Altstetten Nord: Dazwischen als Dauerzustand

In einem schmalen Streifen Altstetten nördlich des Bahnhofs war früher die Industrie zu Hause, heute schiessen grossflächige Neubauprojekte aus dem Boden. Auf den letzten verbliebenen Brachflächen finden sich Nutzungen wie die Containersiedlung Basislager, die in zentraleren Lagen der Stadt keinen Platz mehr finden.

Flavia Sutter, Adrian Humbel, Basislager
Flavia Sutter und Adrian Humbel vor der «Briefkatsenbar» des Basislagers. (Bild: Steffen Kolberg)

«Ich mache einen Schritt in dieses Areal und schnaufe durch», sagt Flavia Sutter. Sie steht vor der «Briefkatsenbar» am Eingang des Basislagers. Der umgebaute Schiffscontainer beherbergt die Briefkästen der Mieter:innen auf diesem Areal und kann von ihnen ausserdem als Bar und Veranstaltungsort genutzt werden. Eine grosse, beleuchtbare Katzenskulptur schaut von seinem Dach herab. 

Gehe man nach den gesetzlichen Standards, habe man hier wohl die schlimmste Lärmbelästigung, die man sich vorstellen könne, meint Sutter. Gleich hinter dem Zaun donnern Lastwagen über die Aargauerstrasse, das 4er-Tram fährt Richtung Stadtzentrum, auf gut zwei Dutzend Gleisen werden Züge von den SBB rangiert und gewartet. Wenige hundert Meter in die andere Richtung, an der Rückseite des Basislagers, durchschneidet der Autobahnzubringer das schon durch die Gleise durchschnittene Quartier Altstetten ein zweites Mal. Doch auf dieser Seite des Zauns ist es grün, Buschwerk und Wäldchen lassen kaum etwas von dem Lärm, den Sutter erwähnt hat, auf das Areal dringen.

«Wir haben hier nicht so viel Stress, obwohl wir privatwirtschaftlich arbeiten.»

Flavia Sutter, Architektin und Mieterin im Basislager

Das Basislager ist eine Containersiedlung für Kleinbetriebe, Kunst- und Kulturschaffende. Sie entstand ursprünglich 2009 auf dem Binz-Areal und zog drei Jahre später nach Altstetten. Flavia Sutter ist hier als Architektin eingemietet. Ihr Büro befindet sich in einem der aufeinandergestapelten Container und ist nur über eine Aussentreppe erreichbar, die an ein Baustellengerüst erinnert. Es ist mit Strom und Internet versorgt, Wasser und Toiletten gibt es in separaten Containern.

Holzschlag zwischen Containern

Bei einem Gang über das Gelände berichtet Sutter begeistert von den gemeinschaftlichen Arbeiten, die auf diesem Areal verrichtet werden: Vom Holz, das man nach dem letzten Sturm in den kleinen Wäldern geschlagen habe, vom selbstorganisierten und -gekochten Mittagstisch, der einmal die Woche stattfinde, von den Waldreben, die hier ranken und deren Stiele sich gut für den Modellbau eigneten.

Adrian Humbel, Flavia Sutter, Basislager
Adrian Humbel und Flavia Sutter vor der Stein- und Metallbauwerkstatt Humbels. (Bild: Steffen Kolberg)

«Wir haben hier nicht so viel Stress, obwohl wir privatwirtschaftlich arbeiten», sagt Sutter. Das werde von Besucher:innen sehr geschätzt. «Sie kommen hierher und sehen: So geht es auch. Das ist sehr inspirierend.» Trotz der überwiegend gewerblichen Nutzung verstehe man sich als Freiraum, so Sutter, es gebe beispielsweise keinen Konsumzwang auf dem Gelände.

Basislager, AOZ-Siedlung, Wagenplatz, Datacenter Swisscom
Blick von den Basislager-Containern über AOZ-Siedlung und Wagenplatz zum Datacenter der Swisscom. (Bild: Steffen Kolberg)

Von einem der Container bietet sich ein Blick über die direkte Nachbarschaft: Der Strichplatz Depotweg umschlingt zwei Seiten des Geländes, er öffnet abends, wenn die meisten Betriebe im Basislager schliessen. Auf der Ostseite ragt das Datacenter der Swisscom in den Himmel, dazwischen drängt sich in einer Ecke ein Wagenplatz, in der anderen steht der Gastwirtschaftsbetrieb «Zum Transit» sowie die Container einer Siedlung der Asylorganisation Zürich (AOZ).

«Für die habe ich den Spielplatz gebaut», erzählt Adrian Humbel. Auch er ist Mieter im Basislager und betreibt eine Werkstatt für Metall- und Steinbearbeitung. Die meisten Aussenbauten auf dem Gelände stammen von ihm, auch die übergrosse Katze auf dem Briefkastencontainer. Wenn er im Sommer die Riesenschaukel aufbaue, sei diese ein Magnet für die Kinder aus der AOZ-Siedlung, erzählt Flavia Sutter.

Fogo, Durchgangsplatz, Altstetten Nord
Blick über den Durchgangsplatz für Fahrende auf die Containersiedlung Fogo. (Bild: Steffen Kolberg)

Das zweitklassige Altstetten

Der schmale Streifen Altstetten zwischen Gleisanlagen und Autobahnzubringer ist ein Ort des Dazwischen. «Ein zweitklassiges Altstetten», nennt es Humbel. Wo früher Firmen der Automobil- und Chemieindustrie ihren Sitz hatten, sehen heute die letzten grossen Brachflächen der Stadt ihrem absehbaren Ende entgegen. Nutzungen wie der Strichplatz, der Wagenplatz und die AOZ-Container, die in zentraleren Lagen der Stadt zunehmend keinen Platz mehr finden, sind hier im zwischenzeitlichen Zuhause.

Etwas weiter westlich steht mit dem Fogo eine weitere Containersiedlung auf einer Brachfläche. Auch hier sind Wohnungen für Geflüchtete und kleine Kunst- und Handwerksbetriebe untergebracht, das Konzept integriert beides zusammen mit Wohnungen des Jugendwohnnetzes Juwo für junge Menschen in Ausbildung. Direkt neben den Fogo-Containern befindet sich der Durchgangsplatz für fahrende Jenische und Sinti, ein schmuckloser Kiesplatz, auf dem Autos und Wohnwagen parkieren.

Bahnhof Altstetten 1979
Der Blick über Altstetten 1979: Wo früher noch Kleingärten waren (hinter der Europabrücke), sind heute Dutzende Rangiergleise. Das grosse Gebäude vorne links soll dem UBS-Hochhaus weichen. (Bild: Jules Vogt / ETH Bildarchiv)

Einige Schritte weiter westlich verändert sich das Szenario: Moderne Gebäudefassaden – oder zumindest das, was in den letzten 60 Jahren jeweils für modern gehalten wurde – starren sich von gegenüberliegenden Strassenseiten an. Dazwischen rauscht der Durchgangsverkehr. Bis vor wenigen Jahren befand sich auch hier eine AOZ-Siedlung, auf dem Juch-Areal ganz am Stadtrand. Sie musste der Baustelle für die Swiss Life Arena weichen.

Inzwischen steht das Prestige-Bauwerk – und reiht sich mit seiner geschwungenen Betonfassade ein in die ambitionierten Neubauprojekte, die hier in den letzten 15 Jahren in die Höhe schossen. In der Nachbarschaft ragen die drei schwarzen Vulcano-Hochhäuser in die Höhe, die UBS will demnächst eines der höchsten Bürohochhäuser Zürichs errichten und trifft dabei auf politischen Widerstand.

Basislager, Altstetten
Grün bewucherte Fassaden im Basislager... (Bild: Steffen Kolberg)

Ein Lebensmittelpunkt ohne Leben

Zurück beim Nordausgang des Bahnhofs und der Endhaltestelle des Tram West, das seit 2011 die Pfingstweidstrasse mit dem Rest der Stadt verbindet, haben die SBB den Westlink gebaut. Das Gebäudeensemble, das neben Gewerbe- und Büroräumen laut Stadt Zürich immerhin einen Wohnanteil von 28 Prozent aufweisen soll, wird den Besucher:innen auf der Projekt-Website als «Ihr neuer Lebensmittelpunkt» verkauft. Der Vulkanplatz inmitten der Tram-Wendeschleife wird als «ungewohntes, zeitgemässes Naherholungsgebiet» beschrieben, welches das Quartierleben zusammenhalte.

Altstetten Nord
...und glatte Oberflächen an den Büro- und Gewerbehäusern weiter westlich. (Bild: Steffen Kolberg)

Doch von einem Quartierleben ist auf dieser Seite des Bahnhofs wenig zu spüren. Die meisten zwischenmenschlichen Interaktionen verstecken sich in diesem Quartier hinter Glas-, Metall- und Betonfassaden. 

Swiss Life Arena, Altstetten Nord
Die Swiss Life Arena reiht sich ein in eine ganze Reihe von Neubauprojekten auf dieser Seite des Bahnhofs Altstetten. (Bild: Steffen Kolberg)

Jugendliche verlassen den abgeschnittenen Altstetter Streifen durch die Autobahnunterführung Richtung Siedlung Grünau, um auf den Grünflächen und Sportanlagen auf der anderen Seite Fussball zu spielen. Lebendig wird es hier nur im Berufsverkehr, wenn die Menschenmassen morgens vom Bahnhof in die Bürogebäude strömen und abends wieder zurückkehren, wo sie auf dem Weg nach Hause ihre Einkäufe im Bahnhofs-Coop erledigen. Nach 20 Uhr begegnen sich hier nur noch diejenigen, die auf den nächsten Bus in die Agglomeration warten.

Altstetten Nord
Hier lässt sich gut studieren, was früher einmal modern war... (Bild: Steffen Kolberg)

Seit die Westlink-Gebäude fertig seien, treffe man immerhin ab und an auf Quartierbewohner:innen in der Nachbarschaft, erzählt Flavia Sutter, zurück auf dem Gelände des Basislagers. Doch ein Austausch bestehe vor allem mit Studierenden der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), deren Standort im Toni-Areal gut einen Kilometer entfernt stadteinwärts liegt. Manchmal kämen auch Architekturstudierende aus dem Ausland, um das Basislager zu besuchen.

Altstetten Nord
...und was es heute ist. (Bild: Steffen Kolberg)

Ob man sich als Teil von Altstetten sehe? Flavia Sutter tendiert zu einem Nein. «Was macht, dass man dazugehört?», fragt sie. Das fange schon beim Fussverkehr an. Ins Basislager verlaufen sich Quartierbewohner:innen nicht und auch umgekehrt: «Von hier geht man nie schnell mal irgendwo hin.»

Altstetten im Fokus

Wir nehmen dich mit zu den spannendsten Orten in Altstetten. In den nächsten Tagen publizieren wir hier auf Tsüri.ch Recherchen, Reportagen und Porträts. Willst du mehr wissen? Dann komme mit auf die Velo-Tour durch Altstetten zum Thema Stadtentwicklung und Wohnungsnot! Hier kannst du dich anmelden.

Adrian Humbel dagegen tendiert zu einem Ja. Doch die Zugehörigkeit zum Quartier sei mit Mitsprache verknüpft. «Handwerks- und Kleinbetriebe machen das Quartier lebenswert und lebendig», sagt er. «Lebensqualität kommt durch eine gemischte Nutzung. Und nicht durch Banken und Hochhäuser, die nachts tot sind, weil niemand dort wohnt.» Für die Mieter:innen des Basislagers sei es deshalb wichtig, sich bei der weiteren Entwicklung des Quartiers einzubringen und mitzureden.

Vulkanplatz, Altstetten Nord
Ein «zeitgemässes Naherholungsgebiet»? Der Vulkanplatz auf der Nordseite des Bahnhofs Altstetten. (Bild: Steffen Kolberg)

Dabei gehe es auch darum, das eigene Areal so lange wie möglich zu erhalten, sagen Humbel und Sutter. Dafür setzen sich die beiden ein und stehen im Kontakt mit Vertreter:innen aus Politik und Verwaltung. Aktuell wird der Vertrag des Basislagers alle fünf Jahre verlängert, die nächste Deadline ist das Jahr 2027.

Während das Fogo laut Verkehrsrichtplan in den 2030er-Jahren einem Reisebus-Terminal weichen soll, ist auf dem Areal des Basislagers in der nächsten Dekade ein Tramdepot vorgesehen. Flavia Sutter findet nicht, dass dieses dann das Ende des Basislagers bedeuten müsse: «Man hat uns gesagt, die einzige Anforderung sei, dass die Trams im Erdgeschoss sind. Doch das wäre ja grundsätzlich mit anderen Nutzungen darüber kompatibel. Dann müsste man halt alles wieder ein bisschen neu machen, aber das schadet vielleicht auch nicht.»

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