Café «le mur» im Kreis 4: Die kleinste Spitzenküche in Zürich
Seit zwei Jahren kocht die Neuseeländerin Jasmine Harrison-Lohri im «le mur» an der Engelstrasse – dem wohl kleinsten Restaurant in Zürich. Einst stand sie in 5-Sterne-Küchen, heute serviert sie ihre Gerichte so, wie es ihr gerade passt.
Es ist kurz vor elf Uhr, als Jasmine Harrison-Lohri mit dem Velo vor dem «le mur» anhält. Das Lokal sollte eigentlich schon seit fast einer Stunde offen sein, doch Harrison-Lohri pfeift auf ihre eigenen Öffnungszeiten. «Das Café ist geöffnet, wenn ich da bin», sagt sie.
Harrison-Lohri hat kurze schwarze Haare, trägt eine rote Jacke und Kopfhörer auf den Ohren. In der Hand hält sie eine Plastiktasche, gefüllt mit Gipfeli. Sie komme direkt vom Markt um die Ecke am Helvetiaplatz, wo sie sich mit dem Gemüsehändler verquatscht habe, sagt sie, während sie routiniert das Garagentor der Nummer 59 hochfährt.
Von Christchurch nach Zürich
Harrison-Lohri spricht Englisch. Sie stammt aus Neuseeland und gehört dem indigenen Volk der Māori an. Aufgewachsen ist sie in Christchurch – oder Ōtautahi, wie es in der Sprache der Māori heisst – auf der Südinsel von Aotearoa.
Im Café stellt sie als Erstes die Musik an. «Bittersuite» von der Sängerin Billie Eilish schallt aus den Lautsprecherboxen. Erst dann bereitet sie den ersten Kaffee des Tages zu. Sie mahlt die Bohnen, spannt den Siebträger ein und während der Espresso in ein Glas läuft, schäumt sie die Milch für einen Cappuccino. Sie habe ihre ganze Kindheit umgeben von Musik verbracht, erzählt sie und legt die frischen Gipfeli in die Auslage. Ihr Vater sei Musiker gewesen.
In Christchurch sei sie auf der schlechtesten Schule der Stadt gewesen und habe dennoch die besten Lehrer:innen gehabt, sagt sie. Diese hätten die Schüler:innen unterstützt und gefördert. Eine Erfahrung, die sie weitergeben wolle.
Nach der Schule lernte Harrison-Lohri in einem 5-Sterne-Hotel zu kochen. Französische Spitzenküche à la carte, kombiniert mit japanischer Kochkunst. In ihrer Lehre sei sie die einzige Frau gewesen. «Oft hat man mich übersehen oder unterschätzt.»
Ein paar Jahre später arbeitete sie in einem Restaurant in England, wo sie sich stark verausgabte und die Freude an ihrem Beruf verlor. Harrison-Lohri kehrte nach Neuseeland zurück und hörte für eine Weile auf zu kochen, um sich zu erholen. Ihre Liebe zum Handwerk aber blieb bestehen, ebenso wie die Idee, eines Tages in einem Restaurant in Frankreich zu arbeiten.
Also bewarb sie sich auf verschiedene Stellen. Schliesslich bekam sie ein Angebot, im Kaufleuten in Zürich. Das war im Jahr 2002. Seither hat sie schon an so mancher Adresse gekocht, unter anderem auch im «Cinque» an der Langstrasse.
Das kleinste Restaurant Zürichs
Harrison-Lohri redet ununterbrochen, sie ist ständig in Bewegung. Auf einem der vielen Bilder, die an der Wand hängen, steht «this kitchen is for dancing». Eine Freundin habe es für sie gemacht, weil sie beim Kochen immer so herumwirble, als würde sie tanzen.
Sie schnippelt Salat, bereitet einen Flat-White zu – der komme übrigens auch aus Neuseeland – und erzählt gleichzeitig, wie sie zum «le mur» gekommen ist. Eine Freundin habe sie mitgenommen und ihr das «wohl kleinste Restaurant Zürichs» gezeigt.
Die Küche des Cafés ist nur knapp neun Quadratmeter gross, und damals wie heute wird das Essen direkt über die Theke verkauft. Früher gehörte es einem älteren Ehepaar, welches das «le mur» vor 27 Jahren gegründet hatte; zu einer Zeit, als in Zürich noch die offene Drogenszene herrschte und die nahe gelegene Bäckeranlage abgeriegelt war. Daher auch der Name «le mur»: «Weil sich die Leute zu dieser Zeit eingeengt gefühlt haben.»
Sie besuchte das Café oft und verliebte sich in die Holzregale, in denen ihren Aussagen zufolge allerlei Krimskrams aufbewahrt worden war. Die geschnitzten Möbel hätten sie an Zuhause erinnert. Darum habe sie dem Ehepaar angeboten, das Café zu hüten, wenn sie in den Ferien waren – sogar umsonst. Als die beiden in Pension gingen, fragten sie Harrison-Lohri, ob sie das Café übernehmen wolle.
Star Wars, Prince und Papa Müll
Das war vor zwei Jahren, seither hat sich im kleinsten Restaurant Zürichs viel getan. Statt Chicoréesalat und Käsewähe gibt es nun Gerichte wie veganen Eintopf, Spicy New Zealand Pie und Rindsragout garniert mit Granatapfelkernen.
Harrison-Lohri kocht, worauf sie gerade Lust hat, deshalb stehen immer wieder andere Gerichte auf der Karte. Die Produkte kauft sie frisch vom Markt und bereitet alles vor Ort zu, obwohl es nur eine einzige Herdplatte und einen kleinen Ofen gibt. Aus diesem strömt gerade der Geruch von Neuseeländischem Pie, einem Blätterteiggebäck gefüllt mit Hackfleisch und Gruyère.
Sie möge die «durchkommerzialisierten» Cafés, die ein Heissgetränk für 7 Franken anbieten, nicht besonders, sagt Harrison-Lohri. Deshalb kostet ihr schwarzer Kaffee 3.50 Franken, mit Kuh- oder Kokosmilch 4.50 Franken.
Obwohl Harrison-Lohri professionelle Köchin ist, erinnert das «le mur» mehr an eine WG-Stube als an ein Sternerestaurant. An fast jeder Wand hängen Plakate, Bilder und Postkarten, die von den beiden Heimaten erzählen: Zürich und Aotearoa. Unter dem Fenstersims stapeln sich die Reportagenmagazine, in den Regalen stehen Platten von Leonard Cohen und Prince neben zwei Star-Wars-Figuren. Und die Holzregale sind heute gefüllt mit ihrem eigenen Kram: neuseeländischen Kochbüchern, einem Comic zur Zürcher Stadtgeschichte, Kaffeebohnen und zwei Heften mit den Titeln «Globi auf LSD» und «Papa Müll».
Der neuseeländische Treffpunkt im Kreis 4
Im Lokal dinieren Anwohner:innen aus dem Quartier sowie Leute, die in der Nähe arbeiten. Und Neuseeländer:innen, mit denen sich Harrison-Lohri über die Jahre angefreundet hat. «Welcome to the embassy», sagt ein Gast, während er sich selbst an der Kaffeemaschine bedient.
Das Café hat nur eine überschaubare Anzahl Sitzplätze, wenige drinnen und ein paar draussen in der Sonne. Dennoch essen fast alle Gäst:innen ihre Gerichte da.
«I like the problem-kids.»
Jasmine Harrison-Lohri
Das kleine Lokal an der Engelstrasse 59 ist Harrison-Lohris Lebensmittelpunkt, doch Stillstand kennt sie nicht. Für die Zukunft hat sie bereits weitere Ideen im Kopf: zum Beispiel ein Konzept für Jugendliche im Quartier. Ihnen möchte Harrison-Lohri auf der Bäckeranlage kochen und servieren beibringen. Damit sollen sich die Jugendlichen dann bei Gastronomie-Unternehmen in der Stadt bewerben und bereits Erfahrung vorweisen können.
«Sie kümmert sich immer um die verlorenen Schafe», erzählt eine Freundin von Harrison-Lohri beim Mittagessen. «I like the problem-kids» wirft Harrison-Lohri ein. Auch für das «le mur» hat sie weitere Pläne. Ihr Traum: Ein Partnerlokal in Basel, ihrer zweiten Lieblingsstadt in der Schweiz.
Harrison-Lohri ist es ein Anliegen, dass wir sie an dieser Stelle unverändert zitieren: «Living in two beautiful Countries, with my two Swiss/ Maori Sons… What a wonderful world. I worked hard to get to this moment where I feel extremely privileged. To live in Switzerland, and my home is Aotearoa – Wow! I have amazing Swiss Friends, from all over Switzerland. What a privileged life I am having. Kia Ora Swissyland!»
Anm. d. Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hiess es, dass das Café an der Dienerstrasse liegt. Dem ist nicht so: Die korrekte Adresse lautet Engelstrasse 59.
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Sofies Begeisterung für die Medienbranche zeigt sich in ihren diversen Projekten: Sie leitete den Zeitungs-Kurs im Ferienlager, für die Jungen Jorunalist:innen Schweiz organisiert sie seit mehreren Jahren das Medienfestival «Journalismus Jetzt» mit. Teilzeit studiert sie an der ZHAW Kommunikation. Zu Tsüri.ch kam sie zunächst 2022 als Civic Media Praktikantin. 2024 kehrte sie dann als Projektleiterin und Briefing-Autorin zurück und momentan macht sie als erste Person ihr zweites Tsüri-Praktikum.