Ein Essay übers Ausgeschlossensein

Seine Reise brachte Emre Aykulteli von Adana nach Zürich. Ein besonderes Gefühl vom Ausgeschlossensein vermittelt ihm auch nach sechs Jahren in Zürich die Europaallee. Ein Essay.

Europaallee 7
Emre Aykulteli beschreibt in seinem Text seine Gefühle zur Europaallee. (Bild: Emre Aykulteli)

Im Süden der Türkei am Meer liegt die Industrie- und Landwirtschaftsstadt Adana. Ende der 90er Jahre kam ich dort als Kind einer Arbeiterfamilie zur Welt. Da meine Eltern viel arbeiten mussten, wurde ich mit meiner vier Jahre älteren Schwester von meiner Grossmutter grossgezogen. 

Als ich 6 Jahre alt war, begann meine Bildungslaufbahn an einer staatlichen Schule in unserem ärmlichen Stadtviertel. Und auch wenn unsere Eltern versuchten, uns vor Diskriminierung aufgrund der Klassenunterschiede zu schützen, war dies unmöglich. 

Nebst der Diskriminierung aufgrund von Armut, drängten mich Rassismus und Krieg, was die grössten Probleme in meiner Heimatregion sind, in frühem Alter auf eine Suche. Diese Suche hatte für mich und für meine Mitmenschen unterschiedliche Konsequenzen. Mit 20 musste ich mein Land verlassen, weshalb ich in die Schweiz kam. Heute, im Alter von 25 Jahren, studiere ich an der Zürcher Hochschule der Künste. Auf meiner Reise von Adana nach Zürich hat mir meine schon in jungen Jahren begonnene Suche sehr dabei geholfen, mich und unsere Welt zu verstehen.

Als ich klein war, zogen wir oft um. Zuerst haben wir in einem Arbeiterviertel, in dem ich auch geboren wurde, gewohnt. Danach in anderen Stadtteilen – in kleinen, grossen, alten und neuen Wohnungen. Soweit ich mich erinnere, sind wir innerhalb der ersten vierzehn Jahre meines Lebens neunmal umgezogen. Hohe Mietpreise, unregelmässiges Einkommen, Ausbildungskosten von mir und meiner Schwester, die Krankheit meiner Grossmutter waren einige der Gründe, warum wir umziehen mussten. 

Jedes Mal, wenn wir in eine neue Wohnung zogen, fühlte ich mich in der sozialen Struktur des Gebäudes, der Strasse, des Viertels anders. Abgesehen von unserer wirtschaftlichen Situation, die sich immer wieder veränderte, ermöglichten die jeweiligen Ortswechsel, dass wir uns zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten bewegten. Ich glaube, deshalb habe ich schon früh erkannt, dass auch Orte den Menschen einen Status geben können: schmutzige oder saubere Strassen, ruhige oder laute Umgebung, neue, alte, grosse oder kleine Gebäude… Das Gefühl, das die räumlichen Veränderungen in meiner Heimatstadt damals in mir auslösten, existiert in mir auch noch heute in Zürich, der momentan letzten Station meiner Reise.

Während meines Asylverfahrens lebte ich sechs Monate in vier verschiedenen Flüchtlingslagern. Eines davon war ein unterirdischer Bunker aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Nach Erhalt meiner Aufenthaltsbewilligung begann ich schliesslich 2019 in einem Gemeinschaftshaus im Zentrum von Zürich zu wohnen. Es ist eines der buntesten Häuser im Kreis 4, das von aussen weniger gepflegt und alt aussieht als die anderen Häuser und mit der Bar im Erdgeschoss nicht den Eindruck eines ruhigen Wohnraums vermittelt. 

Ein Ort, der ein paar hundert Meter von unserem Haus entfernt ist und vor ein paar Jahren neu entstanden ist, wurde nach Abschluss der Bauarbeiten zu einem der «vorbildlichsten und strahlendsten» Orte in unserem Viertel: die Europaallee. Dieser Ort, an dem ich fast jeden Tag vorbeikomme, beschäftigt mich immer wieder. Das Gefühl, das ich zu diesem Ort habe, erinnert mich an das Gefühl nicht dazuzugehören. Ähnlich, wie ich es damals hatte, als wir in Adana von einem armen Arbeiterviertel in ein Viertel umzogen, in dem Menschen aus der oberen Gesellschaftsschicht lebten.

Europaallee 4
(Bild: Emre Aykulteli)
Europaallee 3
(Bild: Emre Aykulteli)
Europaallee 5
(Bild: Emre Aykulteli)

Während meiner Reise von Adana nach Zürich habe ich mich zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten bewegt. Bei diesen Übergängen zwischen den Klassen hat sich die Art und Weise, wie ich mich selbst definiere oder wie ich von anderen definiert werde, jedes Mal verändert. Von einem Kind einer armen Arbeiterfamilie zu einem intellektuellen Studenten, der über die Probleme seines Landes nachdenkt, von dieser Position zu einem geflüchteten Menschen, der wochenlang auf der Suche nach einem sicheren Ort unterwegs ist, von einem geflüchteten Menschen, der in einem Bunker untergebracht wird, zu einem Kunststudenten, der an einer Kunstschule studiert, an der meist Kinder aus Familien der Oberschicht studieren. 

Wenn ich mein Leben so beschreibe, mag das sein, dass es nach den heutigen Werten wie eine Erfolgsgeschichte klingt. Für mich geht es hierbei aber nicht um Erfolg, sondern um meine Suche, denn es ist das Leben von jemandem, der versucht, gegen die Klassengesellschaft, Rassismus und Krieg zu kämpfen.

Ich habe immer versucht, das Leben nicht nur von meiner eigenen subjektiven Position aus zu bewerten, sondern auch die strukturelle Konstruktion der Weltordnung zu verstehen. Es war nicht schwer zu erkennen, dass die Häuser, in denen wir leben, die Stadtviertel, in denen wir wohnen, die Kleider, die wir tragen, die Dinge, die wir gerne oder nicht gerne haben, uns alle irgendwo in der Gesellschaft verorten. Aber es dauerte eine Weile, bis ich gemerkt habe, dass diese Dinge systematisch und bewusst so gestaltet wurden, um uns in eine bestimmte Kategorie der Gesellschaft einzuordnen. 

Das Gefühl der Entfremdung, des Nicht-Zugehörens, des Ausgeschlossenseins, das sich aufgrund dieser Erkenntnis in mir entwickelte, tauchte an diesem Ort auf, der nur wenige hundert Meter von meinem Haus entfernt ist. Ich wurde mir langsam sicher darin, dass dieses Thema, das mich eine Zeitlang beschäftigte, direkt oder indirekt mit diesem Ort zu tun hatte: Eugenik.

Eugenik beschreibt die Idee von einer «gesunden Gesellschaft», bei der die Gene rein gehalten werden. Dafür ist es nötig, zwischen wünschenswerten und schädlichen Einflüssen zu unterscheiden. Wenn man Eugenik hört, denkt man an etwas aus dem Geschichtsbuch. Zum Beispiel (Zwangs-)Sterilisationsgesetze wie in Deutschland unter dem Nationalsozialismus und in der Schweiz. Mit dem Ziel, sogenannten «minderwertigen» Nachwuchs zu verhindern, konzentrierten sich diese Gesetze auf die Unfruchtbarmachung von Menschen mit Erbkrankheiten. In der Schweiz wurden bis in die 1980er Jahre Zwangssterilisationen durchgeführt – hauptsächlich an Frauen.

Viele mögen jetzt vielleicht behaupten, dass die Eugenik heute keine Bedeutung mehr hat. Aber dem ist nicht so. Mit dem aus der Biologie kommenden Begriff wird die heutige Welt immer noch gestaltet. Das wird nicht explizit gesagt, aber auch heute spielt die Unterscheidung zwischen wünschenswerten und schädlichen Einflüssen eine Rolle. Wenn wir die Architektur unserer Städte, das Design unserer Kleider oder das Verständnis von Schönheitsidealen anschauen, können wir sehen, dass Eugenik nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden ist. 

Europaallee 2
(Bild: Emre Aykulteli)
Europaallee 1
(Bild: Emre Aykulteli)
Europaallee 6
(Bild: Emre Aykulteli)

Auch Gentrifizierung kann so betrachtet werden. Die Europaallee im Stadtzentrum von Zürich strahlt das Ideal von Reinheit und Sauberkeit aus. Die Fassaden der Gebäude symbolisieren die perfekte Geometrie mit geraden Linien und klaren Kanten. Die Geschäfte ziehen einen bestimmten Teil der Gesellschaft an, die Anderen, die diesem Ideal nicht entsprechen, haben dort keinen Platz. Der zubetonierte Platz lässt keinen Raum für den Erdboden, die wenigen Bäume müssen von einer widerstandsfähigen Art sein und dürfen nicht viel Platz brauchen. Diese Architektur, diese Unterscheidung zwischen wünschenswerten und nicht wünschenswerten Menschen und diese Eingrenzung der Natur sind alles Ausdruck des eugenischen Denkens.

Aus diesem Grund möchte ich hier ein paar Fotos von diesem Ort hinterlassen, an dem ich mich nicht zugehörig fühle und von dem ich, meiner Meinung nach, sogar bewusst ausgeschlossen werde. Ich hoffe, dass ich denjenigen, denen es so geht wie mir, bei der Interpretation ihrer Gefühle ein wenig helfen kann.

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