«Jugendliche aus Altstetten haben dieselben Sorgen wie jene von anderswo»
In Altstetten gross zu werden bedeutet auch, die Entwicklung eines Randquartiers hautnah mitzuerleben. Zwei Jugendliche über ihr Leben im Kreis 9.
Jan*: Ich identifiziere mich als Baum.
Raffael*: Das sagt er immer als Spass. Ist so ein Ding von ihm.
Jan: Ich mache mich nur lustig über meine Schulfreund:innen, wenn sie sich als etwas anderes identifizieren.
Isabel: Gibt es denn Jugendliche in eurer Klasse, die sich als non-binär oder queer identifizieren?
Raffael: Nein, ich glaube nicht. Oder sie trauen sich nicht, sich zu outen.
Isabel: Weil sie dann gemobbt werden?
Raffael: Ja, wahrscheinlich schon. Also nicht von mir, aber halt von den Älteren, den 2. oder 3. Sek-Schüler:innen.
Jan: Auch ich werde von ihnen gemobbt, weil ich so viel game.
Raffael: Sie nennen dich doch nur nach einem Computerspiel. Die meinen das ja nicht böse.
Jan stopft sich als Antwort eine Handvoll Chips in den Mund und streift seine fettigen Finger an den Hosen ab, ehe er wieder in den Sack greift. Hier darf er das: ungesunde Sachen essen, zocken, fluchen. Wenn ihm Zuhause die Decke auf den Kopf fällt, geht Jan in den Jugendtreff an der Segnesstrasse in Altstetten.
Seit gut 15 Jahren betreibt die offene Jugendarbeit Zürich OJA diesen Standort. Die früheren Räumlichkeiten seien nach einer Gebäudesanierung zu teuer geworden, sagt der Jugendarbeiter Lars Koch. «Auch wir spüren die Veränderungen im Quartier. Ziehen Familien um, dann meist gleich aus dem Kreis 9, in die Agglomeration.» Viele der Jugendlichen bekämen sie deshalb nach einem Umzug nicht mehr zu Gesicht.
Entsprechend würden die Räume der OJA nicht immer gleich stark genutzt. «Es gibt Zeiten, da besucht uns eine ganze Klasse und einige Monate später sind sie vielleicht nur wieder zu dritt hier. Sie kommen und gehen in Wellen», so Koch. Ungewöhnlich sei das nicht, zumal es in Altstetten durch die Gemeinschaftszentren Loogarten und Grünau gleich mehrere Treffs gibt. Die Angebote ergänzen sich laut Koch gut; man stehe in regelmässigem Kontakt, organisiere auch gemeinsame Veranstaltungen. Zudem versuchen die Jugendarbeiter:innen den Kontakt zu den Jugendlichen durch Besuche an öffentlichen Treffpunkten aufrechtzuerhalten.
Obwohl Raffael im Quartier Grünau wohnt, verabredet er sich mit seinem Freund lieber im OJA-Treff als im Gemeinschaftszentrum. Zum einen, weil Jan mit seiner Familie in der Nähe des Lindenplatzes lebt und zum anderen, weil es in Grünau Jungs gebe, die «sich viel cooler fühlen, als dass sie sind». Hier hingegen hätten sie den Raum für sich.
Kein Spiel ohne Verlierer:in
An jenem Mittwochnachmittag sitzen beide vor dem Bildschirm, klicken sich durch die Landschaften von Minecraft. Das Game stammt aus den frühen 2000er-Jahren und feiert gerade sein Comeback. Er habe nur einen Laptop zuhause, erklärt Raffael. Für dieses Spiel brauche man aber einen richtigen PC. Wegen der Grafikkarte, ergänzt Jan, während er seine Figur durch die Pixel manövriert. Er kennt sich mit Technik aus, will später mal Informatiker werden.
Jan: Ich habe bald Geburtstag.
Isabel: Wie alt wirst du?
Jan: Dreizehn.
Isabel: Und was wünschst du dir?
Jan: Geld!
Isabel: Ist dir Geld wichtig?
Jan: Ja, dann kann ich mir einen neuen PC kaufen.
In seiner Freizeit sei er oft in der digitalen Welt unterwegs, sagt Jan. Dort habe er seine Ruhe – vor seinen Eltern und Geschwistern. Raffael hingegen liebt Fussball. Mehrmals die Woche trainiert er im Hardhof. In Altstetten sei man FCZ-Fan, nicht GC. Prügeln geht er sich aber nicht, das würden nur die älteren Jungs machen. Das seien auch jene, die Messer dabei haben.
Isabel: Sind Waffen bei euch ein Thema?
Raffael: Also bei uns an der Schule nicht. Aber ich glaube, ich kenne da schon ein paar Leute.
Jan: Meinen wir dieselben?
Raffael: Ja, ich glaube schon.
Isabel: Was sind das für Jungs?
Raffael: Solche, die sich cool fühlen. Oder vielleicht Angst vor anderen Leuten mit Messern haben.
Im OJA-Treff in Altstetten hätten sie kaum Probleme mit Waffen, sagt Lars Koch. Aber das Thema sei präsent. Gemäss einer Umfrage der Stiftung für Kinder- und Jugendförderung tragen 65 Prozent der total 170 befragten Teenager im Alltag regelmässig ein Messer auf sich. Wirklich neu ist diese Entwicklung laut Koch aber nicht: «In der Jugendarbeit waren wir schon immer damit konfrontiert. Eigentlich, seit es möglich ist, sich im Internet illegal Stichwaffen zu besorgen.» Dagegen versuche man präventiv vorzugehen, Jugendliche über die Gefahren aufzuklären – im Treff, aber auch bei Besuchen an Schulen.
«Man ist schnell in der Stadt»
Dass junge Menschen aus dem Kreis 9 tendenziell eher Waffen bei sich tragen oder mehr kriminelle Energien haben, weil dem Quartier der Ruf des Problembezirks vorauseilt, glaubt Koch nicht. «Jugendliche aus Altstetten haben dieselben Sorgen wie jene, die anderswo in der Stadt aufwachsen.» Als Jugendarbeiter:innen müsse man sich deshalb mit vielfältigen Phänomenen beschäftigen: Machtspielchen, jugendlicher Leichtsinn, Mobbing, Drogen, Streit mit den Eltern, Stress in der Schule.
Raffael: Wir haben bald Sommerferien.
Isabel: Dann habt ihr jetzt noch viele Prüfungen?
Jan: Ja, letzte Woche hatten wir einen Englisch-Test.
Isabel: Lief es gut?
Jan: Ich habe ein gutes Gefühl.
Raffael: Mal schauen, ich bin nicht so gut im Englisch.
Isabel: Schaut ihr auf Social Media nicht alles auf Englisch?
Raffael: Es geht. Meine Schwester schaut zum Beispiel Serien auf Englisch. Meine Eltern meinen, ich solle auch damit anfangen.
Jan: Was schaust du gerade?
Raffael: Ted Lasso. Darin geht es um einen amerikanischen Fussball-Trainer.
Jan: Kenne ich nicht.
Raffael: Du hast auch keine Ahnung von Fussball!
Isabel: Was verbindet euch als Freunde?
Raffael: Ich glaube, wir sind in derselben Bubble auf Social Media. Und wir gehen in dieselbe Klasse.
Isabel: Wollt ihr für immer in Altstetten bleiben?
Raffael: Ich finde es schon cool hier. Es hat viele Läden und man ist schnell in der Stadt. Und es ist hier ruhiger als im Kreis 3 oder 4. Dort stelle ich mir das Leben anstrengender vor.
Jan: Ich wäre schon offen für einen neuen Wohnort. Später irgendwann.
Raffael schaut auf seine Uhr. Er müsse jetzt los, sagt der Dreizehnjährige. Die beiden Freunde geben sich einen Handschlag, der alles andere als einstudiert wirkt. Jan setzt sich danach zurück an den PC. Minecraft könne man unendlich lange weiterspielen, so der Teenager. Ein wirkliches Ziel gebe es nicht, aber genau das sei der Reiz daran.
*Name geändert
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