Architektur-Kolumne: Auf Kreuzfahrt in Schwamendingen

Neu schreibt eine Gruppe junger Architekt:innen eine monatliche Tsüri-Kolumne. Sie wollen die bestehende Stadt weiterdenken und das innovativ und mit anderen als den gängigen Ideen. In ihrem ersten Beitrag berichten sie über ihre Kreuzfahrt in einer ehemaligen AMAG-Werkstätte in Schwamendingen, für die sie Sonnendeck, Kajüten, Casino, Maschinenraum und Landgänge einrichteten.

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Auf dem «Schiffsdeck». Bild ZAS*

Von ZAS*

Das Uber steht schon vor der Tür. Hut, Brille, Bücher nicht vergessen – und natürlich das Badekleid. Auch Sonnencreme wär gut, auf einer Kreuzfahrt muss man doch schliesslich auf alles vorbereitet sein. Der Abendverkehr stockt, wir bewegen uns langsam Richtung Stadtrand, da wo das Automeer beginnt. Wir halten vor einem Betonschiff, der Fahrer fragt mich ungläubig «Hier?» und zeigt auf all mein Gepäck, mustert dabei fragend meinen Sonnenhut. «Ich dachte, du wolltest in die Ferien?» Ich nicke und winke ihm zu, während ich meinen viel zu schweren Rollkoffer mühselig in Richtung Eingangstor ziehe, über dem in blauer Schrift die Worte ZAS LUEGISLAND angebracht wurden. Ich kenne diesen Ort nur allzu gut, doch heute ist er anders.

Über den Autolift gelange ich in den zweiten Stock, ein Ticketkontrolleur erwartet mich schon. Ausgestattet mit einer Warnweste kontrolliert er mein silbern glänzendes Ticket und übergibt mir danach ein Glas mit einem Getränk. Der Welcome Drink färbt meine Lippen blau und ich denke mir – wenn die Gäste der Titanic gewusst hätten, dass ihr Schiff sinken wird, wären sie sicher trotzdem zugestiegen. Ich bin bereit für diese Woche.

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Bild ZAS*

Ein letztes Gruppenfoto vor dem Ablegen. Die blauen Lippen meines Gegenübers verziehen sich zu einem Lächeln. Wir kennen uns, aber kennen wir uns? Wir, eine Gruppe junger Stadtmenschen, lösen uns von der Umgebung, die uns diese Woche begleitet, bis nur noch ein beständiges, leises Rauschen übrig bleibt. Ab jetzt sind wir hier, wir wollen nicht mehr hinaus.

Viele Jahre wurden hier Autos repariert, direkt neben dem nie endenden Fluss an Fahrzeugen. 64 Jahre akkumulierte Geschichten und Materialien. Verschiedene Erweiterungen: Kamine, Rampen, ein grosses Deck. Die einst so klare funktionalistische Architektur umgebaut und eingepackt, plötzlich ein riesiger Monolith. Langsam von der Stadt umschlungen, und nun einsam im Häusermeer der Vorstadt, ein Fremdkörper. Unser Kreuzfahrtschiff ist langsam gewachsen, brauchte die Zeit.

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Bild ZAS*

Der Wind bläst sanft durch die Tücher vor dem Fenster, ich schaue mit verschlafenen Augen auf die steifen, weissen Wellen im Hof und freue mich auf einen Tag auf dem Sonnendeck. Die Nachbarn beobachten uns misstrauisch von ihren Balkonen und sehnen sich insgeheim nach Ferien. Wir gleiten davon mit unserem Schiff, und nehmen sie nicht mehr wahr. In Liegestühlen dösen wir in der Sonne, träumen von noch weit entfernten Inseln. Die roten Kräne folgen uns wie Möwen, bewegen sich leicht im Wind.

Doch wir wissen, dass der Untergang kurz bevor steht. Der Kurs lässt sich nicht mehr ändern.

Wir sind Reisende, die sich selbst beherbergen. Sowohl Passagier:innen als auch deren Schiffscrew – die Kartoffeln schälen sich schliesslich nicht von selbst. Wir decken das Buffet und geniessen das Frühstück im grossen Speisesaal aus Beton. Wir schauen raus in die Weite der Stadt und sehen glitzernde Türme in der Ferne. In meinem Kopf hallt «Dance me to the end of love» von letzter Nacht nach oder von der Nacht davor, ich weiss es nicht mehr. Das ewige Rauschen des Automeeres dröhnt durch den Abend, während die Sonne langsam hinter dem grünen Horizont untergeht.

Der Eisberg ist nah, wie so oft in dieser Stadt. Die Jahre werden sich auflösen. Das Schiff sinken. Danach wird das Meer ruhig bleiben, gleichförmig und still. Wir sind zusammen auf einer letzten Reise und sammeln Erinnerungen.

Nach einer Woche trete ich nach draussen auf den Teer, welchen wir vor kurzem noch vom Deck betrachteten und uns Delfine darin ausmalten. Zuhause fühle ich mich, als wäre ich von einer langen Reise zurückgekehrt. Ich betrachte die vertraute Umgebung mit frischem Blick und entdecke versteckte Schätze. Die Zeit auf dem Schiff hat meine Perspektive verändert. Wir waren da, wo wir immer sind und konnten mehr sehen als je zuvor. Auch in der Stadt wirkt alles leicht verschoben, alles etwas fremd. Fasziniert von der Wandelbarkeit der Dinge, spaziere ich durch die Strassen und entdecke kleine Segelboote und grosse Tanker, unbekannte Inseln und geheimnisvolle Tempel. Ich werde weiterreisen durch Zürich.

Die letzte Juliwoche verbrachte die Gruppe der ZAS* in den Räumen der ehemaligen AMAG-Werkstätte in Schwamendingen, wo heute grösstenteils Ateliers untergebracht sind. Sie richteten sich Sonnendeck, Kajüten, Casino, Maschinenraum, Frühstücksbüffet, Schiffshorn, und Karaokebar ein, organisierten Landgänge, Galadiner und Tombola. Im nächsten Jahr wird das Kreuzfahrtschiff im Zuge der Entwicklungen entlang der Autobahn-Einhausung versenkt, und durch neue Wohnungsbauten ersetzt.

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Bild: Elio Donauer

<div style="background-color:#3dafe8;color:white;font-weight:bold;padding:10px"> ZAS*</div> <div style="font-size:18px;padding:10px;background-color:#dddddd"> ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected] </div>

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