«Also sprach Zarathustra»: Wenn Nietzsche ins Berghain geht

Sebastian Hartmanns Stück «Also sprach Zarathustra» im Schiffbau liefert alles: Depression und Ekstase, Tanz und Techno, Dichtung und Philosophie und zuallererst Panik über die unerwartet lange Spielzeit. Ein rauschhafter Abend, wie man ihn im Theater nur selten erlebt.

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Allerlei Figuren tummeln sich an diesem Abend auf der Bühne in der Schiffbau-Halle. Dabei dient Nietzsches «Also sprach Zarathustra» nur lose als Vorlage. (Bild: Arno Declair)

Das war vielen Besucher:innen im Schiffbau vorab wohl nicht bewusst: Die neueste Inszenierung von Friedrich Nietzsches berühmtestem Text «Also sprach Zarathustra» erstreckte sich über sage und schreibe viereinhalb Stunden und endete pünktlich mit dem Mitternachtsschlag. Beinahe ist es so, als wollte der Regisseur Sebastian Hartmann die Zuschauenden am eigenen Leib Nietzsches «schwersten Gedanken» spüren lassen: die ewige Wiederkunft des Gleichen. 

Im Foyer hat sich ein eher gehobenes, älteres Publikum in Abendkleidern und Anzügen für die ausverkaufte Premiere versammelt, einige jüngere Nietzsche-Fans sind dazwischen verstreut. Die Länge des Stücks ist im Foyer klar Gesprächsthema Nummer eins. «Viereinhalb Stunden!», hört man es tuscheln, gefolgt von nervösem Lachen oder Seufzen. 

Als sich die Türen öffnen, liegt für alle Besucher:innen ein sogenanntes «Starterkit» bereit: Eine Papp-Brille mit farbigen Gläsern (für den psychedelischen Effekt), Ohrstöpsel und ein kleiner Infozettel, der verspricht: «Nietzsche-Vorkenntnisse sind keine Pflicht.» 

«Die Länge der Vorstellung bestimmen sie selbst» 

Zudem heisst es, in der Vorführung seien zwei Tanzpausen vorgesehen, und zum Schluss: «Die Länge der Vorstellung und ihre eigene Art des Dabeiseins bestimmen sie als unsere Besucher:innen selbst.» Für viele eine sichtliche Erleichterung, doch für Journalist:innen, die ihrer Leserschaft über das Stück berichten wollen, kommt ein früher Abgang nicht wirklich infrage. Wer diesen Artikel bis zum Schluss liest, wird dafür erfahren, wie viele der Zuschauenden bei Vorhang-Fall noch in der Schiffbau-Halle sassen. 

Doch zurück zum Anfang. Die Bühne – ebenfalls von Sebastian Hartmann entworfen – ist allein schon ein Spektakel. Quer in den Raum aufgebaut, zieht sie sich ganz in Weiss über rund 50 Meter durch den Raum. Überdimensionale weisse Wände bilden den Hintergrund. Und dann geht es los. Eine nackte Frau (Tabita Johannes) betritt die Bühne, von den Scheinwerfern durch den Kunstnebel spärlich beleuchtet und beginnt: «Seht doch hin! Ertappt und mild stehe ich da vor der Morgenröte.» 

Und dann weiter: «Der Sonne gleich liebe ich das Leben und die Tiefen des Meeres. Und dies bedeutet mir Erkenntnis: Alles Tiefe soll hinauf zu meiner Höhe!»  

Schon ist das Publikum mitten drin in den prophetischen und magischen Bildern von Nietzsches Zarathustra, als Figur, die angelehnt ist an den gleichnamigen frühen persischen Religionsführer. 

«Ich habe doch meine Peitsche nicht vergessen?»

Die Protagonistin springt, tanzt hin und her, immer ekstatischer, zuckender, wahnsinniger, bis sie auf dem Boden zusammensackt und sich ihr ein weisser Gorilla nähert. Bevor sich das Publikum auf diese an King Kong und die weisse Frau erinnernde Einlage einen Reim machen kann, stürmen bereits sechs weitere Gorillas die Bühne, während die Protagonistin schreit: «Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schreien! Ich habe doch meine Peitsche nicht vergessen?» Damit greift sie eines der kontroversesten Zitate aus Nietzsches Zarathustra auf: «Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht.» Klug ist es vom Regisseur, dieses umzuschreiben und einer weiblichen Darstellerin in den Mund zu legen.

Schon steht die nackte Frau wieder und rennt mit den Gorillas die Bühne auf und ab, bis es mit Video-Projektionen (Live-Kamera von Irem Güngez) auf den weissen Wänden weiter geht. Was sich in den folgenden gut vier Stunden ereignet, lässt sich kaum linear erzählen. 

Alle möglichen Figuren – Maskenspieler, Gaukler, der «Geist der Schwere», glitzernde Anzugträger:innen und Kamera-Teams –  betreten in den Kostümen von Adriana Braga Peretzki die Bühne. Beginnend beim matten Schwarz und Weiss kleidet sich das neunköpfige Ensemble im Verlaufe der Vorführung immer funkelnder und ausgefallener. 

Also sprach Zarathustra
nach Friedrich Nietzsche

Regie Sebastian Hartmann
Bühnenbild Sebastian Hartmann
Kostümbild Adriana Braga Peretzki
Musik Samuel Wiese
Malerei Tilo Baumgärtel
Video Jan Speckenbach
Licht Lothar Baumgarte
Dramaturgie Victor Schlothauer

mit Elias Arens 
Artemis Chalkidou 
Lola Dockhorn 
Tabita Johannes 
Ingolf Müller-Beck 
Matthias Neukirch 
Linda Pöppel 
Victor Schlothauer 

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Irem Günez führt in dem Stück die Live-Kamera, die Kostüme stammen von Adriana Braga Peretzki. (Bild: Arno Declair)

Ein hochkarätiges Ensemble 

Die Schauspielgruppe besteht neben lokalen Talenten wie Elias Arens auch aus bekannten Namen aus dem deutschen Film- und Fernsehen wie Artemis Chalkidou (Hinter Gittern, Soko), Lola Dockhorn (Soko), Ben Hartmann (How to sell drugs online (fast), Tatort) und Linda Pöppel (Tatort, Soko).

Eine solch talentierte Truppe braucht es auch für die Leistungen, die Hartmann seinen Schauspieler:innen abverlangt. Der deutsche Theaterregisseur produzierte in den letzten Jahrzehnten neben klassischeren Theatervorlagen von Tolstoi oder Ibsen auch Schuld und Sühne von Dostojewski, Ulysses von James Joyce, den Zauberberg von Thomas Mann, Krieg und Frieden von Tolstoi – Hartmann, das ist klar, schreckt nicht zurück vor den längsten und berüchtigtsten Texten der Literaturgeschichte.

Fast jede:r von seinen Schauspieler:innen kriegt an diesem Abend im Schiffbau die Gelegenheit zu langen, fiebrigen, Monologen. «Unruhige Meere habe ich durchfahren, mit vielerlei Schmerzen gerungen. Doch die Stunde meines letzten Kampfes ist gekommen: Vor meinem höchsten Berge stehe ich und meiner längsten Wanderung. Nicht nur eine Sonne ist mir untergegangen», wird auf der Bühne mit viel Pathos wiedergegeben.

Oder: «Still ist der Grund meines Meeres: Wer wollte erraten, dass er scherzhafte Ungeheuer birgt! Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmenden Rätseln und Gelächtern. Ein Licht bin ich wohl: ach, aber Nacht bin ich auch und eine schwere Dumpfheit. Wer will sich schon freiwillig in meine Tiefe stürzen?» 

Die schweren Wände werden verschoben, die Theatertüre öffnet sich zur Strasse hin und es wird von draussen weiter gespielt und gefilmt. Die Protagonist:innen tragen sich Huckepack die Bühne hinauf und hinunter, ringen miteinander, würgen sich, knutschen, tanzen.

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Für das Stück hat Regisseur Sebastian Hartmann ein hochkarätiges Ensemble versammelt. Im Bild: Linda Pöppel, Elias Arens, Tabita Johannes, Artemis Chalkidou, Matthias Neukirch, Ben Hartmann. (v.l.n.r.) (Bild: Arno Declair)

Dann wird der Techno zur Hauptfigur

Immer öfter werden die Schauspielenden von den mal melancholischen, mal donnernden Klängen vom Tontechniker und DJ Samuel Wiese unterbrochen, der die Musik am DJ-Pult einspielt. Diese Abwechslung Monolog – Techno – Monolog – Techno – wird zur subtilen Struktur des Stücks, bis die Musik immer lauter und die Nachricht ans Publikum immer deutlicher wird: Jetzt ist es Zeit, an die Bar zu flüchten oder auf der Bühne zu tanzen. 

Was der Berliner DJ dann aufs Parkett bringt, liesse sich auch problemlos im Berghain oder einem der Techno-Clubs seiner Heimatstadt spielen. 

Immer voller wird die Bühne, es wird geshaked und getwerked, ältere Frauen ziehen ihre Absatzschuhe aus und hüpfen umher. Einsatz für die Papp-Brille aus dem Starterkit.

Das ist durchaus programmatisch, schliesslich verehrte Nietzsche Dionysos, den Gott von Rausch, Tanz und Wein und schrieb: «Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist, dass ihr nicht das Tanzen und das Lachen lerntet.» Hartmann, das ist klar, versucht Nietzsche in seinem Stück nicht nur zu rezitieren, sondern zu verkörpern. 

Als die Musik verstummt und die Menschen und auf ihre Stühle zurückkehren, sind zweieinhalb Stunden vergangen. In einige der Sitzreihen sind nur noch ein Viertel der Gäst:innen zurückgekehrt. 

Während die Menge tanzte, wurde eine riesige Leinwand in den Raum gestellt.

Von Leitern herab beginnen die Schauspieler:innen nun in schwarzen Overalls Regenbogenfarben auf die Wand zu giessen. Ruhe kehrt ein, während das Ensemble leise vor sich hinarbeitet. Ein Gast flüstert zu seiner Begleitung: «Ich habe bisher nichts verstanden von dem Stück, also muss ich das ja auch nicht verstehen». 

Als das Werk vollendet ist, sitzen die Schauspieler:innen andächtig still davor. Zumindest so lange, bis einer nach der anderen aufsteht und einen ganzen Farbtopf so wuchtig auf die Leinwand schüttet, dass es beinah ins Publikum spritzt. 

Mit der Farbe sickert die Botschaft ein: Alles Schöne muss immer wieder auf- und untergehen. 

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Das Schöne darf nicht bestehen bleiben, alles ist vergänglich und kehrt wieder. Hier greift Artemis Chalkidou zum Farbtopf. (Bild: Arno Declair)

Die Schauspieler:innen kommen dem Wahnsinn Nietzsches nahe

Nachdem die bemalte Leinwand in die Höhe gehievt wurde, kommt der grosse Auftritt von Elias Arens. Während es von der Leinwand auf ihn tropft, liefert er den passioniertesten, und wohl schwierigsten Monolog des Abends. Minutenlang rattert er durch Nietzsches Werk, dabei dem Wahnsinn scheinbar immer näher kommend, der auch den Autor mit den Jahren immer enger begleitete. Dass die Souffleuse Katja Weppler zwischendurch einmal nachhelfen musste, zeigt Arens’ Leistung nur noch deutlicher. Das Publikum belohnt ihn mit begeistertem Szenenapplaus. 

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Voller Körpereinsatz: Für seinen manischen Monolog kurz vor Schluss erntete Elias Arens begeisterten Szenenapplaus. (Bild: Arno Declair)

Und dann? Wird die übrig gebliebene Farbe über die zurückgekehrte nackte Frau geschüttet, die sich in der Lache wälzt und räkelt, bevor der DJ seinen zweiten grossen Einsatz hat und das schon deutlich geschrumpfte Publikum nochmals auf die Tanzfläche lockt. 

Fast genau pünktlich auf Mitternacht endet das Ensemble im Chor mit Nietzsches Nachtlied aus dem Zarathustra: «Nacht ist es, nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es, nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe. Licht bin ich, ach, dass ich Nacht wäre! Aber dies ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht umgürtet bin.» 

Dann ist tatsächlich Schluss. 

Noch knapp die Hälfte des Publikums ist übrig geblieben, um das Ensemble und das Produktionsteam für ihre Höchstleistung zu feiern. Und das tun die Verbliebenen mit einer ekstatischen Standing Ovation, die ebenfalls kaum zu enden mag.

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