Abhängig vom Wirtschaftswachstum – Degrowth löst das Dilemma

Wirtschaftswachstum gleich Wohlstand und Stabilität. Aber was, wenn die Wirtschaft nicht mehr genügend wächst? Mit diesem Dilemma sehen wir uns zunehmend konfrontiert. Laut unserer Gastautorin zeigt Degrowth den Ausweg.

Die Degrowth-Bewegung durchleuchtet das Wachstum und die Abhängigkeiten davon als Ausgangspunkt und macht Vorschläge für politische Massnahmen. (Bild: Emily Park / Unsplash)
Die Degrowth-Bewegung durchleuchtet das Wachstum und die Abhängigkeiten davon als Ausgangspunkt. (Bild: Emily Park / Unsplash)

Unsere Gesellschaft ist vom Wirtschaftswachstum abhängig. Denn Wachstum bedeutet mehr Produktion, mehr Einkommen, mehr Konsum, mehr Arbeitsplätze, kurz: Wohlstand und Stabilität. Ökonom:innen messen das Wirtschaftswachstum mit den Veränderungen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von einem Jahr zum nächsten.

Das BIP drückt den Wert der Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres von einem Land produziert werden, aus. Trotz dieser Abhängigkeit sind sinkende Wachstumsraten in westlichen Ländern eine Realität.

Wirtschaftswachstum, ein Teufelskreis

Der Treiber von Wirtschaftswachstum ist der technologische Fortschritt. Er führt dazu, dass Produkte immer effizienter hergestellt werden. Dadurch sinken Produktionskosten und Preise – die Nachfrage steigt und die Wirtschaft floriert.

Wichtig dabei: Es werden weniger Ressourcen und weniger Arbeitskräfte gebraucht, um die gleiche Menge an Gütern und Dienstleistungen zu produzieren. Das heisst, es gibt weniger Arbeitsplätze. Das ist zum Beispiel in der Automobilindustrie durch die Automatisierung geschehen.

Solange die Wirtschaft schnell genug wächst, können die Arbeitsplätze erhalten oder neue in anderen Sektoren geschaffen werden. Aber Achtung – wenn das Wachstum einbricht, gehen Arbeitsplätze aufgrund der Effizienzsteigerungen verloren. So sinken die Umsätze der Unternehmen und die Kaufkraft.

Die Nachfrage sinkt, weil sich die Menschen weniger leisten können. Investor:innen investieren weniger in Unternehmen, weil die Erwartungen ausbleiben, dass Konsument:innen mehr kaufen.

Es wird weniger produziert. Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Wirtschaft verfängt sich in einer Negativspirale. Rezession. Krise. Die einzige Lösung: Wachstum. Um mehr zu konsumieren. Um mehr zu produzieren. Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.

Wachstum nimmt stetig ab

Unter den heutigen wirtschaftlichen Bedingungen könnte die Gesellschaft also Wohlstand und Stabilität bewahren, indem sie das Wachstum aufrechterhält. Doch davon ist sie weit entfernt, wie die Daten der Weltbank zeigen: Seit den 1960er sinkt der Trend des Wirtschaftswachstums in westlichen Ländern, wie Italien, Frankreich, Deutschland oder der Schweiz.

Zu Beginn der 1960er Jahre betrug das BIP-Wachstum pro Kopf in unseren Nachbarländern noch zwischen 3,5 und 7,5 Prozent und in der Schweiz 6 Prozent.

Im Jahr 2023 verzeichneten Deutschland, Frankreich und Italien zwischen 0,35 und 0,73 Prozent Wachstum pro Kopf und die Schweiz sogar ein negatives Wachstum von minus 0,54 Prozent.

Dazu kommt, dass die Wachstumsraten volatil sind und keinem linear sinkenden Pfad entsprechen. Es besteht also die grosse Wahrscheinlichkeit, dass das Wachstum in den nächsten Jahrzehnten immer weiter sinken wird, bis es schlussendlich kein Wachstum mehr geben wird.

Die Gründe für den Wachstumsrückgang sind vielfältig, um hier nur einige davon zu nennen: nachlassende Effizienz durch den technologischen Fortschritt, sinkende Fertilitätsraten oder hohe Rohstoffpreise – wie zum Beispiel aufgrund der zwei Ölkrisen in den 1970er Jahren. 

Mit den sinkenden Wachstumsraten ist es in Kombination mit der Ideologie des freien Marktes zu steigender Ungleichheit gekommen. Die Folgen davon sehen wir heute: Menschen fühlen sich zurückgelassen, der Rechtspopulismus ist auf dem Vormarsch und die Demokratie bedroht.

Unabhängig werden dank Degrowth

Es führt kein Weg daran vorbei, uns bei sinkendem Wachstum aus der Wachstumsabhängigkeit zu befreien. Aber wie? Die Degrowth-Bewegung durchleuchtet das Wachstum und die Abhängigkeiten davon als Ausgangspunkt und macht Vorschläge für politische Massnahmen. Dabei gilt als Ziel das gesteigerte Wohlbefinden der Menschen ohne die Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Als Grundpfeiler dienen Demokratie, Gerechtigkeit und Genügsamkeit. Gleichzeitig geht der aktivistische Arm mit gutem Beispiel voran und zeigt in der Praxis, wie es geht: von suffizientem Wohnen, zu Sharing-Plattformen bis zur solidarischen Landwirtschaft. 

So gibt es vielfältige Möglichkeiten, wie und wo wir uns engagieren können. Wo auch immer wir als Individuen unsere Vorlieben und Stärken sehen, Degrowth hat Platz für alle. 

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Kommentare

Franz
07. März 2025 um 18:15

weiteres Problem: Deindustrialisierung

Die Auslagerung der Produktion westlicher Konzerne seit den 1990ern hauptsächlich nach China hat zu tieferen Produktionskosten für die Konzerne und Aktionäre geführt, die Preise der Produkte wieder in den Westen zum Verkauf zurücktransportiert sind dabei gestiegen für den westlichen Konsumenten (siehe etwa iPhone als Beispiel) bei nicht gesteigerter Kaufkraft und Löhnen. Das ist/war das neoliberale globalistische Programm. Durch diese Auslagerung sind die Profite der Konzerne und Aktionäre beinahe ins Unendliche gestiegen (etwa im Vergleich wenn man die Produktion hier behalten hätte und sie nicht ausgelagert hätte). Diese Profit-Differenz, die den westlichen Gesellschaften gestohlen worden ist, müsste über den Staat von den Konzernen und Aktionären wieder durch massive Besteuerung zurückgeholt werden und in die Re-Industrialisierung und weitere Bereiche gesamtgesellschatlich zurückinvestiert werden. Kein Politiker mit Ausnahm der Linken wird das machen. + Steuerwettbewerb ausschalten

Jean
07. März 2025 um 19:54

Polemisch gesagt - Degrowth scheitert daran dass damit scheinbar keine Mehrheit zu gewinnen ist. Menschen sind eher von einer kurzfristigen Perspektive und Gruppendynamik beeinflusst als theoretisch langfristig bessere Lösungen zu verfolgen die kurzfristige Einbußen an Sicherheit und oder „Wohlstand“ haben. Abgesehen davon sind schon ähnliche Utopien egal ob von liberaler oder sozialistischer Seite am menschlichen Wesen gescheitert. Als Debattenbeitrag interessant, als demokratische Option unwahrscheinlich.