Band «Перли» am Lauter Festival: Ukrainische Musikerinnen fanden sich in Zürich
Am Samstag spielt die siebenköpfige Band «Перли» am Lauter Festival. Gegründet wurde sie von ukrainischen Musikstudentinnen, die ihre Heimat des Krieges wegen verliessen. Nach Zürich gekommen sind sie wegen der Musik – und weil eine Musikwissenschaftlerin sie hierher einlud. Wir haben die Band bei der Probe besucht.
«Der Faden ist das Leben. Mit dem Krieg ist er gerissen. Die Musik ist die Nadel, die die Perlen wieder einfädelt – auf einen neuen Faden: die Schweiz», sagt die 22-jährige Maryna Shylina. Sie sei die Philosophin der Band, meinen die anderen und lachen. «Und die Perlen?», frage ich. «Die Perlen sind schön, ein ‹beautiful Sign›.» Vielleicht, denke ich, sind sie die Perlen; die sieben ukrainischen Musikstudentinnen, welche die Musik hier in Zürich zusammenbrachte und die gemeinsam die Band «Перли» – ausgesprochen «Perly» – gründeten.
Heute sind fünf der sieben Bandmitglieder zusammengekommen. Sie sitzen um einen Holztisch in einem etwas heruntergekommenen Haus in Hottingen am Fuss des Zürichbergs. Vor den Fenstern lockt ein lauer Frühlingsabend. Das Haus steht in einem Innenhof, farbige Gläser sind an der Wohnungstür eingelassen. Vor den Musikerinnen stehen pastellfarbene Tassen gefüllt mit Tee und ein Schälchen mit Mini-Reiswaffeln, überzogen mit Schokolade. Hier, im Wohnzimmer eines Bekannten, probt die Band für das Lauter Festival.
Die jungen Frauen haben die Ukraine des Krieges wegen verlassen. Nach Zürich gekommen sind sie wegen der Musik. Und wegen Angelika Moths.
Online-Seminar bei Kriegsbeginn
Moths ist Musikwissenschaftlerin an der Universität Zürich und fühlt sich der Ukraine verbunden, seit sie vor zehn Jahren das erste Mal da war. Das habe verschiedene Gründe, erzählt sie im Vorraum ihres Büros. Ihre Mutter sei als Kind aus Ostpreussen, im heutigen Polen, geflüchtet. Die östliche Mentalität sei ihr daher von Anfang an vertraut gewesen. Zudem habe insbesondere der Westen der Ukraine historisch gesehen eine enge Verbindung mit uns. «Als Musikforscherin hat es mir weh getan, dass die Ukraine in der westlichen Welt bis anhin überhaupt nicht wahrgenommen wurde», sagt Moths. Ihr Wunsch sei es schon immer gewesen, das Land sichtbar und als Musikerin auch hörbar zu machen: «Die Ukraine hat eine unglaublich faszinierende Musikgeschichte; eigenständig, aber auch mit unserer Geschichte verwoben.»
Vor Corona fuhr Moths regelmässig in die Ukraine und gab vor Ort auch Kurse. «Als der Krieg anfing, war ich gerade mitten in einem Online-Seminar», erzählt sie. Gemeinsam mit einem Kollegen aus Kyiv leitete sie seit Oktober 2021 alle zwei Wochen einen Kurs für ukrainische Studierende. Thema: die Beschreibung von Musikhandschriften aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Der ukrainische Musikwissenschaftler hatte die Fragmente in einem Archiv gefunden. Noch am 23. Februar hätte das Seminar stattfinden sollen. Am 24. Februar brach der Krieg aus. Schnell sei klar gewesen, dass ihr Kollege Militärdienst leisten muss. Seit da habe sie nichts mehr von ihm gehört.
Studium in Zürich fortsetzen
Doch Moths wollte nicht untätig bleiben. Nachdem ihr Lehrstuhlleiter Laurenz Lütteken ihr seine Unterstützung zugesichert hatte, kontaktierte sie die Studierenden des Online-Seminars und bot ihnen an, ihr Studium in Zürich fortzuführen. Die 19-jährige Uliana Kaftan war die erste Studentin, die auf die Mail reagierte. Anfang März kam sie gemeinsam mit ihrer drei Jahre älteren Cousine Anastasiia Dutka in Zürich an.
«Dass sie von ihrer Zeit hier auch profitieren, ist mir ein grosses Anliegen.»
Angelika Moths, Musikwissenschaftlerin
Seither besucht Uliana Kaftan Kurse am Institut für Musikwissenschaften an der Universität Zürich (UZH). Für die Violinistin Anastasiia Dutka organisierte Moths ein Gaststudium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Lehrstuhlassistentin Esma Cerkovnik half den Studentinnen mit der Bürokratie, besuchte Ämter mit ihnen, schloss Bankkonten ab und kümmerte sich auch um ihre persönlichen Belange. «Ohne Esma Cerkovnik wäre das alles nicht möglich gewesen», betont Moths.
Doch nicht nur das Musikwissenschaftliche Institut, sondern auch viele andere Menschen waren und sind noch heute involviert. So beispielsweise Fanny Eisl, welche die beiden Cousinen bei sich aufnahm. Als ehemalige Helferin des Lauter Kollektivs stellte sie zudem den Link zum Festival her.
Die anderen fünf Bandmitglieder und Musikstudentinnen kamen auf ähnliche Weise wie die Cousinen aus Lwiw über Kontakte zu Moths nach Zürich. Auch sie besuchen heute Kurse an der UZH oder an der ZHdK und wohnen bei Bekannten von Eisl. «Am Anfang dachte ich, an Ostern würden wir den Sieg der Ukraine feiern und ich könnte dann zurück», erzählt die 26-jährige Dirigentin Anastasiia Shchyrba am Wohnzimmertisch vor der Bandprobe, «jetzt muss ich mir Sommerkleider besorgen.» Die vier Jahre jüngere Daria Haidashevska zeigt auf mein schwarzes Jäckchen und sagt: «In Kyiv habe ich dasselbe.»
Perspektive
Wie lange die Musikerinnen hier bleiben werden, weiss niemand. Moths fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn sie über ihre Zukunftswünsche für die jungen Frauen redet: «Natürlich wünsche ich ihnen, dass sie so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Aber dass sie von ihrer Zeit hier auch profitieren, ist mir ein grosses Anliegen.» Eine Sprache zu lernen, sei immer eine Chance genauso wie der Austausch auf universitärer Ebene, der jetzt stattfinde. Gemeinsam mit ihren Institutskolleg:innen versucht die Musikwissenschaftlerin einzufädeln, dass die Studentinnen hier einen Abschluss machen können: «Mir ist es wichtig, ihnen zu sagen, dass sie hier eine Perspektive haben.»
Wir alle wissen: Das mit der Perspektive ist nicht einfach. Alles kann sich jederzeit ändern. Niemand weiss, was kommt. Eine der sieben Studentinnen, Anastasiia Bielitska, 24-jährig, ist vor zwei Wochen zurück in die Ukraine gefahren, um sich um ein Familienmitglied zu kümmern. Ob und wann sie zurückkommt, wissen die anderen nicht. Wer probt und wer an Konzerten auftritt, ist nie weit im vorausplanbar. Heute fehlt beispielsweise Maryna Hordiienko. Am Lauter Festival soll die 23-Jährige aber wieder dabei sein.
Nach ein paar Schlucken Tee und einer Vorstellungsrunde frage ich «Perly» nach ihrem Musikgenre. Die Frauen diskutieren auf Ukrainisch. Folk? Klassik? Pop? Sie einigen sich darauf, dass sie populäre ukrainische Lieder interpretieren. Ich kann mir nicht viel darunter vorstellen. Umso gespannter bin ich, als die Bandprobe beginnt.
Maryna Shylina sitzt ans Klavier. Anastasiia Dutka setzt ihre Geige zwischen Kinn und Schulter. Die anderen drei öffnen ihre Münder. Laut und stark ertönt ihr Gesang, schallt mehrstimmig durch den Raum. Die Kraft ihrer Stimmen ist nur für den Bruchteil einer Sekunde irritierend, dann wünsche ich mir schon, dass das Lied lange nicht aufhören wird. Dieses folkige Singen, das fast nach Schreien klingt, aber nichts Schrilles an sich hat, wild und zahm ist, Stärke und Schwäche zeigt, den Faden reissen lässt, um ihn im nächsten Moment wieder zu verknoten – dieses Singen wird am Lauter Festival wohl viele Menschen wehmütig und glücklich zugleich machen.