Gaming gegen Extremismus: Jugendliche testen Präventions-Tool
«Radical Choices» ist ein Onlinespiel, das Jugendliche für die Mechanismen der Radikalisierung sensibilisieren soll. Ein Kriminologe sieht seine Stärke vor allem als Einstieg in den Dialog.
Die Radikalisierung nimmt in der Schweiz, besonders unter Jugendlichen, spürbar zu. Der Bundesrat hält in einem Postulatsbericht Ende Mai fest: «Unsere Gesellschaft muss diese jungen Menschen in Schulen, Vereinen und in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und Organisationen früh abholen, um präventiv zu wirken, bevor die Polizei einschreiten muss.»
Ein erschreckendes Beispiel dafür ist der Fall des 15-jährigen Jungen, der im März dieses Jahres in Zürich einen orthodoxen Juden angegriffen hat. Der Vorfall sorgte für breite Empörung und heftige politische Debatten. Sicherheitsdirektor Mario Fehr etwa forderte, dass dem Täter, ein Doppelbürger, die Schweizer Staatsbürgerschaft entzogen wird.
Ein Zürcher Unternehmen sieht die Lösung eher in Prävention als in der Ausschaffung und versucht, den Jugendlichen auf spielerischem Weg die Mechanismen hinter Radikalisierung aufzuzeigen.
Das Think and Do Tank Dezentrum entwickelt ein Handy-Game und will damit die Jugendlichen dort abholen, wo sie am liebsten sind: online.
Gaming gegen Radikalisierung
Das Projekt «Gaming Against Extremism» wird im Rahmen des Nationalen Aktionsplans zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus (NAP) gemeinsam von Dezentrum, Stiftung Risiko-Dialog, Milena Giordano und dem Gaming-Studio 5am Games entwickelt und wurde unter anderem von Swisslos finanziert.
Letzte Woche wurde das Game im Rahmen eines sogenannten Setting-Tests erstmals mit Jugendlichen ausprobiert, um ihre Rückmeldungen in die Weiterentwicklung des Spiels einfliessen zu lassen.
Zunächst spielten die rund 20 Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 17 alle gemeinsam im Kreis an ihren eigenen Geräten, später in Vierergruppen.
Im Spiel wählen die Jugendlichen zu Beginn einen von zwei Charakteren. Im Verlauf der 30 Runden erhalten sie Nachrichten von Figuren wie einem Lama, einem Pferd oder einem Pizzastück, die mitunter radikalisierende Inhalte enthalten. «Bist du noch ein Systemsklave oder gehörst du schon zu den Pizza-Rebbels?», steht auf einer Karte. Die Spieler:innen müssen sich zwischen zwei Antworten entscheiden. Das Ziel ist es, die 30 Runden zu überstehen, ohne radikalisiert zu werden.
«Ein Handyspiel allein wird keinen besonders nachhaltigen Effekt haben.»
Dirk Baier, Extremismusexperte
«Im Spiel geht es bewusst nicht um spezifische Gruppierungen, sondern darum, wie durch Radikalisierungsmechanismen Anhänger:innen gewonnen werden», sagt Sarah Bleuler vom Dezentrum. Im Spiel müssen Jugendliche entscheiden, ob eine Aussage darauf abzielt, das Wir-Gefühl zu stärken, eine einfache Lösung anzubieten oder einen blinden Gehorsam zu fördern.
Gaming als Präventionsmassnahme
Wie effektiv sind solche Games bei der Prävention von Radikalisierung? Kriminologe Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW. Er meint: «Grundsätzlich müssen wir junge Menschen dort abholen, wo sie sich aufhalten. Wir müssen sie so ansprechen, wie sie sonst in ihrem Alltag angesprochen werden.» Weil Gaming im Leben von jungen Menschen eine zentrale Rolle einnimmt, brauche es deswegen auch Präventionsarbeit, die als interaktive Games entwickelt ist.
Baier dämpft aber auch gleichzeitig die Erwartungshaltung: «Ein Handyspiel allein wird sicher keinen besonders nachhaltigen Effekt haben.»
Aber er meint auch: «Ich denke vielmehr, dass der Wert eines solchen Spiels darin liegt, es in bestimmten Kontexten mit jungen Menschen zu nutzen und es als Anlass für weiterführende Gespräche und Diskussionen zu nehmen.» Beispielsweise wenn das Game im Rahmen einer Schulstunde eingesetzt wird. So könne es einen Kanal zu den jungen Menschen öffnen, den man sonst vielleicht nicht hat.
Jugendliche kritisieren konstruktiv
Beim Setting-Testing tauschten sich die Jugendlichen nach dem Spiel mit den Fachpersonen aus und gaben Rückmeldungen, die in die Weiterentwicklung des Spiels einfliessen sollen. Ein 17-Jähriger meinte kritisch: «Ich finde das Game einfach und kann es strategisch spielen, aber ich denke, für jüngere Altersgruppen ist es interessanter.»
Im Gespräch wurden auch andere Themen rund um Radikalisierung und Social Media angesprochen. Der gleiche Jugendliche meinte: «Ich sehe vor allem den Algorithmus als grosses Problem. Es ist erschreckend, wie schnell man in einer Bubble landet.»
Diskussionen anregen
Sarah Bleuler vom Dezentrum sieht in «Radical Choices» vor allem eine Möglichkeit, Gespräche anzustossen: «Wir möchten, dass Jugendliche darüber diskutieren – etwa in Gruppen, wie wir es heute testen. Sozialarbeiter:innen könnten das Spiel nutzen, um in die Thematik einzusteigen und weiterführende Gespräche anzustossen.»
Das Feedback der Jugendlichen soll nun ausgewertet und in die Weiterentwicklung des Spiels integriert werden. Ziel ist es, ein wirkungsvolles Tool zu schaffen, das den Jugendlichen zeigt, wie Radikalisierung funktioniert – und wie man sich davor schützen kann.
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