Das Mäuse-Fenster von Wiedikon

Seit zwanzig Jahren inszenieren Erika und Peter Ess in ihrem Schaufenster das Zürcher Stadtleben. Als Darsteller:innen dienen ihnen keine Menschen, sondern Stoffmäuse.

zwei Mäuse vor dem Kunsthaus
Jede Maus hat ihr eigenes Outfit inklusive Accessoires. (Bild: Sofie David)

Kein Schaufenster in Wiedikon hat so viele Besucher:innen, wie jenes an der Getrudstrasse 54. Kinder und Erwachsene, alle bleiben hier einen Moment stehen.

Zu sehen ist eine Stofftier-Maus im Sommerkleid. Auf dem Kopf hat sie eine rote Brille, sie trinkt Prosecco. Ihr Begleiter trägt einen Anzug und liest die NZZ, auch er ist eine Maus.

Überall im Fenster sind Mäuse in alltäglichen Stadtszenen zu sehen. Hier eine Maus auf dem Trottinett, eine andere hängt um das Strassenschild.

Je länger man hinschaut, desto mehr entdeckt man. «Das ist auch die Idee», sagt Peter Ess, «das Mäuse-Fenster ist ein Wimmelbild». 

Zwei Jahrzehnte für die Mäuse

Peter und Erika Ess basteln das ganze Jahr über an der Installation. Heuer bereits zum zwanzigsten Mal. Jedes Jahr gibt es eine neue Ausstellung, ein neues Thema. 

Die beiden Mäuseeltern ergänzen sich gut. Er Architekt, sie Werklehrerin, beide sind schon lange pensioniert, doch den Beruf merkt man ihnen noch immer an. «Sie ist wahnsinnig detailversessen, alles muss stimmen», sagt Peter Ess über seine Frau. 

Die 78-Jährige strickt den Mäusen ihre Wollmützen und Schals, auch die winzigen Kleider näht sie von Hand. Einige der Einrichtungsgegenstände der Mäusewelten hat sie noch von ihren eigenen Puppenhäusern, andere hat sie über die Jahre gesammelt.

Die Mäuse an der Langstrasse
Für das Foto der Langstrasse brauchte Peter Ess mehrere Anläufe, bis er den Bus im richtigen Winkel erwischte. (Bild: Sofie David)

Peter Ess, der in wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag feiert, ist fürs Grobe zuständig. Der ehemalige Direktor des Amtes für Hochbauten der Stadt Zürich macht die Konstruktion des Schaufensters, er setzt die Puppenhäuser zusammen, schaut, dass die Abstände stimmen und dass am Schluss alles Platz hat. Die Podeste vor den Fenstern, auf die sich die Kinder stellen, hat er eigens aus Paletten zugesägt.

«Wenn man so grosse Fenster hat, an so einer Lage, kann man sich seiner Nachbarschaft nicht verschliessen.»

Peter Ess

Dass diese Mäuse einen so grossen Platz in ihrem Leben einnehmen, hätten die beiden vor 20 Jahren nicht gedacht. «Das war eher Zufall», erinnert sich Erika Ess. 

Sie wollte den Leuten im Haus eine Freude machen, mit einer Adventsdekoration im Treppenhaus. «Und in der Ikea gab es diese Mäuse zu kaufen», erinnert sich die ehemalige Werklehrerin. Also stellte sie ihre Hausbewohner:innen mit den Stofftieren nach.

Ihre Nachbar:innen wiederum fanden es schade, dass nur sie das Werk sehen konnten, so kam es zum Entscheid, die Installation ins Fenster im Erdgeschoss zu stellen. Und weil die Rückmeldungen aus dem Quartier so positiv waren, gab es im darauffolgenden Jahr wieder eine Ausstellung.

«Wenn man so grosse Fenster hat, an so einer Lage, kann man sich seiner Nachbarschaft nicht verschliessen», sagt Peter. Es könne nicht sein, dass man dann anonym bleibe, das sei dem Quartier gegenüber nicht korrekt.

Erika und Peter Ess
Das Ehepaar Ess hat gerne Besuch. In ihrem Atelier ist jede:r willkommen. (Bild: Sofie David)

Verankert im Kreis 3

«Uns kennt man eigentlich im ganzen Quartier», sagt Peter Ess und man merkt, dass er sich darüber freut. Er ist in Zürich aufgewachsen und das Paar wohnt seit vielen Jahren an der Gertrudstrasse.

Das Mäuse-Fenster sorgt regelmässig für lustige Begegnungen, erzählt Erika Ess.

Da wäre der Zwischenfall mit dem Gast des Restaurant Poli, direkt gegenüber, der nach «ein paar Gläschen Wein zu viel» völlig verwirrt von den Mäusen an ihr Fenster klopfte. Oder die Bekanntschaft mit der 7-jährigen Paula, die täglich vorbeikommt und sogar ihr eigenes Mäuse-Replikat bekommen hat. Auch die Quartierszeitung berichtete schon über die Mäuse und ihre Schöpfer:innen.

Quartierfenster im Kreis 3
Bis um 23:00 Uhr nachts beleuchten automatische Lampen die Mäuse. (Bild: Sofie David)

Vor Weihnachten kam eine Familie mit zwei Kindern vorbei. Die Mutter erzählte, ihr Mann sei Eigentümer der Gelateria di Berna und es hätte sich herumgesprochen, dass man das Glacé-Geschäft im Mäuse-Fenster sehen könne. «Die Kinder haben genau hingeschaut und kritisiert, dass die Kappenfarbe der Gelateria-Mitarbeiter:innen nicht korrekt sei. Seit dem Herbst sei diese nämlich nicht mehr braun, sondern rosa», erzählt Erika Ess mit einem Schmunzeln.

«Ich glaube», sagt sie, «dass diese Fenster für die Leute so speziell sind, weil sie sich darin selbst wiedererkennen». Als sie das letzte abbauten, hätten einige Kinder weinen müssen, erzählt sie sich. 

In der Stadt geht es hektisch zu und her

Die aktuelle Ausstellung trägt den Namen «Stadtmaus und Landmaus». Inspiriert sei das Thema von einem Bilderbuch, «darin besucht die Landmaus ihre Freundin in der Stadt und ist ganz überfordert von der Hektik, die da herrscht», erzählt Peter Ess.

Im einen Schaufenster sieht man die Landmäuse, im anderen die Stadtmäuse mit dem Schwarzenbach Geschäft und der Langstrasse.

Auch das Kunsthaus gibt es in Mäuseversion, die Merzbacher Sammlung ist im Detail nachgebaut. «Peter hat alle Bilder abfotografiert und im Kleinformat fürs Mäusemuseum ausgedruckt», erzählt Erika Ess. Merzbach habe immer einen Blumenstrauss in seinen Ausstellungen gewünscht, weiss sie. Diesen hätten sie daher auch mit eingebaut. 

Kunsthalle Maus-City
Als Kunst dienen hier auch leere Tuben und eine Dose, zu Skulpturen verformt. (Bild: Sofie David)

«Mittlerweile müssen wir uns überlegen, wie wir wieder etwas reduzieren können», sagt Erika Ess. In den letzten Jahren seien die Ausstellungen immer aufwändiger geworden. «Wir wollen auch noch reisen gehen und ausserdem sind wir auch nicht mehr die Jüngsten.»

Sie könnten auch etwas anderes machen, «Vogelhäuschen für die Vogelwarte Sempach bauen zum Beispiel», scherzt Peter Ess. Aber: «die Mäuse-Fenster sind mittlerweile unsere Passion geworden». Es sei schön, ein Projekt zu haben, an dem sie beide gerne arbeiten und damit gleichzeitig ihrer Umgebung etwas zurückgeben könnten. Oder wie er es ausdrückt: «Mit den Mäusen leisten wir unseren Beitrag ans Quartier».

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Sofie David

Sofies Begeisterung für die Medienbranche zeigt sich in ihren diversen Projekten: Sie leitete den Zeitungs-Kurs im Ferienlager, für die Jungen Jorunalist:innen Schweiz organisiert sie seit mehreren Jahren das Medienfestival «Journalismus Jetzt» mit. Teilzeit studiert sie an der ZHAW Kommunikation. Zu Tsüri.ch kam sie zunächst 2022 als Civic Media Praktikantin. 2024 Kam sie dann als Projektleiterin und Briefing-Autorin zurück und momentan macht sie als erste Person ihr zweites Tsüri-Praktikum.

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