Altstetten will einfach nicht hip werden

Das grösste Quartier Zürichs verändert sich rasant. Doch trotz Boom und Bevölkerungswachstum ist Altstetten kein Trendquartier. Hoffentlich bleibt dies so. Ein Kommentar.

Das Einkaufszentrum Letzipark ist eines der Wahrzeichen von Altstetten. (Bild: Tsüri.ch / Isabel Brun)

Ich wollte nie in Altstetten leben, jetzt bin ich seit drei Jahren hier und will nicht mehr weg. Altstetten hat keinen malerischen Dorfkern, keine aufregenden Bars, nicht viel Kultur und auch sonst keine Anziehung für Menschen, die nicht hier wohnen. 

Trotzdem ist es eines der wichtigsten Quartiere der Stadt Zürich. Vor knapp hundert Jahren war Altstetten eines der bevölkerungsärmsten Quartiere, inzwischen leben mit über 36’000 Personen nirgends mehr als hier. Fast jeder zehnte Arbeitsplatz der Stadt Zürich befindet sich im Quartier.

Altstetten boomt, ein Trendquartier ist es trotzdem nie geworden. Seit ich vor rund 15 Jahren in die Stadt gezogen bin, heisst es immer wieder, «Altstetten kommt, bald wird es cool». Doch das Quartier mit dem leicht überdurchschnittlichen Ausländer:innenanteil, dem leicht unterdurchschnittlichen Einkommensschnitt und Bildungsstand und dem leicht überdurchschnittlichen Alter will einfach nicht hip werden.

Es scheint, als werde am Rand der Stadt Zürich ein Schritt der Gentrifizierung übersprungen. Es fehlen die lauschigen Plätze, die schönen Altbauwohnungen. Stattdessen gab es noch einige grössere Areale, auf denen bis vor kurzem noch industriell gearbeitet wurde. Zu den bekanntesten gehörten das Koch- und das Labitzke-Areal, beide waren zwischenzeitlich besetzt, auf dem einen befindet sich derzeit eine grosse Baustelle, auf dem anderen haust eine neue Überbauung.  Nicht nur umgenutzte Industrieareale locken gut Verdienende an. Direkt neben dem Letzipark zeigt sich eine andere für Altstetten (und Schwamendingen) typische Dynamik: Ganze Siedlungen mit günstigen Wohnungen werden abgerissen, die Neubauten werden für ein Vielfaches wieder vermietet. In diesem Beispiel von Altstetten verlieren so 735 Menschen ihr Zuhause.

Mehrere solche Areale wurden direkt vom Industrie- zum Wohnareal umgenutzt, hohe und meist teure Wohntürme säumen den Bereich den Gleisen entlang. Wer neu hierher zieht, hat ein dickes Portemonnaie. 

Altstetten macht eine rasante Entwicklung durch. Das Quartier war noch ein anderes, als ich vor drei Jahren hierhergezogen bin: Heute hat es mehr Yogastudios, mehr Hochhäuser, mehr Filialen von Gastroketten. Der Barmann am Lindenplatz wusste noch nicht, was ein «Negroni Spagliato» ist. Der Umbau geschieht schnell und grossflächig, es ist entweder top modern oder alteingesessen. 

Die spannenden Zwischenräume sind kaum möglich. Nichts liegt brach, wo vorübergehend ein unkommerzieller Kulturort entstehen könnte. Noch intakte Industriehallen werden nicht einfach Kreativschaffenden überlassen, sondern sofort für rentable urbane Produktion genutzt. Alles geschieht nach Plan. 

Altstetten im Fokus

Wir nehmen dich mit zu den spannendsten Orten in Altstetten. In den nächsten Tagen publizieren wir hier auf Tsüri.ch Recherchen, Reportagen und Porträts. Willst du mehr wissen? Dann komme mit auf die Velo-Tour durch Altstetten zum Thema Stadtentwicklung und Wohnungsnot! Hier kannst du dich anmelden.

Von aussen ist Altstetten nicht spannend, einfach das grösste Wohnquartier der Stadt, mit vielen grauen Siedlungen. Doch wer hier Zeit verbringt, lernt den dörflichen Charme schnell kennen. Durchmischung ist hier nicht nur ein Fachbegriff aus der Sozialarbeit, sondern Realität. Wer auf dem Lindenplatz einen Apéro trinkt, merkt schnell, dass Zürich mehr kann als Matcha Latte und Asics Joggingschuhe.

Das Dorfleben ist intakt, verschiedene Communitys kommen bestens miteinander aus, der Markt ist stets gut besucht. Abseits der piekfeinen und neuen Überbauungen ist es diese Prise Sozialromantik, weshalb ich es liebe, in Altstetten zu wohnen. 

Doch dieser Charakter ist in Gefahr. Mit jeder Siedlung, die abgerissen und teuer überbaut wird, verschwindet günstiger Wohnraum, günstiger Gewerberaum und damit ein Teil des Dorflebens. Das Quartier wird neu gebaut, aber nicht für jene, die jetzt dort leben. Cool ist das Quartier noch immer nicht geworden – und ich hoffe, dass dies noch eine Weile so bleibt.

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