Pensionskasse plant im Kreis 12 Ersatzneubau mit Geldern kantonaler Angestellten
In Zürich Schwamendingen soll eine Siedlung mit sechs grossen Mehrfamilienhäusern abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Dafür verantwortlich ist die Pensionskasse BVK, die auch die Renten von Arbeitnehmenden des Kantons anlegt. «Asozial», finden die einen. «Legitim», sagen die anderen.
Die Bise kam überraschend. Rita zieht die Jacke zu, verschränkt ihre Arme vor der Brust, verzieht das Gesicht. Alles lasse sie sich nicht gefallen, sagt sie. Lieber erfolglos kämpfen, als ohne Kampf kapitulieren. Deshalb spricht sie mit Medien, wenn auch unter falschem Namen. Aus Angst, von künftigen Vermieter:innen abgelehnt zu werden, weil sie sich das eine Mal auflehnt. Wütend wirkt Rita nicht. Eher konsterniert. Als vergangenen Oktober die Kündigung kam, sei das noch anders gewesen. Weil man sie vor vollendete Tatsachen gestellt habe, sei sie richtig «verruckt» gewesen. Auf die Verwaltung, die Hauseigentümerin, das System und die Welt.
Warum die sechs grossen Mehrfamilienhäuser abgerissen werden, versteht Rita bis heute nicht. Mittlerweile hat sie aber akzeptiert, dass ihre Zeit nach 30 Jahren an der Winterthurerstrasse in Schwamendingen kurz vor ihrer Pensionierung ein Ende nehmen wird. Nur wann genau das sein wird, das wolle sie noch selbst entscheiden. «Was mit den Häusern geschieht, können wir nicht ändern. Aber wir können uns dagegen wehren, wie mit uns umgegangen wird.»
«Asozial ist das», ergänzt Lorenz. In seiner Hand hält er einen leeren Behälter für Grünabfall. Auch er will lieber nicht, dass die Öffentlichkeit weiss, wer er ist. Dass aber die Eigentümerin, die Pensionskasse BVK, seine Identität erfahren könnte, stört ihn nicht. Er sei stets ein guter Mieter gewesen – seit zehn Jahren wohnt Lorenz hier. So lange wie vorher nirgendwo sonst, betont er. Erst in den letzten Wochen habe er sich mit dem Gedanken anfreunden können, die Siedlung in Schwamendingen wie gefordert im kommenden September zu verlassen.
Teil 1: Die Mieterschaft
Noch nimmt das Leben seinen gewohnten Gang. Ein älteres Ehepaar fährt mit einem Auto vor, trägt in mehreren Etappen Einkäufe in die Wohnung. Auf der Wiese zwischen den Wohnblöcken rennt ein Hund umher. Eine Frau sitzt auf dem Balkon, zündet sich eine Zigarette an. Der Wind trägt wilde Rauchschwaden in die Luft, im Himmel schwanken die meterhohen Aussteckungen. Das Grundstück ist übersät mit ihnen. Wenige Wochen nach der Kündigung seien sie aufgestellt worden, sagt Rita. Sie geht davon aus, dass schon weit vor dem eingeschriebenen Brief klar war, dass ihr Zuhause abgerissen werden soll.
«Wir sind zu einer Ware geworden.»
Mieter der BVK-Siedlung in Schwamendingen
Gerüchte darüber habe es schon im Herbst 2022 gegeben. Doch die BVK wollte sich nicht in die Karten blicken lassen. Mittlerweile verrät die zuständige Beratungsfirma: Das Bauprojekt wurde schon vor drei Jahren ausgearbeitet.
Im Nachhinein hat es laut Rita schon viel früher Hinweise dazu gegeben, dass die Pensionskasse die Häuser nicht erhalten möchte. In den letzten zehn Jahren sei nur noch das Nötigste gemacht worden. Sie zeigt auf eine Aussenwand, wo an einer Stelle der Putz abgebröckelt ist.
Neben der baulichen Verwahrlosung habe auch die Mieterschaft verändert. «Als ich einzog, kannte man sich im Haus, man half einander. Heute regiert die Anonymität», sagt Lorenz. Seiner Meinung nach liegt das auch daran, dass die BVK sich nicht um ihre Mieterschaft kümmert, kein Interesse daran zeigt, für gegenseitiges Verständnis sowie Recht und Ordnung in der Siedlung zu sorgen: «Wir sind zu einer Ware geworden.» Dagegen kämpfen die beiden an. Zusammen mit einer weiteren Mieterin haben sie die Kündigung angefochten, sind Leidensgenoss:innen geworden. Ende Mai ist der Termin vor der Schlichtungsbehörde. Sie erzählen noch von anderen Bewohner:innen, die dasselbe vorhaben.
So unter anderem die Interessengemeinschaft Sozialpsychiatrie Zürich (IGSP). Der Verein vermittelt Wohnungen an Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen; darunter auch eine 8-Zimmer-Wohnung an der Winterthurerstrasse. Auf Anfrage bestätigt die Geschäftsführerin Lena Landert, dass juristisch gegen die Kündigung vorgegangen wird. Gleichzeitig hofft sie darauf, mit der BVK eine Lösung zu finden. Denn zum einen sei es als Verein mit begrenzten Finanzen grundsätzlich schwierig, neuen Wohnraum zu finden. Zum anderen hätten immer noch viele Verwaltungen Vorbehalte gegenüber Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, so Landert.
An jenem windigen Märztag geben sich auch Lorenz und Rita kompromissbereit. Beide wollen vor allem eines: Mehr Zeit, um die Chancen auf eine Wohnung im Kreis 12 zu erhöhen. Die Zelte in Schlieren, Regensdorf oder Winterthur aufzuschlagen, sei keine Option. Zumindest noch nicht.
Dass sie in der neuen Überbauung der BVK unterkommen könnten, scheint unwahrscheinlich – nicht nur, weil die Pensionskasse gemäss der Mieterschaft keinerlei Anstalten gemacht hat, ihnen eine Wohnung im Neubau anzubieten. Aktuell bezahlen sie 1000 respektive 1400 Franken pro Monat für ihre 2,5-Zimmer-Wohnungen. Das liegt laut der Mietpreisberechnung der Stadt ungefähr im Rahmen, die auch andere Mieter:innen bezahlen: Eine Wohnung mit zwei Zimmern im Bestand kostet monatlich um die 1100 Franken. Mietet man im Kreis 12 jedoch neu, muss man für dieselbe Grösse mittlerweile fast doppelt so viel bezahlen.
Teil 2: Die Eigentümerin
Auch der Ersatzneubau an der Winterthurerstrasse wird nach «marktüblichen Renditen» erstellt, wie es auf der Webseite der zuständigen Baufirma heisst. Geplant seien 200 bis 220 «qualitativ hochwertige» Mietwohnungen und Gewerbeflächen. Die Kosten: Zwischen 110 und 120 Millionen Franken. Das wirtschaftlichste Projekt, das am Wettbewerb teilgenommen habe.
Wie viele Menschen auf dem über 11’000 Quadratmeter grossen Grundstück einst Platz finden sollen, will die BVK nicht verraten. Auch auf kritische Fragen zum Projekt geht der Medienverantwortliche nicht ein. Weder führt er aus, warum sich die BVK in Schwamendingen gegen eine Sanierung oder Aufstockung entschieden hat, noch erklärt er den «baulichen Zustand», der im Kündigungsschreiben als Grund für den Abriss genannt wurde.
Anders als von der Mieterschaft vermutet, gehört die 1953 erbaute Liegenschaft schon seit 1955 der BVK. Doch weil sie im Jahr 2014 aus der kantonalen Verwaltung herausgelöst und in eine privatrechtliche Stiftung verselbständigt wurde, ist im Grundbuch eine Handänderung eingetragen. Gegründet wurde sie 1926 als Versicherungskasse für das Staatspersonal. Auch heute sind 40 Prozent aller Versicherten Angestellte des Kantons. Gesamthaft haben beinahe 100’000 Personen ihre Pensionskasse bei der BVK, über 40’000 mit Rentenanspruch. Damit ist sie die grösste Pensionskasse der Schweiz. Entsprechend hoch ist ihr Anlagevermögen: 39,2 Milliarden Franken.
Um die Renten zu sichern, investiert die BVK auch in Immobilien: Dem aktuellen Geschäftsbericht von 2022 zufolge gehören ihr schweizweit rund 330’000 Quadratmeter Büro- und Gewerbeflächen sowie 5380 Wohnungen. 1362 davon liegen im Kanton Zürich. Wie viel Rendite diese abwerfen, will man nicht verraten. Das Geschäft mit Wohnraum scheint sich aber zu lohnen: So liegt der monatliche Mietzins einer 2,5-Zimmer-Wohnung am Berninaplatz in Oerlikon bei 2130 Franken, jener für eine 70 Quadratmeter grosse Attikawohnung bei 2455 Franken. Letztere liegt in einer neu erstellten Überbauung in Brüttisellen.
Aktuell baut die BVK an der Möhrlistrasse im Kreis 6 zwei «hochwertige» Mehrfamilienhäuser. Der Bestand sei «marode» gewesen, heisst es auf der Webseite des Projekts. Auch an der Badenerstrasse 662 und 668 sollen zwei Häuser aus den 50er- und 80er-Jahren einem Ersatzneubau weichen. Die Gewerbeflächen werden gerade zwischenvermietet. Ob auch die Mieter:innen bereits ausziehen mussten, bleibt unklar.
«Das System zwingt die Pensionskassen dazu, sich unfair gegenüber ihren Mieter:innen zu verhalten.»
Michael Graff, Ökonom an der ETH
Für den Umgang mit ihnen ist die BVK in der Vergangenheit immer wieder negativ aufgefallen. Gegenüber dem Magazin «M+W» vom Mieterinnen- und Mieterverband erzählten bereits 2021 verschiedene Personen davon, wie die BVK intransparent kommuniziert, Kündigungen mit sechsmonatigen Auszugsfristen verschickt und Testbohrungen an Gebäuden durchführt habe, während die Mieterschaft nicht über die Pläne im Bild gewesen seien. Auch das ausweichende Verhalten des Medienverantwortlichen scheint kalkuliert – im «M+W» schreibt die Autorin davon, wie die BVK sich ihr gegenüber «maximal intransparent» verhalten habe.
Teil 3: Die Politik
Wäre die BVK als Pensionskasse kantonaler Arbeitnehmenden nicht dazu verpflichtet, sozialer und transparenter gegenüber ihrer Mieterschaft zu handeln? Nein, sagt der Ökonom Michael Graff von der ETH: «Das Problem ist, dass die Pensionskassen in erster Linie Rendite erzielen müssen, um ihren Versicherten die versprochenen Leistungen auszahlen zu können. Dazu sind sie gesetzlich verpflichtet.» Dafür legen sie die eingezahlten Vorsorgegelder an: in Aktien, Obligationen oder eben Immobilien. Letzteres ist seit der Finanzkrise 2008 und wegen der tiefen Zinsen immer beliebter geworden. Laut dem Bundesamt für Statistik legten Pensionskassen im Jahr 2021 durchschnittlich 17,5 Prozent ihres Vermögens in inländische Immobilien an. 2009 waren es noch 13,2 Prozent.
Graff spricht von einem «Dilemma», in dem sich Institute wie die BVK befinden würden: «Das System zwingt die Pensionskassen dazu, sich unfair gegenüber ihren Mieter:innen zu verhalten.» Solange die zweite Säule ihre Rolle im Vorsorgesystem beibehalten würde, müsse man deshalb andere Wege gehen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Zum Beispiel, indem man den Mieterschutz höher gewichten oder die AHV stärker ausbauen würde.
Für beides spricht sich der SP-Kantonsrat Tobias Langenegger aus. Er zieht die BVK in ihrer Rolle als kantonsnahe Pensionskasse zwar in der Verantwortung, korrekt mit ihren Mieter:innen umzugehen. Noch wichtiger sei aber, dass die Schweiz in Sachen Bodenpolitik den Schalter umlege: «Früher wurde das Geld in Immobilien lediglich angelegt, heutzutage möchte man mit ihnen eine maximale Rendite erzielen. Boden ist pures Gold geworden», so Langenegger. Davon würden nicht nur Vorsorgeinstitute, sondern jegliche Investor:innen profitieren. «Pensionskassen zahlen hohe Grundstückspreise mit, aber sie sind nicht die preistreibende Kraft – das sind vor allem die börsenkotierten Investor:innen.»
Dass darunter jedoch oft jene leiden, die nach ihrer Rente kaum Geld aus der 2. Säule erhalten, stört Langenegger. Während ihm zufolge die obersten 20 Prozent der Rentenbezüger:innen rund 40 Prozent der gesamten Rendite erhalten, müssten die verbleibenden 80 Prozent mit dem Rest auskommen. Er spricht dabei von einer «Umverteilung von unten nach oben».
Auch die Bewohner:innen der BVK-Siedlung in Schwamendingen finanzierten mit ihren Mieten die Renten Gutbetuchter mit. Ändern lässt sich diese Umverteilung auf kantonaler Ebene nicht, doch mit Vorlagen wie der Wohnschutz-Initiative oder der Vorkaufsrechts-Initiative kann man laut Langenegger zumindest die Folgen davon abfedern.
Pragmatischer sieht das Sonja Rueff-Frenkel von der FDP: «Die Mieter:innen zahlen einen Mietzins, weil sie eine Wohnung mieten. Das ist ein privatrechtlicher Vertrag – unabhängig von Pensionskassengeldern.» Dass ganze Siedlungen abgerissen werden, hat laut der Kantonsrätin vor allem damit zu tun, dass die Bauvorschriften immer strenger werden: «Ein Abriss ist leider oftmals ökologisch und ökonomisch sinnvoller.» Vorstösse wie die kürzlich lancierte Aufstockungs-Initiative würden dazu beitragen, dass mehr im Bestand verdichtet werde. Zwar verstehe sie, dass die gekündigten Mieter:innen es nicht einfach hätten, eine neue Wohnung zu finden, beim Bauprojekt der BVK an der Winterthurerstrasse entstehe durch den Neubau jedoch zusätzlicher Wohnraum: «Verdichtung und mehr Wohnraum sind politische Forderungen, denen ebenfalls nachgekommen werden muss.»
Sie könne den Ruf nach mehr Wohnungen nachvollziehen, sagt Rita: «Doch den Preis dafür zahlen aktuell Menschen wie wir.» Richtig bewusst sei ihr das erst geworden, als sie die Angebote auf dem Wohnungsmarkt gesehen habe. Optimistisch zu bleiben, fällt ihr schwer. Deshalb kämpft sie weiter.
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