Feuchter Januar: «Wir erzwingen Sex nicht, aber wer Lust hat, darf Sex haben» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Michael Schallschmidt

Praktikant Redaktion

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20. Januar 2022 um 22:00

Aktualisiert 20.01.2022

Feuchter Januar: «Wir erzwingen Sex nicht, aber wer Lust hat, darf Sex haben»

Michaela Fuchs und Sidonia Guyer praktizieren BDSM und brechen mit klassischen Beziehungsformen. Mit «Zwischenwelten» gründeten sie einen Raum, in dem Teilnehmer:innen ihre Körper und Bedürfnisse neu erforschen können. Im Gespräch erzählen sie, woher ihre Motivation dafür kommt und wie sexuelle Begegnungsräume funktionieren.

Michaela Fuchs (stehend) und Sidonia Guyer gründeten 2015 Zwischenwelten (Foto: Ariane Pochon)

«Ich war einfach jung und spitz und das Internet kam auf», erinnert sich Michaela Fuchs an die Zeit zurück, als sie BDSM für sich entdeckte. Es war zu Beginn der 2000er-Jahre und sie entwickelte schnell das Bedürfnis, andere Menschen mit denselben Vorlieben kennenzulernen, sagt die 41-Jährige.

«Ich wurde durch eine Bekanntschaft auf BDSM aufmerksam», erzählt Sidonia Guyer. Das war vor über zehn Jahren und zu Beginn so etwas wie eine «Identität weckende Erfahrung», erinnert sie sich: «Ich wollte mehr darüber wissen und bin so in die Community gelangt.»

«Es kann sowohl zärtlich als auch grob sein.»

Aus den Lautsprechern knistert es kurz, Geräusche von Wind sind zu hören. Die beiden nehmen aufgrund der pandemischen Lage per Videochat am Gespräch teil, Michaela ganz in Schwarz gekleidet von ihrer Wohnung aus und Sidonia von Unterwegs mit Schal und gelber Strickmütze. Um sie herum zieht kalter Januarwind, das Smartphone in ihrer Hand wackelt.

Das Akronym BDSM steht für Bondage and Discipline (BD), Dominace and Submission (DS), sowie Sado- Masochismus (SM): «Wir verwenden das als Schirmbegriff für experimentelle Spiele im Sexualleben», erklären die beiden. Wer sich mit BDSM auseinandersetze, würde schnell merken, dass es sich vor allem zu Beginn um eine sehr sanfte Herangehensweise handle, sagt Michaela: «Es kann sowohl zärtlich als auch grob sein.»

​​Es kann sich auf einer mentalen Ebene abspielen, aber auch Spuren auf dem Körper hinterlassen.

Sidonia Guyer

Da sich alle Handlungen in einem Rahmen von Konsens – das bedeutet alle Beteiligten stimmen allem zu, was beim Sex passiert – abspielen, können Berührungen und Interaktionen auch intensiv sein, ergänzt Sidonia: «Das unterscheidet sich jedoch bei allen etwas. Es kann sich auf einer mentalen Ebene abspielen, aber auch Spuren auf dem Körper hinterlassen.»

Sexualität auf allen Ebenen erforschen

Ihre Vorliebe für BDSM ist jedoch nicht das Einzige, was Michaela und Sidonia verbindet. Sie sind darüber hinaus die Gründer:innen von «Zwischenwelten». Einem Raum, in dem Menschen unter anderem ihre Sexualität und ihre Körper erforschen, sowie verschiedene Beziehungsformen kennenlernen können.

Dafür veranstalten Michaela und Sidonia in Zusammenarbeit mit anderen Lehrer:innen und Dozent:innen Kurse, Workshops und Events zu diesen Themen. «Wir gewährleisten ein breites Angebot, damit die Teilnehmer:innen ihre Sexualität auf möglichst vielen Ebenen kennenlernen können», erklärt Michaela.

Bei allen Veranstaltungen spielt Sex-Positivität eine wichtige Rolle. Dies bedeutet, eine Person inklusive ihrer sexuellen Bedürfnisse und Wünsche als ganzheitlich anzusehen und diese nicht zu stigmatisieren. Auch Veranstaltungen mit Schwerpunkt auf Beziehungsformen oder Konsens gehören zum Angebot: «Das kann sich auch in Form eines Vortrages oder Forums abspielen, wo es nicht zu Berührungen oder sexuellen Handlungen kommt», ergänzt Sidonia.

Den eigenen Impulsen folgen

Bei allen Events stehen Konsens und Sicherheit an oberster Stelle, betonen Sidonia und Michaela. Das betreffe auch die «Lesbische Orgie», die Sidonia zusammen mit einer externen Kursleiter:in veranstaltet. «Wir haben bewusst einen überspitzen und provokativen Titel für dieses Event gewählt», erklärt Sidonia und schiebt ihre Brille zurecht.

Der zwölfstündige Kurs beinhaltet verschiedene Gruppenübungen und gewährleistet ein Spielfeld, in dem die Teilnehmer:innen miteinander interagieren dürfen, sofern sie es möchten: «Die Menschen können ihren eigenen Impulsen folgen und damit Selbstzensur und Wertungen ablegen», fasst Sidonia zusammen und Michaela nickt zustimmend. «Bei sich selbst bleiben und sich auch trauen, Grenzen zu setzen. Die Zeit vergeht dabei wie im Flug», findet Sidonia und lacht.

Die Hemmschwelle kann gross sein

Auch beim «Queernest», einem Begegnungsexperiment für Menschen aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen, gehe es darum, Berührungsängste abzubauen und zu experimentieren: «Die Hemmschwelle für Menschen, die noch nie an einem solchen Workshop teilgenommen haben, kann gross sein», sagt Michaela und fährt mit ihren Fingern über ihre zusammengebundenen Haare: «Vor allem dann, wenn sie sich noch nicht intensiv mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben.»

Die Menschen können sich sicher in ihre eigenen Körper hineinfühlen, was für viele sehr entspannend ist

Michaela Fuchs

Aus diesem Grund seien die Kurse so konzipiert, dass die Teilnehmer:innen und Leiter:innen stets achtsam und sanft aufeinander eingehen. Wem etwas zu weit geht oder sich nicht wohlfühlt, kann mit dem Safeword «Mayday» darauf aufmerksam machen.

«Die Menschen können sich auf diese Weise sicher in ihre eigenen Körper hineinfühlen, was für viele sehr entspannend ist», erklärt Michaela. Die Hemmschwelle löse sich dabei sehr schnell. Verpflichtungen gebe es keine. Wer möchte, darf Berührungen und sexuelle Handlungen austauschen, sofern das Gegenüber sich einverstanden erklärt. ​​«Am Ende fühlt es sich nicht heftig an, auch wenn es intensiv sein kann», berichtet Sidonia.

Wer Lust hat, darf Sex haben

Michaela und Sidonia haben Zwischenwelten 2015 auf den Grundlagen der Sex-Positivität gegründet: «Für uns bedeutet das, den Menschen ganzheitlich anzusehen und jede Form von Sexualität willkommen zu heissen».

Auch eine Absenz von sexueller Lust sei erwünscht, das gehöre zu Sex-Positivität dazu: «Wir erzwingen Sex nicht, aber wer Lust darauf hat, darf Sex haben». Sei es sexueller Ausdruck mit dir selbst, als Paar, in der Gruppe, sei es mit unkonventionellen Sexpraktiken oder nicht: «Alles ist akzeptiert», fasst Sidonia zusammen, während der Winterwind ihre Haare verweht.

Um bei Zwischenwelten mitzuwirken, reisen die Teilnehmer:innen wie auch externe Kursleiter:innen aus ganz Europa, manchmal sogar aus der ganzen Welt, nach Zürich. Die Community, welche die beiden erschaffen haben, ist in Zürich einzigartig: «Doch es gab viele Menschen vor uns, die uns den Weg geebnet haben.»

Begonnen in den 60er-Jahren mit Bewegungen und Communitys, die sich für sexuelle Befreiung einsetzten: «Ohne diesen Einsatz könnten wir heute nicht einfach durch Zürich rennen und unser Angebot im grossen Stil propagieren.»

Neben der BDSM- und der Queer-Community sei es auch die Sex-Positivity-Community, welche den beiden in der Vergangenheit halfen, sich ein umfangreiches Wissen anzueignen: «Die Aspekte dieser Gemeinschaften überschneiden sich bewusst auch in unseren Angeboten», sagt Michaela.

Die grosse Leidenschaft

Sowohl Sidonia als auch Michaela waren schon in diesen Communitys aktiv, bevor sie Zwischenwelten gründeten. So war Michaela von 2010 bis 2018 im Organisations-Team des «BDSM-Stammtisches», wo sich Menschen mit denselben Vorlieben kennenlernen können. 

Ich habe über meine Sexualität immer offen gesprochen.

Sidonia Guyer

Als selbständige Sex- und Körperarbeiterin bietet Sidonia seit 2015 prozessorientierte Lebensräume, die sich um Berührung, Lust oder auch BDSM drehen. Ihre grosse Leidenschaft machte sie damit zu ihrem Beruf. Als sie im selben Jahr Zwischenwelten gründete, war dies keine grosse Überraschung für ihren Freundeskreis: «Ich habe über meine Sexualität immer offen gesprochen.»

Michaela nickt zustimmend. Ihr Freundeskreis habe sich im Verlauf der Jahre aus den Communitys entwickelt, von denen sie selbst Teil wurde: «Viele unserer Freund:innen sind begeistert über unsere Arbeit.» Innerhalb der Familie habe es hier und da Meinungsverschiedenheiten gegeben, erklärt Michaela weiter: «Aber das kennt wahrscheinlich jede Person, die nicht monogam lebt und nicht heterosexuell ist.»

Grenzen und Normen durchbrechen

Sidonia und Michaela bezeichnen sich selbst als «Beziehungsanarchistinnen». Für die beiden bedeute dies, Beziehungen nicht auf eine Weise zu werten, wie es durch die Gesellschaft vorgegeben ist. Beispielsweise würden Liebesbeziehungen höher gewertet als freundschaftliche.

Menschen würden von Beginn an als «Kolleg:innen» oder «potenzielle Partner:innen» eingeordnet: «Ich möchte auf solche Kategorisierungen verzichten», sagt Michaela. In ihrer Welt dürften die Grenzen zwischen romantischen, freundschaftlichen und sexuellen Verhältnissen verschwimmen.

«Wir sollten uns zuerst überlegen, wie wir ein angenehmes Umfeld für unser Gegenüber schaffen können.»

Sidonia Guyer

Bestehende Schöheitsideale müssten dabei häufig nicht zum Tragen kommen, lernten beide im Verlauf ihres Lebens. Diese würden ohnehin die Ansicht der Menschen fördern in einer Beziehung nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, findet Sidonia: «Wir sollten vielmehr eine Welt anstreben, in der wir uns zuerst überlegen, wie wir ein angenehmes Umfeld für unser Gegenüber schaffen können.»

Diese Gedanken setzen Sidonia und Michaela bei Zwischenwelten um. Es soll zu keiner Klassendynamik aus begehrten und weniger begehrten Menschen kommen: «Es geht darum zuerst zu erkennen, was ich einer Community geben kann, bevor ich mir sofort Gedanken darüber mache, wie ich selbst profitiere.»

Illustration: Sara Suter

«Feuchter Januar»

Der «Feuchte Januar» ist eine Zusammenarbeit von Tsüri.ch mit dem queerfeministischen Sexshop untamed.love. Was dich dabei erwartet? Vier Gespräche mit untamed.love-Gründerin Jessica Sigerist im «Das Gleis» im Kreis 5. Ob die Anlässe live oder digital stattfinden, steht noch nicht fest. Sicher ist jedoch bereits, wer teilnehmen wird: Nach dem Eröffnungsgespräch zwischen Jessica Sigerist und Tsüri-Redaktionsleiterin Rahel Bains wird die Tsüri-Kolumnistin mit Eneas Pauli über Non-binäre Geschlechtsidentitäten, mit Brandy Butler über Body-Positivity und mit Sidonia Guyer und Michelina Fuchs von Zwischenwelten über BDSM & Kink-Praktiken diskutieren.

Vergangene Talks:

  1. Talk vom 4. Januar mit Rahel Bains und Jessica Sigerist: «Sex-Positivity bedeutet nicht einfach mehr Sex für alle»
  1. Talk vom 11. Januar mit Jessica Sigerist und Brandy Butler: «Fat Acceptance ist noch lange nicht am Ziel»
  1. Talk vom 18. Januar mit Jessica Sigerist und Eneas Pauli: «Warum soll ich mit Nudes nicht auch Geld verdienen?»

Save the Date:

  1. 25. Januar: Talk mit Jessica Sigerist und Sidonia Guyer und Michelina Fuchs (Live Q&A um 20 Uhr auf dem Tsüri.ch-Instakanal)

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