Gemeinderats-Briefing #47: Der AOZ-Komplex - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Gemeinderats-Briefing #47: Der AOZ-Komplex

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Neuausrichtung der AOZ, mehr Schutz für behinderte Frauen.

Selten hat man den Rat in letzter Zeit so einvernehmlich und konstruktiv diskutieren sehen wie gestern. Zur Debatte stand die Neuausrichtung der Asylorganisation Zürich (AOZ) – und eine ganze Reihe von Präzisierungswünschen aus den Fraktionen.

Notwendig geworden war diese Neuausrichtung spätestens, nachdem vor ziemlich genau einem Jahr erhebliche Missstände bei der Unterbringung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter (MNA) im Asylzentrum Lilienberg bekannt geworden waren. Unter anderem war von einer massiven Überbelegung und ständigen Personalwechseln die Rede.

Illustration: Zana Selimi (Foto: Zana Selimi)

Doch bereits 2019 hatten die Fraktionen von SP, Grünen und AL mittels Postulat einen Bericht gefordert, der die Unterbringung von MNA aus der Sicht einer Organisation beleuchtet, die auf die Aufsicht von Kinderheimen spezialisiert ist. Dieses Postulat konnte gestern als erledigt abgeschrieben werden: Der Stadtrat legte nicht nur einen unabhängigen Bericht vor, der die vorgebrachten Vorwürfe insbesondere zum MNA-Zentrum Lilienberg bestätigt, er hatte auch die Bestimmungen des Leistungsauftrags überarbeitet, der zur Anwendung kommt, wenn die städtische Organisation AOZ Leistungen im Asylbereich für den Bund (wie bei Bundesasylzentren) oder den Kanton (wie beim MNA-Zentrum Lilienberg) übernimmt. Es sei ein wichtiger Tag für die AOZ, erklärte Walter Angst (AL) für die Sachkommission Sozialdepartement: «Ich hoffe, dass wir im nächsten Sommer nicht wieder eine AOZ-Debatte haben.»

Konkret wird im überarbeiteten Leistungsauftrag das Einsatzgebiet der AOZ auf Zürich, die Ost-, Süd- und Innerschweiz begrenzt, eine laufende Qualitätsüberprüfung und die Einhaltung von Mindeststandards festgeschrieben sowie im MNA-Bereich eine Kooperation mit Anbieter:innen aus dem Kinder- und Jugendheimbereich vorgegeben. Man begebe sich mit dieser Überarbeitung auf einen schmalen Grat, so Ronny Siev (GLP). Denn man wolle einerseits die Mindeststandards festlegen und andererseits sichergehen, dass die AOZ weiterhin konkurrenzfähig bleibt und bei Ausschreibungen berücksichtigt wird.

Die von der Schweiz unterzeichnete UN Kinderrechtskonvention verpflichte eigentlich dazu, MNA genauso zu behandeln wie Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund, hiess es in der Debatte unter anderem von Luca Maggi (Grüne). Vorgänge wie am Lilienberg oder zuletzt in der alten Polizeikaserne in Zürich, wo abermals eine krasse Überbelegung im MNA-Bereich festgestellt wurde (wir berichteten), zeigten jedoch, dass dies de facto nicht der Fall sei. Um die Bestimmungen speziell im MNA-Bereich zu konkretisieren, hatten SP, Grüne, AL, GLP und FDP zwei Postulate eingereicht.

Im ersten Postulat forderten sie eine dezentrale Unterbringung der unbegleiteten Minderjährigen und die Zusammenarbeit mit interessierten Städten und Gemeinden zu diesem Zweck. Zudem solle die Betreuung nicht wie bisher nach dem 18. Lebensjahr beendet werden, sondern «bis zur sozialen und wirtschaftlichen Selbständigkeit» andauern.

Damit werde dem Appell «Keine Kinder zweiter Klasse» Rechnung getragen, der eine Unterbringung von MNA im Einklang mit der Kinderrechtskonvention fordert, so Ruedi Schneider (SP). Er sei inzwischen von 5000 Menschen unterzeichnet und an den Kanton übergeben worden. Schneider wies auch darauf hin, dass nur 0,6 Prozent der MNA weggewiesen würden, fast alle also in der Schweiz blieben. Patrik Brunner (FDP) fügte in diesem Zusammenhang an: «Jeder Rappen, den wir in diese Kinder investieren, kommt doppelt zurück.»

Das zweite Postulat der grossen Ratskoalition verlangte eine systematische Erfassung und Ausweisung der Anzahl vulnerabler Personen durch die AOZ. Dazu zählen neben begleiteten undf unbegleiteten Minderjährigen unter anderem auch Schwangere oder LGBTQ, erläuterte Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne). Für diese Personen habe man eine besondere Verantwortung. Patrik Brunner (FDP) pflichtete ihr bei: «Aufgrund dieser Daten lassen sich gute Debatten führen und man kann zu guten Entscheidungen kommen. Mehr Daten schaffen mehr Vertrauen.» Die beiden Postulate wurden, genauso wie die Weisung über den überarbeiteten Leistungsauftrag, von allen Fraktionen ausser der SVP gutgeheissen.

«Es gibt Situationen, auf die auch die beste Politik nicht reagieren kann.»

Sozialvorsteher Raphael Golta über Unwägbarkeiten bei den Geflüchtetenzahlen

AL, SP, Grüne und GLP wiederum stellten noch zwei Postulate zum neuen Leistungsauftrag zur Debatte. Im ersten forderten sie konkrete Änderungen einzelner Artikel, zum Beispiel eine Ergänzung der Regelung, dass aussergewöhnliche Schwankungen der Geflüchtetenzahlen eine Abweichung von den Mindeststandards erlauben sollen, um die Bestimmung, dass diese Standards nach spätestens sechs Monaten wiederhergestellt werden sollen. Stadtrat Raphael Golta (SP), der sich mit den anderen Postulaten zum Thema einverstanden zeigte, bewog dieser Passus zur Ablehnung des Postulats. «Wenn das die Vorgaben zum Zeitpunkt der Bewerbung sind, dann dürfte sich die AOZ gar nicht bewerben», fand er. Angesichts stark schwankender Geflüchtetenzahlen in der letzten Zeit sei es verantwortungslos, im Vorhinein die Frist für eine Normalisierung festzulegen. Auch die FDP und die Mitte lehnten das Postulat ab und votierten mit der SVP dagegen, da es unter anderem zu sehr ins operative Geschäft der AOZ eingreife.

Genauso lagen die Mehrheitsverhältnisse beim zweiten Postulat von AL, SP, Grünen und GLP: Es forderte für eine Sicherstellung der Aufsichtstätigkeit des Gemeinderats unter anderem eine Berichtserstattung über jeden mit Dritten abgeschlossenen Leistungsauftrag sowie über Konflikte aufgrund inhaltlicher Vorgaben sowie einen mindestens jährlichen Bericht über die Einhaltung der Qualitätsstandards. Es gehe darum, sicherzustellen, «dass man in Zukunft eine offene und transparente Aufsichtskultur hat», erläuterte Luca Maggi (Grüne). Man hoffe, dass der Informationsaustausch zukünftig auch in schwierigen Zeiten funktioniere und nicht wie zuletzt Dinge weggeschwiegen würden. Michael Schmid (FDP) befand, das Postulat betreibe Mikromanagement und nehme keine sinnvolle Zuweisung von Kompetenzen vor, anders als ein weiteres Postulat, das die FDP zusammen mit SP, Grünen und AL eingereicht hatte.

Dieses wiederum präzisierte als Begleitpostulat einer weiteren Weisung zum AOZ-Komplex die Aufsichtsfunktion des Gemeinderats über die AOZ. Neben wie bisher der Rechnung solle der Gemeinderat künftig auch das Budget sowie die Leistungsaufträge genehmigen, erklärte Tiba Ponnuthurai (SP). Die heutige Situation erfordere viele Informationsflüsse verschiedener Gremien, das wolle man bündeln. Man könne sich vorstellen, die AOZ nur in einer Aufsichtskommission zu behandeln, zum Beispiel in der zum Sozialdepartement. Auch die Gründung einer neuen Sonderkommission sei denkbar. Ablehnung kam von der GLP: Ronny Siev meinte, damit werde die Arbeit der AOZ verpolitisiert und erschwert. SVP, GLP und die Mitte lehnten ab, blieben damit aber deutlich in der Minderheit.

Bis die veränderte Aufsichtsfunktion Realität wird, vergeht allerdings noch etwas Zeit: Die betreffende Weisung zum Postulat, die eine Revision der gesetzlichen Grundlagen betreffend Geschäftsfeld, Führung und Übertragung der Aufsicht an den Gemeinderat vorsieht, beinhaltete lediglich eine Fristerstreckung bis 2024 und wurde von allen Fraktionen ausser der SVP angenommen. Eine AOZ-Debatte steht also auch im nächsten Jahr wieder an.

Mehr Schutz für gewaltbetroffene Behinderte

Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) und Islam Alijaj (SP) legten ein Postulat vor, in dem sie ein Pionierprojekt für ein stationäres Angebot für gewaltbetroffene behinderte Frauen forderten. Frauen mit Behinderungen würden deutlich häufiger Opfer von Gewalt als solche ohne, begründete Schmaltz das Anliegen. Sie seien besonders vulnerabel gegenüber sexualisierter Gewalt, unter anderem weil man ihnen kein eigenes Sexual- und Beziehungsleben zugestehe.

In der ganzen Schweiz habe gerade einmal ein einziges Frauenhaus einen Rollstuhlzugang und das stehe in Chur. Mit dem Frauenhaus Violetta habe man auch in Zürich ein Haus gefunden, das offen sei für solch ein Projekt.

Samuel Balsiger (SVP) stellte in Frage, ob man ein spezifisches Haus für Frauen mit Behinderungen überhaupt füllen könne und erklärte es für sinnvoller, stattdessen einen Rollstuhlzugang für alle Frauenhäuser zu fordern. Sowieso sei das Problem in erster Linie, dass die Gewalt von Ausländern ausgehe. Josef Widler (Die Mitte) äusserte sich konstruktiver und schlug vor, den Begriff «Frauen» durch den Begriff «Personen» zu ersetzen, da auch und vor allem Männer mit Behinderungen Gewalt ausgesetzt seien.

Schmaltz erwiderte zwar, dass die geschlechtsspezifische Komponente wichtig sei, nahm die Textänderung aber an. Islam Alijaj betonte zudem, dass es ein Skandal sei, dass man zum Bedarf gar keine genauen Angaben machen könne, da die wissenschaftlichen Daten fehlten. Bis auf die SVP nahmen alle Fraktionen den Vorstoss an.

Weitere Themen der Woche

  1. Der Gemeinderat hat den Geschäftsbericht 2022 des Stadtrats mehrheitlich genehmigt. Martina Zürcher (FDP) stellte für die Geschäftsprüfungskommission das 467-Seiten-Werk vor und bemerkte, dass die umfangreiche Berichterstattung aus jedem Departement so einige Postulate aus dem Gemeinderat obsolet mache, die zu bestimmten Themenbereichen Berichte einforderten. Bernhard im Oberdorf begründete die Ablehnung seiner SVP damit, dass man auch schon die städtische Jahresrechnung abgelehnt habe und zählte Projekte aus jedem Departement auf, die ihm missfielen. Mischa Schiwow dagegen erklärte, seine AL werde wie in den Vorjahren in die Enthaltung gehen, da man im Bericht zu wenig die sozialen Problematiken beispielsweise beim Wohnen abgebildet sehe.

  1. In einem Postulat forderten Balz Bürgisser und Selina Walgis (beide Grüne) den Stadtrat auf, zu prüfen, wie die Stadt Eltern mit geringen Einkommen und Vermögen finanziell entlasten kann, deren Kinder einen Kurs in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) besuchen. Die Kurse seien eine vorteilhafte Ergänzung zum Schulunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund, so Bürgisser, da sie gut für die Sprachentwicklung seien und die Integration förderten. Bis auf die SVP unterstützten alle Fraktionen den Vorstoss.

  1. Angenommen wurde auch ein Postulat von Samuel Balsiger und Stephan Iten (beide SVP), das einen Verzicht auf die Kündigung von laufenden Mietverträgen zur Unterbringung von Asylbewerber:innen forderte. Stadtrat Raphael Golta (SP) befand, da man in der Stadt sowieso niemandem kündige, um Geflüchtete unterzubringen, könne man das Postulat auch annehmen und dann recht schnell abschreiben. Die SP-Fraktion folgte dieser Einschätzung, nachdem Judith Boppart eine Textänderung durchgesetzt hatte, die eine Forderung nach Unterbringung in nicht mehr benötigten Züri Modular Pavillons aus dem Postulatstext strich. Bis auf AL und Grüne stimmten danach alle Ratsmitglieder zu.

  1. In der letzten Gemeinderatssitzung wurde wiederholt kritisiert, dass sich Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) nicht zu dem Vorfall am 14. Juni geäussert hatte, als ein Polizist dabei gefilmt wurde, wie er eine Demonstrantin zu Boden riss (wir berichteten). Gestern gestand die Stadträtin ein, dass dies ein Fehler ihrerseits gewesen sei, und holte ihr Statement zum Geschehen nach: Sie habe mit der jungen Frau mitgefühlt, doch für eine Beurteilung des Polizeieinsatzes reiche ein kurzes Handyvideo nicht aus. Sie würde sich überdies freuen, wenn die Kritiker:innen das Gesamtbild der Polizeiarbeit im Blick behalten würden: Jeden Tag gebe es ungefähr 190 Einsätze der Stadtpolizei, bei denen die Menschen zumeist froh über deren Auftauchen seien. Moritz Bögli (AL) ermahnte im Anschluss die Stadträtin, auch das Social-Media-Team der Polizei in die Pflicht zu nehmen, das sich nach dem Vorfall auf Twitter offensiv mit anderen Usern gezankt hatte. Samuel Balsiger (SVP) erklärte, er erwarte nicht, dass sich Rykart für das Vorgehen gegen die Demonstrantin entschuldige, sondern sich hinter die Polizei stelle.

  1. Reto Brüesch und Jean-Marc Jung (beide SVP) haben eine Motion eingereicht, die angesichts des demografischen Wandels fordert, in den nächsten zehn Jahren Liegenschaften mit insgesamt 500 altersgerechten, bezahlbaren Wohnungen aus dem stadteigenen Bestand an die Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich (SAW) zu übertragen. Sie soll nach dem Willen der Motionäre zusammen mit einer Motion von FDP, GLP und Die Mitte/EVP behandelt werden, die eine Zusammenlegung der drei städtischen Wohnbaustiftungen mit der Dienstabteilung Liegenschaften Stadt Zürich fordert.

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