«Sextoys sollten kein Luxusgut sein»

Vor fünf Jahren gründete Jessica Sigerist den queer-feministischen Sexshop «untamed.love». Was das mit dem Leben der Zürcher:in gemacht hat und warum Dildos politisch sind, erklärt Sigerist im Interview.

Jessica Sigerist ist selber queer – das habe den Blick auf viele Dinge verändert. Auch auf Sexualität. (Bild: Nina Schneider)

Isabel Brun: Seit fünf Jahren führst du einen Sexshop – hat sich dein Verständnis von Sex und Sexualität dadurch verändert?

Jessica Sigerist: Ja, durch die intensive Auseinandersetzung mit den Themen habe ich meine Vorstellungen davon, was Sexualität ist und wie wir Beziehungen leben, noch stärker dekonstruiert. Rückblickend haben mich diese Fragen schon immer beschäftigt, aber durch die Gründung von «untamed.love» ist es selbstverständlicher geworden, sie sich selbst zu stellen. Dadurch bin ich freier in meinem Denken und Erleben geworden. 

Ist es nicht auch beängstigend, wenn Sex alles sein kann und Beziehungen keinen klaren Mustern folgen müssen?

Manchmal fühle ich mich tatsächlich wie auf dem offenen Meer. Aber dieser Wandel geschah ja nicht von einem Tag auf den anderen, sondern in vielen kleinen Schritten. Heute stehe ich an einem Punkt, wo ich nicht mehr in einem hetero-normativen, monogamen Beziehungsmodell leben möchte. 

Das passt zu eurer Zielgruppe. Ihr bezeichnet «untamed.love» als erster queer-feministischer Sexshop der Schweiz. Inwiefern unterscheidet er sich von Amorana, Magic X und Co.?

Zum einen kommunizieren wir anders: Verzichten auf Kategorien «Für Männer» oder «Für Frauen», zeigen in unserer Werbung Menschen jedes Geschlechts, Alters und Herkunft und laden unsere Kund:innen dazu ein, Sextoys unterschiedlich zu nutzen. Sie sind schliesslich keine Werkzeuge, sondern Spielzeuge.

Zum anderen sind alle unsere Mitarbeitenden Teil der queeren Community – alles, was wir machen, machen wir aus einer intrinsischen Motivation heraus. Das war auch mein Bedürfnis bei der Gründung 2019: Ich wollte etwas schaffen, was mir als Kundin gefehlt hat. Ein Sexshop, bei dem es nicht um Gewinnmaximierung geht.

Sondern?

Darum, aufzuklären und eine Plattform für Gleichgesinnte zu bieten. Aus diesem Grund verkaufen wir nicht nur Sextoys, sondern veranstalten auch Workshops, um queere Menschen zu vernetzen. Wir wollen sexpositive Räume schaffen.

«Es macht mich betroffen, wenn uns Kritiker:innen als ‹Kommerz› bezeichnen.»

Jessica Sigerist

Ihr organisiert auch sogenannte Sextoy-Partys an. Sind das nicht einfach normale Verkaufsevents, wo es darum geht, potenzielle Kund:innen für sich zu gewinnen?

Nein, wir wollen niemandem etwas andrehen. Du kannst auch an unsere Sextoy-Party kommen und am Schluss nichts kaufen. Der Fokus dieser Veranstaltung liegt auf dem Wissens- und Erfahrungsaustausch, nicht auf dem Konsum. Viele wollen einfach über ihre Gedanken, Wünsche und Ängste im Zusammenhang mit Sexualität oder Beziehungen sprechen. 

Dildos sollen sich alle leisten können, findet Jessica Sigerist. (Bild: Nina Schneider)

Lohnt sich das für euch finanziell?

Kaum. Aber in dieser Form, wie wir den Sexshop führen wollen, müssen wir uns gezwungenermassen mit einem Leben mit wenig Geld zufriedengeben. Auch wenn das bedeutet, im Notfall auf einen Teil seines Lohnes zu verzichten, um alle Rechnungen bezahlen zu können. Deshalb macht es mich so betroffen, wenn uns Kritiker:innen als «Kommerz» bezeichnen.

Weil ihr auch Sexspielzeug Made in China verkauft?

Ja, unter anderem. Wir geben uns wirklich Mühe, Produkte anzubieten, die in der Schweiz hergestellt werden oder aus nachhaltigen Materialien bestehen, aber diese Toys sind auch entsprechend teuer. Und nicht jede:r kann sich einen handgemachten Holzdildo für 200 bis 300 Franken leisten.

Sextoys sollten meiner Meinung nach kein Luxusgut sein. Es ist ein ständiges Abwägen, weil wir einerseits bezahlbar und andererseits Fairtrade und klimafreundlich sein wollen. Da sind wir auch darauf angewiesen, dass sich Marken in diesem Bereich weiterentwickeln.

In einem Interview kurz nach der Gründung 2019 sagtest du, die Welt sei noch nicht so weit, dass ihr Sextoys indiskret verpacken könnt. Wo stehen wir fünf Jahre später – ist die Welt schon bereit dafür, dass mein Nachbar Bescheid weiss, welchen Dildo ich bestellt habe?

Noch setzen wir auf diskrete Verpackungen, aber ich habe schon das Gefühl, dass die Gesellschaft in Bezug auf Sexualität, Sex und sexuelle Identitäten offener geworden ist. Gerade, wenn ich an meinen eigenen Aufklärungsunterricht denke, wo nur über penetrativen Sex und zwei Geschlechter gesprochen wurde.

Gleichzeitig ist ein Backlash aus rechts-konservativen Kreisen spürbar; so gibt es beispielsweise mehr Gewalt gegen trans Menschen. Aus diesem Grund werden wir wohl noch eine Weile auf diskrete Verpackungen setzen müssen.

Einen Sexshop zu führen, ist also ein politisches Statement.

Ja, Sex und Körper sind zwangsläufig politisch. Das zeigt sich auch nach der Wahl von Trump in den USA, als Tweets wie «Your Body, My Choice» die Runde machten. Ich hoffe wirklich, dass solche Hasstiraden das letzte Aufbäumen des Patriarchats sind.

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei! Natürlich jederzeit kündbar.

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare