Trotz Verletzungsrisiko: Stadtpolizei Zürich hält an Gummischrot fest

Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart will, dass die Stadtpolizei Zürich weiterhin Gummischrot einsetzt – trotz Kritik von Amnesty International und der UNO. Ab September wird der Einsatz jedoch systematisch dokumentiert.

Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart und Beat Oppliger, Kommandant der Stadtpolizei, präsentierten den neuen Bericht. (Bild: Kai Vogt)

Immer wieder sorgt der Einsatz von Gummischrot durch die Zürcher Polizei für Schlagzeilen, politische Debatten – und für bleibende Verletzungen bei Demonstrierenden.

Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart liess den Einsatz deshalb in einem Bericht untersuchen, den sie am Dienstag den Medien präsentierte.

Ihr Fazit: Gummischrot bleibt erlaubt, soll künftig aber systematisch erfasst werden. Ziel sei es, «die Diskussion rund um das Thema zu versachlichen», so Rykart. Denn Gummischrot werde zu oft «zu emotional» diskutiert.

«Der Einsatz von Gummischrot ist ziemlich sicher zurückgegangen, aber wir wissen es nicht genau.»

Karin Rykart (Grüne), Vorsteherin Sicherheitsdepartement Stadt Zürich

Bislang hat die Stadtpolizei weder die Anzahl der Einsätze noch deren Folgen systematisch dokumentiert. Auch schweizweit existieren – anders als in anderen europäischen Ländern – keine vollständigen Erhebungen.

Die Zürcher Polizei will nun ab dem 1. September mit einer standardisierten Erfassung beginnen. Grundlage ist ein Entscheid des Stadtparlaments aus dem Jahr 2024.

Rykart vermutet Rückgang der Einsätze

Trotz der unvollständigen Datenlage der Vergangenheit wagt Rykart eine rückblickende Einschätzung: «Der Einsatz von Gummischrot ist ziemlich sicher zurückgegangen, aber wir wissen es nicht genau.»

Diese Aussage begründet sie mit Journaleinträgen zwischen 2013 bis 2024 im Polizeiinformationssystem. Beat Oppliger, Kommandant Stadtpolizei, ergänzt, dass auch Erfahrungsberichte langjähriger Mitarbeiter:innen zum selben Schluss kämen. 97 seien in der genannten Periode vermerkt worden. Im neuen Bericht heisst es aber auch: «Die Zahlen sind mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht vollständig. Einzelne Einträge dürften gelöscht worden sein.» 

Warum gelöscht? Auf Nachfrage von Tsüri.ch erklärt Oppliger, dies könne verschiedene Ursachen haben und sei «komplex». So könnten etwa Einzelpersonen – auch Privatpersonen – aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes die Entfernung bestimmter Daten beantragen.

Stadt hat neue Werfer gekauft

Klar ist: Die Stadtpolizei will weiterhin auf Gummischrot setzen. Sie hält ihn für das wirksamste und gleichzeitig am wenigsten schädliche Distanzmittel – notwendig zum Schutz der Beamt:innen.

Jegliche Alternativen seien mangelhaft, so Rykart. Ein Reizstoff wie Tränengas sei zwar ein wirksames Mittel, stoppe aber keinen dynamischen Angriff, wo sich eine Situation rasch und unvorhersehbar entwickelt. Der Schlagstock funktioniere nur im Nahkontakt und gefährde auch die Polizist:innen. Wasserwerfer seien nicht in grösserer Anzahl vorhanden und kämen nicht in enge Gassen. Gitterfahrzeuge seien eine gute Ergänzung, aber keine Alternative.

Die Stadtpolizei testet aber auch neue Geräte. Zehn sogenannte Mehrzweckwerfer des Typs HK 169 wurden kürzlich angeschafft. Mit ihnen können sowohl Gummischrot als auch Tränengas verschossen werden. Die alten Modelle seien laut Rykart «ein halbes Jahrhundert alt», würden aber noch immer eingesetzt werden.

UNO und Amnesty empfehlen Verbot

Doch auch neue Technik löst das Grundproblem nicht. Mit Gummischrot lässt sich nur schwer zielen – und trifft deshalb immer wieder Unbeteiligte. Kommandant Beat Oppliger ist sich dennoch sicher: «Es braucht das Schrot, da es viel wirksamer ist als einzelne Geschosse.» Gleichzeitig sei nicht auszuschliessen, dass ein Teil ins Auge gehe. 

Das geschah etwa im Fall Claudio Massoni, über den die Republik ausführlich berichtete. Der damals 26-jährige Mann wollte 2017 nach dem Eishockey-Derby zwischen dem EHC Kloten gegen die ZSC Lions nach Hause gehen, konnte dies aber aufgrund von einer Polizei-Eskorte nicht. Schliesslich bekam er von der Kantonspolizei Gummischrot ins Auge. Er ist seither auf einem Auge faktisch blind. Es folgte ein langwieriges Gerichtsverfahren gegen die Kantonspolizei Zürich.

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte rät in einem Handbuch grundsätzlich vom Einsatz von Gummischrot-Werfern ab – sie seien «nicht präzise auf einzelne Personen richtbar». Auch Amnesty International warnt vor den Risiken und fordert: «Mehrfachgeschosse sollten grundsätzlich verboten werden.»

Auch in der Politik ist Gummischrot höchst umstritten. Stadträtin Rykart wurde hier auch schon von ihrer eigenen Partei kritisiert. Zuletzt versuchten die Grünen in parlamentarischen Budgetdebatten die Ausgaben für Gummischrot-Munition zu streichen, blieben damit aber erfolglos.

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Kai Vogt

Kai hat Politikwissenschaften und Philosophie studiert und als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter der Zürcher Studierendenzeitung (ZS) das Treiben der Uni und ETH kritisch beleuchtet. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Seit 2023 mischt Kai auch medienpolitisch mit: Beim Verband Medien mit Zukunft arbeitet er auf der Geschäftsstelle – organisiert Events, koordiniert Kampagnen und macht sich für die Zukunft unserer Branche stark.

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