10 Jahre Human Rights Film Festival – «Filmschaffende sind politischer geworden»

Das Human Rights Film Festival feiert sein zehnjähriges Bestehen. Im Interview erklärt die Festivaldirektorin Sascha Lara Bleuler, inwiefern die aktuelle Weltlage das Festivalprogramm beeinflusst und warum Menschenrechtsthemen heutzutage mehr Beachtung geschenkt wird.

Sascha Lara Bleuler
Sascha Lara Bleuler hat Filmwissenschaften studiert und leitet seit 2015 das Human Rights Film Festival Zurich. (Bild: Elad Adelman)

Isabel Brun: Die grosse Schwester des Human Rights Film Festivals, das Geneva International Film Festival, gibt es bereits seit 23 Jahren. Zudem befindet sich der Sitz des UN-Menschenrechtsrats in Genf. Warum braucht es in Zürich ebenfalls ein solches Filmfestival?

Sascha Lara Bleuler: Weil man nie genug über die Missstände auf dieser Welt aufklären kann. Neben Genf und Zürich führt deshalb auch Lugano seit elf Jahren ein Filmfestival mit Fokus auf Menschenrechte durch – so decken wir drei Schweizer Sprachregionen ab.

Als privilegiertes Land tragen wir eine Mitverantwortung gegenüber Menschen, die unter den Folgen unseres Wohlstands leiden. Es wäre das Mindeste, dass sich eine reiche Stadt wie Zürich, die von Ungerechtigkeiten in anderen Ländern profitiert, mit der unbequemen Wahrheit auseinandersetzt. 

Aber das machen doch auch Filme, die an einem Zurich Film Festival (ZFF) gezeigt werden.

Natürlich schaffen es immer wieder auch Filme ans ZFF, die sich in irgendeiner Art und Weise mit dem Menschenrecht beschäftigen. «The Wolves Always Come At Night», bei dem es um die Auswirkungen des Klimawandels in der Mongolei geht, feierte dort Premiere – er wird auch bei uns auf der Leinwand zu sehen sein. Doch es gibt am ZFF auch unzählige Werke, die keinen politischen Hintergrund haben und in erster Linie unterhalten sollen.

Finden sich deshalb beim Human Rights Film Festival kaum Spielfilme im Programm?

Doch, wir berücksichtigen alle Formate. Aber unser Fokus liegt auf dem Sichtbarmachen struktureller Probleme. Wir wollen Menschen zum Nachdenken anregen und sie im besten Fall dazu bringen, aktiv zu werden.

«Es gibt Filme, die sind so heftig, dass ich beim Pre-Screening stoppen und an die frische Luft muss.»

Sascha Lara Bleuler, Festivaldirektorin

Können Dokumentarfilme das besser?

In Spielfilmen folgen Charaktere noch immer oft stereotypen Mustern, Handlungen und Personen werden übertrieben dargestellt. Das hängt manchmal auch mit der jeweiligen Filmtradition zusammen: Südamerikanische Filme sind beispielsweise sehr dramatisch und emotional. Iranische Filme hingegen sind ruhig und poetisch erzählt. Sie benötigen ein geduldiges Publikum. Es ist deshalb wichtig, sich auch mal vom europäischen Blick zu lösen. 

Ist das überhaupt möglich, ohne dabei Stereotypen zu reproduzieren?

Es ist tatsächlich ein schmaler Grat und wir lernen jedes Jahr dazu. Obwohl wir in Bezug auf unsere Herkunft und Sozialisierung ein sehr diverses Team sind, sind wir nicht vor jedem Fettnäpfchen gefeit.

So zeigten wir vor einigen Jahren einen Film, nur um beim anschliessenden Podium zu realisieren, dass nur weisse Menschen über Frauenrechte in Äthiopien diskutierten. Es ist uns ein grosses Anliegen, nicht nur über betroffene Menschen, sondern mit ihnen zu sprechen. 

Die Diskussionsrunden mit den Regisseur:innen oder Betroffenen nach den Filmvorstellungen sind ein fester Bestandteil des Human Rights Film Festivals. Daran scheint sich in den letzten zehn Jahren wenig verändert zu haben.

Ja, das Konzept eines reichhaltigen Rahmenprogramms hat sich bewährt. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir viele Werke zeigen, die einem nahe gehen und manchmal schwer zu ertragen sind.

Es gibt Filme, die sind so heftig, dass ich beim Pre-Screening stoppen und an die frische Luft muss. Diese Chance haben die Zuschauer:innen im Kinosaal nicht, deshalb ist die Möglichkeit des Austauschs im Nachhinein besonders wichtig. Wir wollen unser Publikum nicht ohnmächtig zurücklassen. 

Haben Sie eine Vermutung, welcher Film bei der diesjährigen Ausgabe die Besucher:innen am stärksten umtreiben wird?

Das ist im Vorfeld immer schwierig zu sagen. Mich hat die Dokumentation «Undercover: Exposing The Far Right» schockiert. Dazu hat die britische Filmemacherin Havana Marking die antiextremistische Organisation «Hope not Hate» bei ihren Recherchen in moderne rechtsextreme Kreise begleitet. Was die Aktivist:innen dabei erfahren haben, hat mich sprachlos zurückgelassen. 

Dabei ähnelt die Vorgehensweise der Regisseurin jener einer Journalistin. Entsprechen journalistische Dokumentationen noch den Ansprüchen der Filmkunst?

Ich finde, da gibt es keine klare Grenze. Auch eine journalistische Recherche kann künstlerisch gut aufbereitet sein. Wir wollen das ganze Spektrum des Films aufzeigen und uns nicht zu stark einschränken, indem wir Formate ausschliessen.

Hauptsache, das Endprodukt ist politisch?

Filme, die sich um Menschenrechte, Missstände oder Machtverhältnisse drehen, sind zwangsläufig politisch. Aber wir versuchen auch den Zuschauer:innen viel gedanklichen Raum zu lassen und nicht einfach eine «Agenda» der Filmemacher:innen weiterzugeben.

«Filme können sehr kraftvoll sein – im Negativen wie auch im Positiven.»

Sascha Lara Bleuler, Festivaldirektorin

Als Festival sind Sie auf gute Arbeit von Filmemacher:innen angewiesen. Wie hat sich die Branche seit dem Bestehen des Human Rights Film Festivals verändert – sind Menschenrechtsthemen beliebter geworden?

Ich habe das Gefühl, Filmschaffende sind allgemein politischer geworden und Menschenrechtsthemen wird mehr Beachtung geschenkt als früher. Aber das könnte auch daran liegen, dass sich in unserer Welt gerade mehrere Krisen gleichzeitig abspielen oder dass die Digitalisierung den Zugang zu technischen Hilfsmitteln wie Kameras oder Mikrofonen erleichtert.

Der Film «No Other Land», der die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung von israelischen Besatzer:innen im Westjordanland dokumentiert, gewann einen Oscar. Auch das Human Rights Film Festival widmet sich dem Nahen Osten: Als Closing Film am 2. April zeigen Sie mehrere Kurzfilme, die im Gazastreifen gedreht wurden. Wie entscheiden Sie jeweils, welche Themen einen Platz erhalten?

Es ist schon so, dass wir uns an aktuellen Geschehnissen orientieren. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits erreichen wir dadurch mehr Menschen, was natürlich unser Wunsch ist. Andererseits bedeutet das, dass wir priorisieren müssen; welcher Missstand, welcher Konflikt oder Krieg ist «wichtiger»? Das kann manchmal auch sehr schwierig und komplex sein. 

Das hört sich alles ganz schön negativ an. Wollen die Menschen angesichts der vielen schrecklichen News in den Medien überhaupt noch das Human Rights Film Festival besuchen?

Ich hoffe es! Aber mal abgesehen vom Einbruch während der Pandemie hat unsere Kinoauslastung stetig zugenommen. Das Interesse an Menschenrechtsthemen scheint also durchaus vorhanden zu sein. Und ja, ein Teil der gezeigten Filme ist krass, aber es sind eben auch viele Geschichten dabei, die Hoffnung machen und berühren. Filme können sehr kraftvoll sein – im Negativen wie auch im Positiven.

Sie bieten auch Schulvorstellungen an. Das ist eher ungewöhnlich für ein kommerzielles Filmfestival.

Die Vorstellungen sind für uns wichtig und aufgrund der Durchmischung der Teilnehmer:innen sehr spannend: Kaum ein Publikum ist diverser, als wenn Schulklassen im Saal sitzen. Dies spiegelt sich auch in den Fragen in der Schlussrunde wider. 

Inwiefern?

Die Kinder und Jugendlichen sind in ihrer Ausdrucksweise oft ungefiltert. Sie führen uns vor Augen, welche Gedanken sich die junge Generation, aber auch die Mehrheitsgesellschaft macht.

Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Grossteil unserer Besucher:innen eher aus einer linken Bubble kommt und sich bereits mit Menschenrechtsthemen auseinandersetzt. Dabei wäre es eigentlich unser Ziel, auch Personen aus dem bürgerlichen Spektrum zu erreichen; je mehr Menschen von Missständen wissen, desto besser.

Wie soll sich das Festival in den nächsten Jahren entwickeln?

Schön wäre, wenn wir die finanziellen Ressourcen aufbringen, um noch mehr Zeit in das Herzstück des Festivals – die Filmauswahl – zu investieren. Eventuell auch mit Retrospektiven oder einer Auszeichnung für Filmschaffende, die durch ihre Kreativität im Umgang mit Menschenrechten auffallen.

Im Tsüritipp vom 26. März findest du News und Events zur Kultur in Zürich.

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2024-02-27 Isabel Brun Redaktorin Tsüri

Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.  

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