«Ein Armutszeugnis, dass unsere Forderungen noch immer nicht angekommen sind» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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15. Mai 2021 um 14:00

Aktualisiert 24.01.2022

«Ein Armutszeugnis, dass unsere Forderungen noch immer nicht angekommen sind»

Klimastreik-Aktivist Cyrill Hermann versucht, Gymnasium und Aktivismus unter einen Hut zu bringen – für ihn eine enorme Doppelbelastung, die er manchmal nur dank vieler Nachtschichten meistert. Im Moment steckt er mitten in den Vorbereitungen für den Strike for Future-Aktionstag, denn er ist überzeugt: «Die nächsten fünf Jahre sind entscheidend für unsere Zukunft.»

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Bilder: Elio Donauer

Aktivismus ist ein Teil der Demokratie. Es braucht ihn, um Aufmerksamkeit zu generieren, auf Missstände hinzuweisen und die Politik voranzutreiben. Wir haben in dieser Serie verschiedene Zürcher Aktivist:innen zu ihrem Engagement befragt.

Es heisst, Bedenkenlosigkeit der sogenannten Boomer, der Zynismus der Generation X und die Passivität der Millennials treibe die jüngste Generation dazu, Verantwortung zu übernehmen. Klimastreik-Aktivist Cyrill Hermann gehört ebendieser Generation an. Besonders aktiv wurde der 17-Jährige während des ersten Lockdowns. Sein Schlusselmoment: «Als der Bund die Gelder für die Flugbranche freisprach. Ich war so wütend und fühlte mich hilflos. Dass die Politiker:innen Milliarden frei sprechen ohne Auflagen für den Klimaschutz während wir gerade haushoch alle Klimaziele verfehlen, ist doch einfach absurd.» Cyrill besucht derzeit das Gymnasium, sein Aktivismus nimmt jedoch immer mehr Zeit und Ressourcen ein. Er muss sich deshalb stets daran erinnern, dass man auch selbst zählt und dass – unbewusste – Selbstausbeutung effektiven Aktivismus unmöglich macht. «Manchmal muss man sich zum Pause-machen und Auf-sich-selbst-Aufpassen zwingen», so Cyrill.

Tsüri.ch: Wie, wann und weshalb bist du Aktivist geworden?

Cyrill Hermann: Ich bin 2020 während des ersten Lockdowns aktiver geworden. Die Kombination aus Machtlosigkeit und der vielen Zeit, die ich hatte, mich über die Klimakrise zu informieren, waren die beiden ausschlaggebenden Punkte. Mein persönlicher Schlüsselmoment: Als der Bund die Gelder für die Flugbranche freisprach. Ich war so wütend und fühlte mich hilflos. Dass die Politiker:innen Milliarden freisprechen ohne Auflagen für den Klimaschutz während wir gerade haushoch alle Klimaziele verfehlen, ist doch einfach absurd.

Wo kann man in Aktivist:innenszenen/-gruppen einsteigen? Was empfiehlst du Neulingen und weshalb sollte man sich nicht einschüchtern lassen?

Eine jetzige Kollegin aus dem Klimastreik hat mir damals gesagt, dass jede Stimme genau gleich viel zählt – egal wie neu oder unerfahren du bist. Das würde ich allen auf den Weg geben, die sich beim Klimastreik engagieren wollen, denn wir sind eine offene, basisdemokratische Bewegung. Um aktiv zu werden gehst du am besten über unsere Website und kannst dort den regionalen Gruppen beitreten oder eine E-Mail schreiben. Lasst euch nicht einschüchtern.

Wie engagierst du dich konkret?

Momentan arbeite ich vor allem am Hauptprojekt des Klimastreiks, dem Strike for Future. Konkret heisst das: Sehr viel organisieren, mit anderen Bewegungen in Kontakt treten, Aktionen planen, in meiner Lokalgruppe Klimaversammlungen organisieren und vieles mehr. Mit dem Strike for Future wollen wir eine gesamtgesellschaftliche Bewegung erschaffen, die sich für eine ökologische und soziale Gesellschaft einsetzt. Im Rahmen dieses Projekts wird es mehrere Aktionstage geben, der erste wird nun am 21. Mai stattfinden. An diesem Tag geht der Klimastreik gemeinsam mit Gewerkschaftsmitgliedern, NGOs und anderen sozialen Bewegungen wie dem Frauenstreik auf die Strasse, denn all diese Kämpfe haben dieselbe Ursache und müssen deshalb gemeinsam geführt werden.

Auf was für Hürden bist du dabei schon gestossen?

Es gibt zwar vermehrt einzelne kleine Hürden, aber keine die mich davon abhalten könnten nicht mehr aktiv zu sein. Einerseits wären da die strengen Promotionsbedingungen an den Kantonsschulen im Kanton Zürich und andererseits stösst man leider nicht immer überall auf Verständnis und muss sich schon das eine oder das andere Mal einen nervigen Spruch anhören.

Entweder wir können unsere THG Emissionen mit einem drastischen Absenkpfad auf Netto Null bis 2030 bringen oder wir verfehlen das am Pariser Klimaabkommen definierte Ziel, eine globale Erhitzung auf 1,5 Grad zu beschränken.

Cyrill Hermann

Wie bringst du deine sonstigen Verpflichtungen und dein aktivistisches Engagement unter einen Hut?

Leider klappt dies nicht wirklich, da sowohl Gymnasium wie auch Aktivismus sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Es ist eine enorme Doppelbelastung und ein grosser Stress. Aber meistens schaffe ich es dank vieler Nachtschichten meinen Verpflichtungen als Schüler nachzukommen.

Trennst du Arbeit und Privates oder verschmilzt das mit der Zeit?

Da ich Aktivismus zu meinem privaten Engagement zählen würde, würde ich sagen, dass das schon komplett verschmolzen ist. Mein Freundeskreis hat sich über den Klimastreik erweitert. Dadurch, dass man gemeinsam einen oft so anstrengenden Kampf führt, wächst man enorm zusammen. Es ist wie eine zweite Familie.

Wird dir manchmal alles zu viel?

Mein Aktivismus nimmt immer mehr Zeit und Ressourcen ein, was sich deutlich in meinen schulischen Leistungen und meinem Schlaf niederschlägt. Zudem ist die seelische Belastung sehr gross und früher oder später kann es passieren, dass man in ein Loch fällt. Dann ist es sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass man auch selbst zählt und dass (unbewusste) Selbstausbeutung effektiven Aktivismus unmöglich macht. Manchmal muss man sich zum Pause-machen und Auf-sich-selbst-Aufpassen zwingen.

Weshalb ist es so wichtig, sich aktiv in politische Prozesse einzumischen?

Die nächsten fünf Jahre sind entscheidend für unsere Zukunft. Entweder wir können unsere THG Emissionen mit einem drastischen Absenkpfad auf Netto Null bis 2030 bringen oder wir verfehlen das am Pariser Klimaabkommen definierte Ziel, eine globale Erhitzung auf 1,5 Grad zu beschränken. Wenn wir dieses verfehlen, werden wir selbstverstärkende Rückkopplungsschleifen erreichen und Tipping points auslösen, welche dazu führen, dass wir jegliche Kontrolle über das Erdklimasystem verlieren.

Und obwohl diese Fakten schon lange bekannt sind und Wissenschaftler:innen sie bereits zig mal wiederholt haben, scheint in unserer Politik nicht wirklich etwas zu geschehen. Das wenige, das geschieht, reicht nicht aus. Deswegen müssen wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen und sowohl Druck auf die jetzigen politischen Systeme machen, damit sie adäquat handeln, als auch unsere eigenen politischen Systeme aufbauen, die darauf abzielen, mehr Menschen in Entscheidungen miteinzubeziehen.

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Unsere Leserschaft wollte in der Umfrage zum Thema Aktivismus wissen: «Was bringt Aktivismus, wenn schlussendlich sowieso alle bewegenden Entscheidungen über die (langsame) Politik laufen?»

Das ist eine sehr gute Frage. Meiner Meinung nach ist genau das, was wir jetzt mit dem Strike for Future tun, das Richtige. Dass wir uns einerseits auf lokaler Ebene organisieren und andererseits mit anderen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, NGOs, Schulen und Vereinen zusammenschliessen. Es ist an der Zeit, die Kräfte verschiedener sozialer und ökologischer Bewegungen zu bündeln. Damit machen wir die Bewegung für eine ökologische und soziale Gesellschaft einerseits breiter, womit wir einen Druck auf die Politik ausüben können, der grösser ist als es die Schüler:innenstreiks bis jetzt auszulösen vermochten.

Andererseits fangen wir mit Lokalgruppen und Klimaversammlungen an, ein dezentraleres politischeres System auszuprobieren. Wir möchten erreichen, dass die Entscheidungen eben nicht mehr nur im Parlament in Bern geschehen, sondern dass die Betroffenen selbst entscheiden können. Es braucht jetzt also vor allem Organisation der Menschen und das am Arbeitsplatz, in der Schule, im Quartier. Ich denke, dass der optimale und langfristig gesehen beste Weg ist, Druck auf die Politik auszuüben.

Wir haben die grössten Demonstrationen, die in den vergangenen Jahren in der Schweiz stattfanden, organisiert.

Cyrill Hermann

Was läuft in der Stadt Zürich so richtig falsch?

Die Stadt hat am Mittwoch, 21. April, ihre Klimastrategie und ihr Netto Null Ziel veröffentlicht. Leider entspricht dies nicht dem Wissenschaftlichen Konsens und wird uns keine sichere Zukunft liefern. Es ist ein Armutszeugnis des Stadtrates, dass unsere Forderungen nach Klimagerechtigkeit und einer lebenswerten Zukunft nach zwei Jahren Protest immer noch nicht angekommen sind.

Hast du einen Verbesserungsvorschlag?

Der Klimastreik hat in den 18 letzten Monaten mit 60 Expert:innen einen 300-seitigen branchenübergreifenden Klimaaktionsplan erarbeitet. Es ist der erste Schweizer Klimaaktionsplan, der das Schweizer Kohlenstoff-Budget einhält, Netto Null 2030 und Klimagerechtigkeit sind nur die logischen Schlussfolgerungen daraus. Ich würde mich jetzt einfach auf den Klimaaktionsplan beziehen und sagen, dass darin die konkreten Verbesserungsvorschläge wären.

Mit welchen Aktionen haben du und deinen Mitstreiter:innen einen sicht- und messbaren Erfolg verzeichnet? Was konntet ihr konkret bewirken?

Bewirken konnten wir denke ich schon Einiges. Wir haben die grössten Demonstrationen, die in den vergangenen Jahren in der Schweiz stattfanden, organisiert. Im Jahr 2019 gab es einen massiven Links-Grün-Rutsch bei den Wahlen, der ohne uns sicherlich nicht möglich gewesen wäre. Viele Menschen sind sich der Thematik bewusster geworden. Erfolge hatten wir trotzdem nicht wirklich – vielmehr waren wir enttäuscht davon, wie wenig sich in der Klimapolitik verändert hat trotz diesem Links-grün-Rutsch und wie schnell die Klimafrage IM Zuge der Corona-Pandemie unterging.

Was habt ihr/hast du für Pläne für die kommenden Monate?

Schweizweit findet, wie ich vorhin bereits erwähnt habe, am 21. Mai der erste Streik- und Aktionstag für den Strike for Future statt. Aufgrund Corona und unterschiedlichen Regelungen in den Kantonen sind verschiedene Dinge geplant. Von Velotouren über Workshops bis zu Demonstrationen mit begrenzten Teilnehmer:innen-Zahlen ist praktisch alles dabei. Der Strike for Future ist ein langfristiger Prozess. Im Herbst planen wir dazu etwas Grosses.

Serie «Zürcher Aktivist:innen»
Aktivist:innen bewegen mit ihrem Engagement eine Stadt. Für diese Serie haben wir sechs Aktivist:innen getroffen und sie gefragt, wieso sie sich für etwas einsetzen und was es für Schwierigkeiten gibt.

1. Matteo Masserini – Vélorution
2. Anna-Béatrice – Aktivistin.ch
3. Yuvviki Dioh – Netzwerk Bipoc.woc
4. Cyrill Hermann – Klimastreik

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