Behinderung und Migration: «Exklusion findet auf mehreren Ebenen statt»

Als pflegende Angehörige einer Person mit Behinderung erlebt unsere Kolumnistin Arbnora Aliu immer wieder, wie Inklusion in unserer Gesellschaft fehlt. Noch prekärer werde es, wenn neben einer Beeinträchtigung auch noch die Migrationsgeschichte eine Rolle spiele.

Kolumne Mandy
Ilustration: Zana Selimi (Bild: Zana Selimi)

Noch wenige Tage und ich werde zum zweiten Mal Mutter. Und als wären die Vorbereitungen, die man so vornimmt, wenn ein neues Familienmitglied erwartet wird, nicht genug, habe ich zusätzlich mit einem Kampf zu tun, der nie aufhört. Als pflegende Angehörige einer Person mit Behinderung muss ich mich immer wieder mit Exklusion auseinandersetzen, die auf mehreren Ebenen stattfindet und sehr komplex ist. So wird meine Schwester nicht «nur» aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert, sondern auch aufgrund ihrer Migrationsgeschichte oder ihres Geschlechts. Auch ihr sozioökonomischer Status oder ihre Ressourcen spielen sehr oft eine Rolle. 

Die Exklusion meiner Schwester begann schon sehr früh statt. So wurden meine Eltern zu Beginn der 90er-Jahre vom Kinderarzt über ein Jahr lang nicht ernst genommen, als sie ihm wiederholt mitteilten, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmen könnte. Sie waren sehr jung, sprachen kein perfektes Deutsch und lebten zu einer Zeit in der Schweiz, in der Menschen mit Migrationsgeschichte noch sehr viel stärker diskriminiert wurden.

«Deutsch zu können, reicht meistens nicht aus.»

Arbnora Aliu

Man könnte meinen, das hat sich mittlerweile geändert, dem ist jedoch nicht so. Menschen mit Migrationsgeschichte werden immer noch diskriminiert, unter anderem im Gesundheitssystem. Erst recht, wenn man eine Person mit Behinderung ist oder jene betreut. Ich merke immer wieder: Deutsch zu können, reicht meistens nicht aus. Abläufe innerhalb von Institutionen verstehen, Briefe schreiben, mit Ärzt:innen sprechen, erfordert meist weitaus mehr. Selbst mit einem Masterabschluss in der Tasche bin ich sehr oft überfordert.

Nebst der Überforderung gesellt sich oft auch eine Art Verzweiflung, wenn die Bedürfnisse und Rechte meiner Schwester von Fachangestellten nicht ernst genommen werden. So kann man meine Schwester aufgrund der Behinderung gar nicht erst untersuchen. Jegliche medizinischen Untersuchungen müssen also unter Vollnarkose stattfinden. Dies wiederum bedeutet, dass ich jedes Mal einer Ärztin oder einem Arzt das so begründen muss, warum sie eine Narkose braucht. Nur so schaffen wir es überhaupt, sie behandeln zu lassen.

«Der Umgang mit Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund müsste bereits in der Ausbildung von medizinischen Fachpersonen thematisiert werden.»

Arbnora Aliu

Dabei fällt mir jedes Mal wieder auf, dass mir mein Gegenüber einfach nicht zuhört, beziehungsweise oft gar nicht auf die Idee kommt, mich zu fragen, ob ich die Situation, also was meine Schwester braucht, beschreiben kann. Ich weiss nicht, woran das liegt.

Sind diese Personen nicht ausreichend ausgebildet? Ist es eine Art Abwehr aufgrund von Berührungsängsten? 

Vor einigen Jahren musste meine Schwester den Zahnarzt wechseln, da sie als Volljährige die Kinderzahnklinik verlassen musste. In der neuen Klinik wurde uns eine Zahnkontrolle verweigert. Die Begründung: Sie würden keine Narkosen durchführen, wenn es keinen Anlass dafür gäbe. Auf meine Frage, was ein Anlass sei, antwortete der Zahnarzt: «Wenn es blutet oder anschwillt.» Ich weiss ja nicht, wie ihr das macht, aber ich gehe jährlich in die Zahnkontrolle und Reinigung und nicht erst, wenn es blutet. Aber scheinbar wird eine Person mit Behinderung, die eine Vollnarkose braucht, erst dann behandelt.

Ich versuchte, dem Arzt zu erklären, dass wir verhindern wollen, dass sie mit 30 keine Zähne mehr hat. Seine Antwort: «Damit müssen Sie sowieso rechnen.» Daraufhin brach ich das Gespräch ab. Ein solcher Umgang war ein neuer Tiefpunkt. Trotzdem bestand meine Familie darauf, mit der Leitung zu sprechen. Nach monatelangem Warten erhielten wir auch einen Termin – doch auf unser Anliegen wollte auch sie nicht eingehen.

Also suchten wir auf eigene Faust und fanden schliesslich einen privaten Zahnarzt, der meine Schwester unter Narkose behandelte. Ihr musste ein Zahn gezogen werden, weil er bereits zu sehr beschädigt war. Bis heute frage ich mich, ob wir diesen Zahn noch hätten retten können, wenn wir vorher nicht monatelang mit der anderen Klinik gekämpft hätten. 

Ich begleite meine Eltern bewusst an alle Gespräche, die meine Schwester betreffen. Sie sprechen nach dreissig Jahren perfektes Züri-Deutsch mit einem «Touch» Dialekt und trotzdem spricht ihr Gegenüber die ersten zehn Minuten fast jedes Mal Hochdeutsch. Wieso habe ich sie begleitet? Weil es in diesen Situationen nicht reicht, gut Deutsch zu sprechen. Du musst argumentieren, dich wehren, kämpfen und brauchst dafür ein weitaus breiteres Vokabular als deine Alltagssprache.

Wie gehen Menschen mit solchen Situationen um, wenn sie eine Behinderung, eine Migrationsgeschichte und keinen Hochschulabschluss haben? Diese Frage stelle ich mir immer wieder und bin wütend, dass unser Gesundheitssystem anscheinend immer noch nicht zugänglicher ist. Der Umgang mit Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund müsste bereits in der Ausbildung von Fachpersonen im Gesundheitswesen thematisiert werden. 

Es ist also sehr komplex. Behinderung, Geschlecht, Alter, Migrationsgeschichte, Bildung, Ressourcen. Eine Kombination, die eigentlich nicht zu Exklusion führen sollte, sondern in unserer Gesellschaft diskutiert und reflektiert werden muss, um den Umgang mit Menschen inklusiver zu gestalten. 

In der Zwischenzeit schreibe ich also hochschwanger weiterhin Mails und mache Telefonate, damit meine Schwester im Gesundheitssystem nicht ausgeschlossen wird. Sie hat das Glück, dass sie jemanden hat, der perfektes Deutsch spricht und schreiben kann, aber auch das System hinterfragt und sich wehrt. Andere Betroffene haben das leider nicht. 

Arbnora Aliu
(Bild: Elio Donauer)

Arbnora Aliu

Arbnora Alius Eltern liessen sich Ende der 80er-Jahren im Quartier Grünau nieder. Die eine Hälfte ihres Herzens schlägt deshalb für die Stadt Zürich. Hier hat sie Erziehungswissenschaften studiert und bemerkte schnell, dass sie die Themen Inklusion, Migration, Feminismus und Chancengerechtigkeit interessieren. Mittlerweile doktoriert sie an der Universität Zürich und unterrichtet an zwei Pädagogischen Hochschulen. 

Aufgrund ihrer albanischen Wurzeln schlägt die andere Hälfte ihres Herzens für die kleine Stadt Struga am Ohridsee. Aufgewachsen mit zwei Heimatorten, als Tochter von Arbeiter:innen, sowie betreuende Angehörige ihrer Schwester und heute als Doktorandin, Partnerin, Mutter und vieles mehr, setzt sich Arbnora immer wieder mit der Frage ihrer eigenen Identität auseinander.

Durch die Migrationsgeschichte ihrer Eltern ist ihre Biographie geprägt von struktureller Diskriminierung und den damit einhergehenden verschlossenen Türen, auf die sie heute aufmerksam machen will.

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