Das Zürcher Maxim Theater setzt auf Diversität
Am Maxim Theater in Zürich feiert das neue Stück «GLEICHZEIT – Boulevard of Brockenhaus» Premiere. Porträt eines ganz und gar besonderen Theaterhauses.
Es ist nicht zu viel behauptet, das Maxim als das wohl durchmischteste Theaterhaus der Schweiz zu bezeichnen – und zwar sowohl im Ensemble als auch in der Leitungs-Crew und im Publikum. Diese Durchmischung betrifft nicht nur die nationale Herkunft, sondern auch Alter, Geschlecht, Religion, Bildung, Kultur, soziale und sexuelle Orientierung und manches mehr.
Rund 80 Prozent der Mitarbeitenden sind Zugewanderte, 20 Prozent haben einen schweizerischen Hintergrund. Am besten lässt man hier gleich die Bilder mit den Köpfen und Namen sprechen.
Das Ensemble
Die Spieler:innen kommen aus den diversesten Berufsfeldern: Taxifahrer, Pflegebereich, Jugendhausleiterin, ehemalige Sexarbeiterin, ausgebildeter Ökonom, Psychologin, Sozialarbeiterin, Touristikexperte – und vieles mehr. Alle müssen sie ihre Theaterbegeisterung um ihren Hauptberuf herumjonglieren.
Das Maxim als Theaterhaus hat seinerseits eine beachtliche Geschichte. Gegründet wurde es bereits im Jahr 2006 von der Bühnenbildnerin Claudia Flütsch und dem Regisseur und Dozenten Walter Pfaff von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). In all den Jahren hat es sich zu einem veritablen Vielspartenbetrieb entwickelt, wie es kaum einen zweiten gibt. Hier werden auch die Kurse «Spielend Deutsch Lernen» sowie «Singen: Deutsch und Deutlich» angeboten.
Das Format «Mobiles MAXIM» hat eine agile Interventions-Theatergruppe mit dem Fokus auf soziale und politische Themen im öffentlichen Raum ins Leben gerufen. Im «Sprachkaffee» kann man ganz zwanglos seine Deutschkenntnisse verbessern. Mit «Wege ins Theater» besuchen ganze Gruppen gemeinsam Vorstellungen in anderen Theatern von Zürich und Umgebung.
Und in Kollaboration mit einem breiten Netzwerk von Partner:innen findet auf der Plattform «ZWISCHENRÄUME im MAXIM» ein regelmässiger transkultureller Dialog statt mit (szenischen) Lesungen, Vorträgen, Diskussionen, Filmen und Konzerten. Kurz: Da läuft immer was.
Die künstlerische & Co-Geschäftsleitung
Und dennoch sagt die Gründerin Claudia Flütsch dezidiert: «Wir sind kein Flüchtlings- und Migrantentheater.» Diese Bezeichnung werde nämlich oft sehr abwertend benutzt. Der Grundsatz lautet: «Hier ist jede und jeder willkommen.» Im Zusammenfliessen vielfältiger transkultureller Ansätze soll hier eine multiperspektivische, komplexe und höchst partizipative neue Art von Theater entwickelt werden. Und das geschieht genauso – seit 18 Jahren.
Verliert das Maxim aber heute, wo auch etliche grosse Bühnen vermehrt auf das Diversitäts-Label setzen, vielleicht sein Alleinstellungsmerkmal?
«Das hat uns tatsächlich in eine kleine Sinnkrise gestürzt», bekennt Claudia Flütsch. Aber sie vertraut auf ihre lange Erfahrung, die vor allem an den beteiligten Menschen interessiert ist und bleibt. Da sei eine eigentliche Community im und um das Haus entstanden. Finanziell würden sie zwar nicht von der Abteilung Kultur der Stadt unterstützt, sondern von der Abteilung Integration – mit einem Beitrag von 250'000 Franken pro Jahr für ihren Leistungsauftrag.
Ihre Leute hier müssten allerdings gar nicht integriert werden, lacht sie: «Sie sollen hier aber noch mehr zuhause sein und sich zugehörig fühlen, ihre Stimmen und Meinungen müssen noch mehr gehört werden.»
Das Gesamtbudget beträgt 400'000 Franken. Das restliche Geld müssen durch Eigenleistungen wie Ticketeinnahmen oder Vermietungen sowie Spenden von Stiftungen und Privaten beigebracht werden. Seit das Haus einen städtischen Zuschuss erhält, seien die Stiftungsbeiträge zurückgegangen, sagt Flütsch. Der Kampf ums nötige Geld sei eine Art Teufelskreis und raube viele Ressourcen.
Das neue Stück «GLEICHZEIT – Boulevard of Brockenhaus»
Spricht man mit den beiden Co-Regisseurinnen von «GLEICHZEIT», wird schnell und konkret deutlich, worum es ihnen in ihrem neuen Stück geht. Diversität ist hier kein Label, sondern die DNA ihres Schaffens.
Die Finnin Salla Ruppa kam vor über 15 Jahren in die Schweiz und gehört zu den Urgesteinen des Hauses. Sie ist als Regisseurin und vielseitige Performerin tätig und hat an der ZHdK mit einem Master in Theaterpädagogik abgeschlossen – witzigerweise zum urschweizerischen Praxis-Konfliktfeld: «Waschküchen mal anders.» Mit ihrem Musical-Kollektiv und dem «Duo Wöschchuchi» tourt sie derzeit durch die Zürcher Genossenschaft-Waschküchen.
«Wir wollen nicht die Lebensgeschichten unserer Spieler:innen ausbeuten, sie keinesfalls für die Bühne instrumentalisieren.»
Leila Vidal Sephiha, Co-Regisseurin
«Was uns im Maxim auszeichnet», erläutert sie, «ist diese grosse Geduld und das echte Interesse an den vielfältigen Menschen». Augenfällig wird im Gespräch auch eine Abgrenzung vom Dokumentartheater im Stile etwa eines Milo Rau oder von Rimini Protokoll.
«Wir wollen nicht die Lebensgeschichten unserer Spieler:innen ausbeuten, sie keinesfalls für die Bühne instrumentalisieren, wie das nicht selten im Dokumentartheater der Fall ist.» Man ziele nicht auf Exhibitionismus und effekthascherisches Betroffenheitstheater, sondern suche in allem nach einer künstlerischen Übersetzung.
Zum echten Miteinander
Co-Regisseurin Leila Vidal Sephiha kommt von den Theaterwissenschaften her und hat bereits in vielen Häusern, auch am Schauspielhaus Zürich, assistiert und Regie geführt im wohl kleinsten Theater der Schweiz, dem experimentellen Théâtre de Poche in Genf. «Wir wollen nicht nur an den realen Erinnerungen kleben bleiben», betont sie. «Wir wollen eine grössere Geschichte erzählen, mit assoziativen, künstlerischen Mitteln, mit Musik, Träumen, Phantasien, mit schillernd mehrdeutigen Metaphern – und dies maximal ergebnisoffen.»
«Was letztlich eine kulturelle Identität ausmacht, geht weit über einzelne Zuschreibungen wie Herkunft, Bildung, soziale und sexuelle Orientierung hinaus.»
Leila Vidal Sephiha, Co-Regisseurin
In den letzten Jahren hat in Kulturkreisen eine Begriffsentwicklung stattgefunden, von «multikulturell» über «interkulturell» zu «transkulturell». Was ist mit dieser Verschiebung genau gemeint?
Kurz gesagt: Vom Nebeneinander übers Zwischeneinander zum echten Miteinander.
«Interkulturell» spreche deutlicher die Grenzen und Zwischenräume an, erläutert Leila Vidal Sephiha, «transkulturell» hingegen sei fliessender, betone mehr die Vermischung und Vielfältigkeit der kulturellen Identitäten: «Was letztlich eine kulturelle Identität ausmacht, ist viel komplexer, als wir uns das meist vorstellen, und geht weit über einzelne Zuschreibungen wie Herkunft, Bildung, soziale und sexuelle Orientierung hinaus», unterstreicht sie.
Wichtig ist ihr in jedem Fall, dass ihr im Kollektiv entwickeltes Stück sich auch in seiner Form als transkulturell erweist. Die farbig verfliessende Grafik des Plakats und des Flyers zum Stück sei auch ein ästhetischer Ausdruck dieses Anspruchs. Es ist unverkennbar, im Maxim Theater findet gerade auch ein Generationenwechsel statt.
Survival-Training in Ambiguitäts-Toleranz
Mit ihrem neuen Stück «GLEICHZEIT – Boulevard of Brockenhaus» will das MAXIM-Team – der Titel deutet es an – das Phänomen der so verwirrenden wie bereichernden Gleichzeitigkeit von allem und jedem in unserer rastlosen Gegenwart auf die Bühne zaubern.
Verbundenheit und Isolation, Freude und Verlust, all die ganz und gar widersprüchlichen und doch oft so parallel verlaufenden Existenzweisen, wie sie das menschliche Leben eben ausmachen. Das klingt als abstrakte Formel vielleicht fast so, als wolle man Einsteins Relativitätstheorie bühnentauglich machen – oder zumindest wie ein Survival-Training in Ambiguitäts-Toleranz: Sinnlich erlebbar, in Bildern und Fantasien, mit fragmentierten Geschichten und realen Menschen aus Fleisch und Blut.
«Manchmal proben wir gleichzeitig in fünf Gruppen, lassen Parallelität und Widersprüche, Verbindungen und Bruchlinien aufeinanderprallen.»
Dramaturgin Nika Parkhomovskaia
Ausgangspunkt für die dreimonatige Recherchephase des Teams war eine ganz praktische Aufgabe an alle Spieler:innen: «Geht ins Brockenhaus und bringt etwas mit, das mit euch persönlich etwas zu tun hat.» Diesen scheinbar toten Gegenständen wird nun in einem langen Probenprozess ein neues – oder altes? – Leben eingehaucht, mit Improvisationen, Begegnungen untereinander, in fantastischen Verfremdungen und Überhöhungen.
Das Brockenhaus wird zur Grossmetapher für gelebtes und ungelebtes Leben, für das Nebeneinander von Unvereinbarem, für Sehnsüchte und Schmerzen, für Verlorenes und Gefundenes.
«Wir praktizieren den Modus Gleichzeit auch beim Arbeiten am Stück», erklärt die russische Dramaturgin Nika Parkhomovskaia, die nach Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine aus Moskau geflüchtet ist. «Manchmal proben wir gleichzeitig in fünf Gruppen, lassen Parallelität und Widersprüche, Verbindungen und Bruchlinien aufeinanderprallen. Es ist nicht einfach, aber es ist sehr lebendig und belebend.» Eine Woche vor der Premiere nehmen wir teil an einer fast dreistündigen Probe.
Die Spielerin Barbara Serfoezoe meint kurz vor Probenbeginn: «Ich war das ganze Jahr über nicht nervös. Die Theaterarbeit ist mir unglaublich leicht gefallen. Aber jetzt bin ich so nervös.» Und sie lacht.
Maryury Saldaña Suarez bläst auf der engen Bühne mit dem Didgeridoo dumpfe, dunkel schwebende Töne in den Raum, sie beeindruckt mit einer bewegungsstarken Solo-Choreo und bestürmt schliesslich auf Spanisch ihre Mitspieler:innen und das Publikum mit eindringlichen Appellen, was sie sich in ihrem Konsumrausch eben alles nicht kaufen können: den Wind, den Regen, die Sonne, die Farben – meine Freude, meine Schmerzen. Das eigentliche Leben kann man nicht kaufen.
Kolonialismus aktuell und greifbar
Eine Szene weiter kommt ein gesellschaftlich hochrelevanter Diskurs aufs Tapet, und zwar in Verbindung mit der aktuellen Ausstellung im Museum Rietberg. Der gebürtige Nigerianer und Maxim-Schauspieler der ersten Stunde Amowie Oreoghene läuft hier als Vertreter Benins im Restitutions-Fight zu lustvoll spielerischer Form auf.
«Es gibt einen blinden Fleck in der Wahrnehmung über das Maxim Theater. Was wir hier machen, wird zu wenig als Kunst wahrgenommen.»
Leila Vidal Sephiha, Co-Regisseurin
Inszenatorisch etwas diskutabel erscheint hier allerdings die Idee, diesen Plot in eine Primarschulklasse zu verpflanzen; wenn Erwachsene Kinder spielen, verführt das doch zu einigen Verharmlosungen und ungelenken Hampeleien.
Die Szene bleibt aber ein gutes Beispiel für die klugen kultur- und gesellschaftspolitischen Vernetzungen, die dem Theater mit seinen Produktionen immer wieder gelingen.
«Es gibt einen blinden Fleck in der Wahrnehmung über das Maxim Theater», sagt Leila Vidal Sephiha. «Was wir hier machen, wird zu wenig als Kunst wahrgenommen.» Kunst ist, wo sie mit Ernsthaftigkeit und Innovationswillen betrieben wird, immer auch risikobehaftet. Sie kann mehr oder weniger gelingen.
Erfolg mit Profi-Laien-Modell
Ob «GLEICHZEIT» den hohen künstlerischen Ansprüchen der Leitungscrew gerecht werden kann, lässt sich nach einem einzigen Probenbesuch eine Woche vor der Premiere nicht abschliessend beantworten. Sich solche hohen Ansprüche zu setzen, ist selbstverständlich mehr als legitim. Auch an professionellen Bühnen können dann im Ergebnis Lücken klaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Eine andere Frage bleibt, wie klug es ist, wenn sich das Maxim Theater so vehement gegen den Begriff Laientheater wehrt. Unbestritten und zweifellos sinnvoll ist, dass die Leitungspersonen Profis sind, die einen langen und intensiven Probenprozess in professionellem Umfeld und mit klarem Entwicklungspotenzial ermöglichen.
Dieses kombinierte Profi-Laien-Modell funktioniert auch andernorts seit Jahren bestens. Beispielsweise im Jungen Theater Basel oder bei der Volksbühne Basel.
Der gemeinsame Fokus, der all diese theaterkultureller Angebote auf verschiedenen Ebenen miteinander verbindet, ist letztlich ein schlicht menschenrechtlicher Auftrag, denn: Teilhabe an Kultur ist ein Menschenrecht.
Sich für die Verwirklichung dieses Menschenrechts einzusetzen ist deshalb keine reine Liebhaberei, sondern Pflicht der staatlichen und kulturorientierten Organe – und der ganzen Zivilgesellschaft. Man darf hier deshalb fast etwas beamtenhaft an diese menschenrechtlichen Verpflichtungen erinnern und sie bei Gelegenheit auch argumentativ beiziehen.
Das Bundesamt für Kultur hat zu diesem Bereich in den letzten Jahren eine Reihe von grundsätzlichen Dokumente und Untersuchungen veröffentlicht
Und deswegen – man kann es nicht genug betonen – sind auch solche kulturellen und sozialen Leistungen, wie sie das MAXIM Theater seit Jahr und Tag erbringt, schlicht unverzichtbar.
Das könnten eigentlich auch Politiker:innen wissen. Bei der letzten Subventionsvergabe stimmten FDP, SVP und GLP im Zürcher Stadtparlament gegen den Unterstützungsbeitrag für das MAXIM Theater.
Doch auch die Schweizer Stimmbevölkerung scheint den Inklusionsgedanken noch nicht so weit zu tragen, wie er im MAXIM Theater gelebt wird. Letztes Wochenende wurde in Basel-Stadt mit 55.6 Prozent Nein-Stimmen zum dritten Mal eine Inititative abgelehnt, die das Ausländer:innen-Stimmrecht eingeführt hätte.
- Der Spielplan des MAXIM Theaters
- Informationen zu früheren Produktionen des MAXIM Theater, etwa ZUERITOPIA / DIE MITTELMEER MONOLOGE / WÜRDE & WIDERSTAND: ANTIGONE! / WHO THE HELL IS HEIDI / SHAKESPEARE TRANSIT.