Der emanzipierte Gelato

Die Gelateria di Berna hat sich Kultstatus erarbeitet, aber auch Gentrifizierungskritik eingehandelt. Zum Frühlingsbeginn ein kleiner Ausflug mit Mitgründer Hansmartin Amrein auf den schmalen Grat zwischen Genuss und Geschäft, Genie und Gusto.

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Der neue Verveine-Verjus-Gelato, mit dem Gelateria-Mitgründer Hansmartin Amrein noch nicht ganz zufrieden ist. (Bild: Manuel Lopez)

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Plötzlich ziehen sich die Augenbrauen zusammen. Auf der Stirn eine schmale Sorgenfalte. Hansmartin Amrein, der mit seinen Brüdern David und Michael sowie seiner Partnerin Susanna Moor 2010 die Gelateria di Berna (GdB) als kleines Start-up gegründet hat, sitzt in der Filiale im Berner Breitenrainquartier. Er zieht den Glacélöffel aus dem Mund: «Mmh, bin nicht ganz zufrieden.»

Es geht um eine Kugel Verveine-Verjus-Glacé, die Amrein gerade probiert. Eine der wilden Neuheiten, die den Berner Gelatieri wie jedes Jahr auch für die eben angelaufene Saison 2022 eingefallen ist.

Wenn man sich fragt, was die Gelateria di Berna zum Kult gemacht hat, steckt in der Verveine-Verjus-Kombination vielleicht eine Antwort. Der Gelato schmeckt nach Zitrone – obschon nicht ein Tropfen davon drin ist. Es ist die Verbindung von Eisenkraut (Verveine) und dem Saft grüner, unreifer Unterwalliser Trauben (Verjus), die das Zitronenaroma hervorruft. «Eine geniale Erfindung», findet Amrein.

Die unverhohlene Freude an der eigenen Kreativität, die sich in einem Gelato ausdrückt, sie ist quasi das Basisaroma der Gelateria di Berna.

«Wer in Bern mehr als einen Standort hat, macht sich verdächtig.»

Hansmartin Amrein, Co-Gründer Gelateria di Berna

Aber jetzt gerade gefällt Amrein die Verveine-Verjus-Kreation noch nicht ganz. Die Konsistenz fühle sich im Mund etwas zu schaumig an, und das matte Hellgrün der Verveine ist kaum mehr sichtbar. «Das müssen wir noch perfektionieren in den nächsten Tagen», sagt er, und die Sorgenfalte ist schon wieder der Begeisterung gewichen. 

Pilot im Steigflug

Zum Gesprächstermin ist Amrein mit kleinem Rollkoffer erschienen, am Morgen hatte er als Linienpilot der Swiss Dienst und flog den Kurs Genf-Frankfurt retour. Jetzt gilt seine Aufmerksamkeit voll dem Gelato und dem Unternehmergeist, die in der Gelateria di Berna seit ihrer Gründung miteinander verschmelzen. Die Geschichte der GdB ist die eines Steigflugs, der nicht geplant war, bis jetzt aber nicht aufgehört hat.

2010 starteten die Gründer:innen, nach einer Ausbildung im Gelato-Mekka Verona, in einer umfunktionierten Garage in der Länggasse mit der nicht einmal besonders originell anmutenden Idee, selber Gelati herzustellen. Im kleinen, nicht kommerziellen Laboratorio.

An der «festa fine stagione», der Party zum Saisonende, fanden die paar Mitarbeiter:innen um einen grossen Tisch Platz. Weil Bern gerade einen Mediterranisierungsschub des öffentlichen Raums erlebte und das Caffè Sattler in der Länggasse eines seiner Zentren wurde, startete die gleich daneben gelegene Gelateria ohne Ansage durch.

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Zapfhahn der Frühlings- und Sommergefühle: die Glacemaschine in der Gelateria di Berna. (Bild: Manuel Lopez)

Ab 2014 eröffnete GdB schrittweise Filialen im Marzili, im Mattenhof und im Breitenrain, 2017 richtete sie sich auch am Brupbacherplatz in Zürich ein. Inzwischen kamen zwei weitere Standorte in Zürich dazu, und seit 2021 wirtschaftet die Gelateria di Berna auch in Basel. Das respektable KMU, das keine Umsatzzahlen bekannt gibt, beschäftigt heute 27 Mitarbeitende das ganze Jahr und rund 120 Teilzeitarbeitskräfte während der Saison von Mitte März bis Anfang November. «Für Budenfeste müssen wir inzwischen eine Location für 150 Personen anmieten», sagt Amrein.

Kulisse der Gentrifizierung

Das Wachstum der Gelateria di Berna AG geschah nicht ohne kapitalismuskritische Begleitgeräusche. «Wer in Bern mehr als einen Standort hat, macht sich verdächtig», sagt Amrein. Eine GdB-Filiale sehen Kritiker:innen als eine Art Kulisse für die Gentrifizierung eines Quartiers, das aufgehübscht und aufgewertet wurde. Und in dem sich die gut verdienende obere Mittelschicht, die sich die Wohnlage noch leisten kann, dabei gefällt, sich am Abend zum Gelato zu treffen.

«Ich habe einen Cinquecento, zwei meiner Brüder haben überhaupt kein Auto.»

Hansmartin Amrein, Co-Gründer Gelateria di Berna

Am Brupacherplatz in Zürich verübten Gentrifizierungskritiker:innen 2017 gar einen Farbanschlag, und über die Gelateria-Gründer:innen schossen Gerüchte ins Kraut – über angeblichen Villenbesitz in Spanien, fette Sportwagen, Streit ums Geld.

«Ich habe einen Cinquecento, zwei meiner Brüder haben überhaupt kein Auto, Dividende haben wir uns noch nie ausbezahlt, und Krach gibts auch nicht», sagt Hansmartin Amrein. Der vermeintlich kommerzielle Expansionskurs nach Zürich und Basel sei eine Abfolge von Zufällen und Gelegenheiten, in denen sich vielleicht der Unternehmergeist ausdrücke, die Chancen gepackt zu haben und nicht einem starren Masterplan gefolgt zu sein.

Dass die Gelateria-Geschäftsleitung genauso minutiös rechnet wie andere Unternehmer:innen, daran lässt Hansmartin Amrein keinen Zweifel. Sie widerstand der Versuchung, sich an zentralen Lagen wie etwa dem Casinoplatz in Bern zwar Publikumsverkehr zu sichern, sich aber durch horrende Mietzinsen unter Spardruck setzen zu lassen.

Die günstigeren Standorte in den Quartieren versteht Amrein als Strategie, sich unternehmerischen Spielraum zu erhalten. Beispielsweise den Luxus, den Gewinn nicht zu maximieren, sich Geräte anzuschaffen, um an neuen, abgefahrenen Aromen zu tüfteln und den Mitarbeitenden so viel Autonomie zu lassen, dass die Betriebstreue hoch bleibt.

Distanz zu Italien

Erstmals seit der Gründung schraubt die Gelateria di Berna jedoch in dieser Saison wegen gestiegener Kosten für die Rohmaterialien an den Preisen. Die kleine Portion (zwei Kugeln) kostet neu nicht mehr 3.50 Franken, sondern 3.80, die grössere Konfektion (drei Aromen) bleibt unverändert bei 5 Franken. «Wir hätten sparen können, indem wir Bio-Milch mit konventioneller ersetzt hätten. Oder indem wir generell von lokalen Produkten auf günstigere Massenware ausgewichen wären. Damit hätten wir aber unsere Identität verraten, das wollten wir nicht», sagt Amrein.

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Jeden Gelato von Grund auf selber entwickeln: Das ist für Hansmartin Amrein der Unabhängigkeitsgarant der Gelateria di Berna. (Bild: Manuel Lopez)

Überhaupt sieht Hansmartin Amrein die Geschichte der Gelateria di Berna weniger als Wachstumsstory denn als Emanzipation – weg von äusseren Erwartungen und inneren Zwängen. Schon früh habe sich die Gelateria di Berna vom romantisierten Bild der italienischen Gelato-Vitrine abgesetzt. «Italien hat ein unverkrampftes Verhältnis zu Farbstoffen und Fertigprodukten», sagt Amrein. Viele Gelaterie verkauften zusammengemixte Industrieprodukte, die Gelatieri seien abhängig von Grosslieferanten.

«Die Unabhängigkeit, wie wir unsere Produkte gestalten, haben wir uns nur bewahrt, weil wir jeden Gelato von Grund auf selber entwickeln können», sagt Amrein. Das gebe ihm inzwischen auch die Gelassenheit, nicht bei jeder auftauchenden Konkurrenz auf dem hitziger gewordenen Gelato-Markt Schweissausbrüche zu bekommen. Zu Beginn habe ihn eine neu eröffnete Gelateria gestresst. Heute sehe er, dass nur wenige durchhalten – und vor denen, die es schaffen, La Golosa etwa, S-Enzen oder die Eiswerkstatt am Bärengraben, ziehe er den Hut.

Verrückter Stängel

Amrein freut sich auf die bevorstehende Saison, weil «wir uns selber von der Leine gelassen haben wie noch selten». Früher stellte die Gelateria neue Aromen meist unter einen Oberbegriff, diesmal «liessen wir im Herbst unsere kreativen Leute einfach losgaloppieren». Es seien verrückte Einfälle zusammengekommen, längst nicht alle liessen sich realisieren.

Einer stammt von ihm selber. Zufällig sah er in Neuenburg qualitativ hochstehende Glacé-Stängel, und bis zur Idee, die fast einem Tabubruch gleichkommt, war es nicht mehr weit. Die Gelateria verzichtete bisher standhaft, Dinge wie vorgefertigte Glacé-Chübeli ins Angebot zu nehmen. Nun aber pröbelt sie seit ein paar Wochen mit Gelato-Stängeln, vegan und mit regionalen Aromen wie Holunder, Quitte oder Rhabarber. In zwei bis drei Monaten sollen sie laut Amrein auf den Markt kommen, ihr Name: Fou.

«Das geht richtig ab, ein genialer Fund.»

Hansmartin Amrein, Co-Gründer Gelateria di Berna

Besondere Freude macht Hansmartin Amrein ein Fund, den sein Bruder Michael und der frühere Sterne-Koch Simon Apothéloz machten, als sie auf eine Pflanzung mit Cassis-Sträuchern stiessen, noch ohne Blätter und Früchte. Aber der Bauer machte sie darauf aufmerksam, dass auch im Holz Cassisaromen stecken. Also wurde das Gehölz geschreddert, sorgfältig in Milch ausgekocht – und nach unzähligen Versuchen und Degustationen zu einem der neuen Gusti 2022 erkoren. Cassisholz-Glacé? «Das geht richtig ab, ein genialer Fund», ruft Amrein.

Er habe früher in den Campingferien auch zu denjenigen gehört, die am Gelato-Stand immer auf den gleichen Gusto setzen, einfach weil er sicher sein wollte, sich nicht mit einer falschen Wahl den Genuss zu verderben. Dass heute fast vier von zehn Gelateria-Kund:innen bereit seien, sich auf die Geschmacksexperimente der Gelateria-Macherinnen einzulassen, darauf sei er schon «ein bisschen stolz», sagt Amrein.

Ein kleiner Beitrag zur Offenheit, via Gelato. Mica male. Nicht schlecht.

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