«Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt, der hässlicher ist, als Altstetten»
Altstetten entwickelt sich rasant. Das einstige Arbeiter:innenquartier wird zunehmend von profitorientierten Immobilienfirmen unterwandert. Ein Besuch in einem Café am Lindenplatz, wo sich Alteingesessene seit Jahren treffen und austauschen.
Es ist nass und grau an jenem Mittwochnachmittag. Vereinzelt sieht man jemanden in den Coop huschen, ansonsten ist es beklemmend ruhig auf dem Lindenplatz. Das Grüppchen, das sich im Aussenbereich des Café Buena Vista zusammengefunden hat, wirkt wie ein Kontrast zur sonst so ruhigen Stimmung rund um den Lindenplatz. Es wird laut geredet, gelacht und getrunken. Die Gruppe scheint sich gut zu kennen. Und das, obwohl sie weder ein gemeinsames Hobby noch ein Engagement oder der Job verbindet.
Im Gespräch wird schnell klar, welche Beziehung sie zu dem Ort pflegen, den sie alle als ihr Zuhause bezeichnen. «Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt, der hässlicher ist, als Altstetten», sagt ein Mann, der sich als Walter vorstellt. Die Gruppe lacht und stimmt ihm zu. Dennoch sind sich alle einig, dass sie hier nie wegwollen. «In Altstetten muss man nicht cool sein, um dazuzugehören», ergänzt Kathi, eine der beiden Frauen am Stammtisch. Sie ist überzeugt, dass die Gemeinschaft hier einen ganz anderen Stellenwert hat als in den zentraleren Kreisen.
Der Lindenplatz: Altstettens Herzstück
Hier sei der beste Ort zum Gaffen, erzählt einer der Männer. Immer wieder komme es zu Auseinandersetzungen, manchmal fahre ein Kastenwagen vor. «Samstags, wenn die Sonne scheint, passiert viel mehr hier», fügt er an. Es scheint fast so, als versuche er eine Rechtfertigung zu finden, für die unaufgeregte Kulisse, die sich heute auf dem Lindenplatz präsentiert. Die Gruppe hat sich hier im Café kennengelernt, «an einem Samstag nach dem Markt», ergänzt Kathi. Seither treffe man sich regelmässig, «um sich auszutauschen und das Geschehen auf dem Platz zu beobachten».
Altstetten im Fokus |
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Die Menschen in Altstetten sind im Schnitt einiges älter als im Rest der Stadt, viele wohnen seit Jahrzehnten hier. «Das schweisst zusammen», sagt Kathi. Sie wohnt seit 1986 in ihrer «kleinen, aber gemütlichen» Wohnung, gleich um die Ecke. Die gebürtige Finnin kam als junge Frau in die Schweiz und wohnt seither in Altstetten. Mittlerweile ist die knapp 80-Jährige pensioniert. Sie wohnt seit fast 40 Jahren in ihrer Wohnung, die Miete ist dementsprechend tief. Ob sie eine neue Wohnung finden würde, die sie sich leisten könnte, weiss sie nicht. «Aber darüber will ich gar nicht allzu oft nachdenken», fügt sie an. «Noch bin ich ja hier.» Altstetten zu verlassen, kann sie sich nur schwer vorstellen.
Altstetten hat sich in den letzten 100 Jahren zunehmend von einem Industrie- zu einem Wohnquartier entwickelt. Im Zentrum liegt der Lindenplatz, der sowohl Quartiertreffpunkt als auch zweimal wöchentlich Marktplatz ist; jeweils mittwochs und samstags. Und genau mit der Absicht eines Quartiertreffpunkts wurde der Platz einst geplant. Anfang der 1940er-Jahre haben sich etwa ein Dutzend Männer getroffen, um die Entwicklung des Quartiers zu besprechen.
Sie beschlossen, eine Genossenschaft zu gründen und die Vergrösserung des Lindenplatzes mitsamt der umfassenden Bauten zu koordinieren. Ein Zentrum für das gesamte Quartier sollte entstehen. Daraufhin mussten elf Besitzer:innen mit 22 Parzellen Land zum Verkauf ihrer Liegenschaften bewogen werden, was mehrere Jahre dauerte. Die heutige Situation zeigt, dass sich das Engagement gelohnt hat. Bis heute wird der Lindenplatz als Marktplatz und Quartiertreffpunkt genutzt.
Flaschenbier und Schinkensandwiches
Inmitten der Diskussionen gesellt sich Jörg Mächler, der Inhaber des Cafés, zu der Gruppe. Seit 18 Jahren führt der gebürtige Basler das Buena Vista. Die Getränkepreise musste er kürzlich um rund zehn Prozent anheben, ansonsten habe sich im Buena Vista seit seiner Gründung wenig verändert: dieselben Menschen, die gleiche Stimmung, noch immer dasselbe, bescheidene Sortiment. Es gibt Schinken- und Käsesandwiches, Wein und Flaschenbier.
Seit rund sechs Jahren spüre er eine Veränderung im Stadtbild. «Fast in jeder Strasse wird mittlerweile gebaut», so Mächler. Er zeigt auf ein grünes Haus auf der gegenüberliegenden Strassenseite, welches abgerissen werden soll. «Jahrzehntelang waren dort günstige Wohnungen. Jetzt weicht es einem Neubau.» Grundsätzlich tue es Altstetten gut, dass heruntergekommene Liegenschaften saniert oder ersetzt würden, ergänzt er. Sorgen bereite ihm jedoch, dass sich die langjährigen Bewohner:innen und ältere Menschen die Mieten bald nicht mehr leisten könnten. Und das, obwohl knapp zehn Prozent aller städtischen Wohnbaugenossenschaften in Altstetten liegen. Dennoch ist die Angst vor steigenden Mieten zu spüren, vor allem für jene Menschen, die nicht in einer Genossenschaftswohnung leben – so wie er selbst. Er wohnt in einer Überbauung der UBS, auf 2030 muss er die Wohnung verlassen, weil die ganze Siedlung kernsaniert wird. Die Angst, dass ihm mit dem Laden dasselbe Schicksal blüht, begleitet ihn.
Steigende Mieten, aber schrumpfendes Kulturangebot
Trotz des wirtschaftlichen Booms entwickelt sich das Quartier kulturell nur wenig – keine neuen Geschäfte, keine Bars oder Szenelokale. Vor allem sonntags sei Altstetten häufig so ausgestorben, dass es einem teilweise vorkomme wie in einer Geisterstadt, erzählt die zweite Frau in der Gruppe im Buena Vista. «Wir sagen dann manchmal: Lasst uns in die Stadt gehen», fügt Kathi an und lacht.
Trotz der Entwicklung in Altstetten, die Kathi, Walter und dem Rest der Gruppe auch Sorgen bereiten, sind sie sich einig: Was Altstetten ausmacht, ist der Dorfcharakter. «Altstetten ist abgefuckt, aber wir halten zusammen», sagt Walter noch, bevor er geht. Und solange das so bleibt, will niemand freiwillig weg hier.
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