gefordert sein.
Mag sein, dass die Zuschauer*innen zum Nichtstun gezwungen sind, wenn sie die Falken stets im Auge behalten.
Am Tag der Arbeit, jenem Tag, der für viel Kapitalismuskritik steht, schalte ich gegen 11 Uhr erneut zu den Falken. Sie sind zuhause. Grosse Demonstrationen sind nicht geplant und kleinere Ansammlungen werden konsequent nicht toleriert. Ein Platz für die öffentliche Meinungsäusserung? Nicht dieses Jahr. Nichtstun und die Falken beobachten ist eine Option. Kritik ausüben fühlt sich selten so leicht an. Diesmal sind es nicht die Autos auf der Hardbrücke, die mir bestätigen, dass der Stream nicht versehentlich pausiert wurde. Es ist der wenige 1. Mai-Lärm der Stadt, der zu den Falken nach oben dringt. Ein leichtes Raunen im Hintergrund. Die Vögel verhalten sich ruhig, den Blick Richtung Käferberg gerichtet.
Der Wächter der Vögel
Als Wächter der Vögel sieht sich Ruckstuhl nicht, das sei etwas übertrieben. Seit Mitte der 90er Jahren beschäftigt er sich mit den Falken der Stadt. Man fand damals Rupfplätze im Münster oder auch im Migros-Hochhaus am Limmatplatz. Die Falken rupften und frassen dort Tauben. So kam man auf die Idee, solche Nisthilfen zu bauen. Es machte ritschratsch und die ersten Falken kamen. Ein ständiger Kampf um die Plätze, mal seien es Wanderfalken, mal Turmfalken, welche das Hochkamin für sich beanspruchen. Ein Kommen und Gehen.
Solche Nistplätze privat auf der Dachterrasse oder auf dem Balkon aufzubauen sei theoretisch möglich, bestätigt mir Ruckstuhl. Dass sie diesen Platz nutzen, glaube er weniger, der Lärm sei zu gross, die Falken suchten sich ruhige Plätze. Schade, die kleine naive Hoffnung, bald nicht mehr auf die Falkenkamera angewiesen zu sein, sondern die Tiere live auf dem Balkon bestaunen zu können, stirbt. «Auf Balkonen kann man eher einen Platz für Mauer- und Alpensegler einrichten», erklärt er, auch diese Tiere seien extrem faszinierend.
Besuchen kann man die Falken im Hochkamin nicht: «Nein, nein, das ist viel zu gefährlich! Man kann schon rauf, aber dann muss man ein Klettergstältli anlegen und so.» Und letztendlich sei es einfach ein Kasten, da sei man mit den Kameras massiv besser bedient.
Als Kind hatte ich immer viele Haustiere, vielleicht daher diese Obsession der Falkenkamera und der Wunsch nach einem eigenen Nistplatz für die Vögel. Zudem ist die Fauna eine faszinierende und beständige Welt, die nicht durch irgendwelche Notverordnungen aus den Fugen und ins Wanken gerät. Yoga, Brot backen, ausmisten – alles schöne Tätigkeiten in Zeiten wie diesen. Aber in den nächsten Tagen werden es die Falken sein, die mich begleiten. Der Gedanke, dass bald vielleicht Eier gestreamt werden, lässt mich nicht los.
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Bevor Lara zum Journalismus kam, hat sie eine Lehre als Innendekorateurin nicht abgeschlossen, die Handelsmittelschule gemacht, in der Gastro gearbeitet und in der Immobilienbranche Luft geschnuppert. Durch ein Praktikum beim Radio Rasa in Schaffhausen fand sie zum Journalismus. Daraufhin folgte ein Kommunikations-Studium an der ZHAW, gefolgt von einem Praktikum bei Tsüri.ch und eines beim Tages-Anzeiger. Seit 2020 schreibt Lara für Tsüri.ch, seit 2023 ist sie in der Geschäftsleitung.