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Von Sophie Blöchlinger

Filmschaffende und freie Autorin

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17. April 2021 um 09:33

«Vielleicht braucht es mehr Hinsehen, bevor man schade sagt»

Unserer Autorin wird oft die Frage gestellt, wo denn der Vater ihres Sohnes sei. Sie blickt zurück auf die frühen Babyjahre und findet: «Ich möchte auf keinen Fall die Vaterfigur an sich hinterfragen jedoch sagen, dass wir nicht per se unvollständig sind und es nicht in allen Lebenslagen ‹besser› ist. Vielleicht kommt es auch darauf an, wie toll die Option ‹mit Vater› neben der Option ‹ohne Vater› ist?»

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Illustration: Artemisia Astolfi

Auch Alleinerziehende machen Urlaub und dies übrigens nicht immer mit befreundeten Familien, man möchte ja auch mal Quality Time – mit der eigenen Familie. Ich habe mit meinem Sohn unsere mallorquinische Finca in einem idyllischen Bauernhof auf dem Land bezogen und spaziere über die Fussballwiese neben dem Schafzaun, wo man die ersten Kontakte mit anderen Familien knüpft. Sie fragt mich ob wir «nur» zu zweit hier seien. Auf meine Gegenfrage, zu wievielt sie denn hier seien, schaut sie mich etwas erstaunt an und antwortet mit einer ausladenden Handbewegung, die die Selbstverständlichkeit unterstreichen soll: «Na ja, zu viert halt.»

Dass ich abends unbeschwert bei besagter Familie am Tisch sitze zeigt, wie gewohnt ich solche Small-Talk-Versuche mittlerweile bin. Die Kinder meiner neuen Bekanntschaft fragen mich geradeheraus mit einer angenehmen vorpubertären Frische, warum wir denn so alleine da sind. Ich muss lachen und lasse meinen Sohn antworten, der sagt: «Mein Papa wohnt woanders, weil der dort arbeitet». Und gut ist.

Auf dem Spielplatz weckten wir die Penner, die mit der Wodkaflasche in der Hand zerknittert aus dem Rutschbahnhäuschen krochen. Die grelle Sonne schmerzte mir in den Augen und ich betete mir innerlich meine To-Do-Liste für den Tag runter.

Sophie Blöchlinger

Beim Dessert fragt mich der deutschsprechende Vater auf ENGLISCH (damit mein Sohn, der bestimmt mit dem Thema vorbelastet ist, kein erneutes Trauma erleidet) quer über den Tisch: «are you in contact with his father?». Ich werfe ihnen nichts vor, es scheint mir fast als würden sie mir den Gefallen tun wollen, endlich den rosa Elefanten im Raum anzusprechen. Ich verneine und kenne die Reaktion die kommt – Betroffenheit. Die Mutter sagt «wie schade» und ich frage mich: Warum findet sie das schade? Ich finde doch auch nicht schade, dass sie zuhause keinen Berberteppich liegen hat obwohl ich nicht weiss, wie der aussieht und ob der zu ihrem Tisch passt.

Aus Notwehr würde ich ihnen gerne erzählen, wie froh ich bin, dass ich nicht nach einer Woche schon meinen Urlaub beenden muss, weil mein Partner weniger Ferientage bekommen hat, dass ich abends meine Bücher lesen und mich nicht fragen muss, ob wir wiedermal Sex haben sollten. Das Allerbeste ist eigentlich: Ich bin immer an allem Schuld, wenn mal was schief läuft und rege mich wenn überhaupt nur über mein trotzendes Kind auf. Doch ich denke, das wäre so ungefragt dann doch ein ziemlicher Schuss nach hinten. Also lächle ich und stochere in meiner Paella rum.

In das Gespräch einhaken und meinen Zivilstand zu erklären, würde automatisch bedeuten mich mit dem ihrigen zu vergleichen. Das habe ich lange getan, finde es mittlerweile aber todlangweilig, über einen Umstand zu sinnieren, an dem ich nichts zu verändern vermag. Auch bin ich ein Kind der 90er und somit ein Disney-Opfer. Ich war ein Leben lang davon überzeugt, dass ich mit einem Mann eine Familie gründen würde und war angemessen schockiert als es anders kam.

Ich sass abends um halb zehn in meiner von der Abendsonne hell erleuchteten Wohnung, während draussen das Fussvolk Aperol Spritz in sich hineinschüttete und versuchte meinem erschöpften Körper klarzumachen, dass jetzt Schlafenszeit ist. Es gab keine Nächte, in denen ich im anderen Zimmer mal durchschlafen konnte oder die Morgenbetreuung mit jemanden teilen konnte. Es war jeden Morgen 5.30 Uhr. Immer. Ich dachte, für den Rest meines Lebens. Ich war so verzweifelt, dass ich eine Weile lang sogar versuchte, die Ritzen meines Schlafzimmers mit schwarzem Gaffatape zu verkleben in der irrwitzigen Annahme, mir mit dem zeitlich verzögertem Lichteinfall morgens ein paar zusätzliche Schlafminuten zu ermogeln.

Auf dem Spielplatz weckten wir die Penner, die mit der Wodkaflasche in der Hand zerknittert aus dem Rutschbahnhäuschen krochen. Die grelle Sonne schmerzte mir in den Augen und ich betete mir innerlich meine To-Do-Liste für den Tag runter. Bald schon fing ich an, meine Zeit aufzuteilen in «einarmige»Aktivitäten – solche, die man mit Kind in Fliegerstellung absolvieren konnte und «zweiarmige» – Dinge, die erledigt werden mussten wenn er schlief.

Trotz des Verlustes meines einen Armes hatte ich im Gegensatz zu Zweielternpaaren immerhin meinen Namen behalten.

Sophie Blöchlinger

Sobald das Stillen vorbei war und die Wachphasen länger wurden, kam ich öfters auch mal tagelang nicht aus dem Haus. Bis ich den Brei gekocht und die Snacks abgepackt hatte, war der Mittagsschlaf vorbei und es hatte fürs Duschen nicht mehr ausgereicht. Falls ich es dann doch mal wagte, stellte ich ihn in seiner Wippe vor die Wanne. Weil er jedesmal einen Schreikrampf bekam, wenn er mich nicht mehr sah, duschte ich sitzend mit offenem Vorhang und einer Hand aus der Wanne hängend in seinem Fäustchen verkeilt. Mit Haarewaschen wurde es schwierig also schnitt ich sie mir bald ab. Ganze zwei Jahre lang war ich kein einziges Mal alleine auf dem Klo.

Die Abende setzte ich dafür ein, die Sachen zu erledigen, bei denen ich länger als eine Minute am Stück einen Gedanken ausformulieren musste. Zum Beispiel, ob und wann man impfen soll, wie ich das Babyphone reparieren könnte oder die verklemmte Schraube am Beistellbett löse. Die körperlichen Auswirkungen dieses akuten Schlafmangels und der ständigen Stimulation meiner Hirnzellen verursachten bei mir regelmässige neurologische Meltdowns, die nicht helfen, wenn nach drei Monaten der Mutterschutz vorbei ist und man auch die finanziellen Belange alleine stemmen muss.

Die Kita kündigte einen gemeinsamen Tagesausflug an. Ich fürchtete mich vor einer Schar «intakter» Familien, die mich wie gewohnt mit Komplimenten zu meinem «Alleingang» überhäufen würden um zu demonstrieren, dass sie die «Situation» registriert hatten. Doch es kam anders. Mütter versuchten, sich mit anderen Müttern über Milchpulver auszutauschen, wurden aber bei ihren Gesprächen immer wieder unterbrochen, weil ihre Partner sie regelmässig mit Fragen bombardierten wie: «Schatz, wo ist der Schnuller? Schatz, wo sind die Windeln?» und die dann antworteten «dass weiss ich doch nicht, Schatz», «Schau doch mal selbst nach, Schatz».

Trotz des Verlustes meines einen Armes hatte ich im Gegensatz zu Zweielternpaaren immerhin meinen Namen behalten und sparte mir ausserdem Kraft, die sonst einer Debatte über Zuständigkeit zum Opfer gefallen wäre. Zudem kam bei mir die Hoffnung gar nicht erst auf, ein Gespräch über Milchpulver führen zu können und ich musste mich auch nicht ärgern, dass niemand wusste, wo der Schnuller ist.

Ich hatte ihn selbst eingepackt und mich voll und ganz auf einen Tag im Dienste meines Kindes eingestellt. Dass mich diese bedingungslose Hingabe oft nicht ganz erfüllte, war eine Sache, aber dass diese unumstösslich erforderlich war, stand ausser Frage und ersparte mir eine ganze Menge Frust über nicht erfüllte Erwartungshaltungen. Nachdem am Abend die Väter die Familienautos bis zum Parkeingang angekarrt hatten und die Meute in der Dämmerung zum Abendschmaus verschwunden war, sassen mein Sohn und ich noch lange auf dieser Wiese. Er zerpflückte die zurückgelassenen Aldi Chips und ich konnte alleine entscheiden, dass es mir grad egal war. Dann gönnten wir uns ein Taxi und einen Kebap am Kotti.

Mehr als einmal haben mir wildfremde Männer ungefragt erklärt, warum ein Kind einen Vater braucht.

Sophie Blöchlinger

Auch wenn ich anfangs von einem paradiesischen Paralleluniversum mit vier Armen phantasierte, habe ich in den wundervollen konsensorientierten Vergleichsdiskussionen mit meinen Schweizer Mitmenschen gelernt, dass es immer eine Kehrseite der Medaille gibt. Wenn ich zugebe, dass es hart ist, versucht mich mein Gegenüber auf die Vorteile aufmerksam zu machen und wenn ich versuche mit heroischem Optimismus der Mitleidsschiene zu entgehen, wird mir erzählt, wieviel einfacher es zu zweit ist – verpackt in «Schau mal, was du alles alleine machst, wobei mir sonst mein Mann hilft». Aber dass wir zwei sich gegenüberliegende Fronten sein sollen, das leuchtet mir nicht ein. Wir haben alle unsere Geschichte und unsere Kinder nehmen sie mit, die eines fehlenden Vaters oder eben eine andere.

Die Frage nach seinem Vater wird auch bei meinem Sohn kommen, nicht nur, weil er seinen Horizont auf die ganze Welt ausbreiten und feststellen wird, dass wir eine – zwar konventionell vorgegebene – aber doch eine Ausnahme sind, sondern auch weil er wissen will, woher die schwarzen Augen kommen und in sich Temperaturen erspüren wird, die sich in seiner Mutter nicht wiederfinden. Als Baby schon wurde er ganz ruhig, wenn er bei einem Mann auf dem Schoss sass, er spürte, dass das andere Schwingungen sind, ähnlicher den seinen. Ich sehe, wie sich seine Sprache verändert und das Bedürfnis seine Umgebung zu beeindrucken stärker wird, wenn Männer dabei sind. Aber ganz ehrlich, dass manche Kinder in gewissen Situationen noch nicht ganz eingespurt sind, sehe ich auch bei solchen mit Vätern.

Mehr als einmal haben mir wildfremde Männer, meistens Väter von Urlaubsbekanntschaften, ungefragt erklärt, warum ein Kind einen Vater braucht, da meine blosse Existenz offensichtlich Gegensätzliches konstatiert. Ich möchte auf keinen Fall die Vaterfigur an sich hinterfragen jedoch sagen, dass wir nicht per se unvollständig sind und es nicht in allen Lebenslagen «besser» ist. Vielleicht kommt es auch darauf an, wie toll die Option «mit Vater» neben der Option «ohne Vater» ist? Und vielleicht braucht es mehr Hinsehen, bevor man «schade» sagt.

Autorin Sophie Blöchlinger
Sophie Blöchlinger wuchs als Scheidungspendlerin zwischen zwei Welten auf. Den Alltag verbrachte sie in Zürich mit ihrer alleinerziehenden Pianisten-Mutter und einem grossen Flügel im Wohnzimmer, die schulfreien Tage im dörflichen Turgi bei Baden bei ihrem Komponisten-Vater, seiner Patchwork Familie und seinen selbstgebauten Musikinstrumenten, die auf drei Haushalte verteilt waren und in denen ebenso viele Stief-Halbgeschwister und Ex-Partner wohnten. Mit 16 verliess sie die Schule, um Spanisch und Französisch zu lernen, servierte Tapas in Barcelona und führte Tourist*innen durch die marokkanische Wüste.

Mit 18 kehrte sie nach Zürich zurück und pendelte erneut zwischen zwei Realitäten, während sie in Durchgangszentren Deutsch unterrichtete, aber vor allem Ausweisungsaufforderungen für die Asylbeantragenden übersetzte und gleichzeitig in überteuerten Privatschulen reichen Brasilianerinnen beibrachte, auf Deutsch bei Chanel einzukaufen. Nach fünf Jahren hingebungsvoller Auseinandersetzung mit Satz- und Literaturanalyse in vier Sprachen, verliess sie die akademische Laufbahn mit einem Bachelorabschluss in Linguistik und einer bestandenen Zwischenprüfung zur Simultanübersetzerin endgültig und erinnerte sich an ihre ursprüngliche Leidenschaft – das Geschichten erzählen.

Nach einem Praktikum bei einer der grössten Spielfilmproduktionen der Schweiz und einem Vormittag im verrauchten Stübchen eines Filmeditors beschloss sie, sich dem Filmschnitt zu widmen. Als gebürtige Pendlerin wurde ihr die Schweiz schnell zu eindimensional, sie zog nach Berlin-Kreuzberg und arbeitete im europäischen Raum als selbstständige Werbe- und Spielfilmeditorin. Mittlerweile lebt Sophie wieder in Zürich und war für den Schweizer Filmpreis in der Kategorie «Beste Montage» nominiert. Um der Atemnot Erleichterung zu verschaffen, die entsteht, wenn sie sich zu lange an einem Ort aufhält, bereist sie mit ihrem Sohn die Welt, wärmt die Babyfläschchen über einem Holzofen in der chilenischen Pampa und besucht ausgedehnte Yogaworkshops an thailändischen Stränden, während ihr Sohn mit den Besitzern einer Kampfgockelfarm Schweinesuppe kocht. Sie hat vor, noch viele Daseinsformen auszuprobieren.
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Kolumnen-Serie
Sie glauben, dass diese Welt ein anderer Ort wäre, würde jede:r von uns etwas kritischer mitdenken. Schubladen? Nein Danke. Sie fordern mehr Daseinsberechtigung von ambivalenten Zuständen. Ein bisschen mehr fragen und weniger annehmen. Und neue Kästchen zum ankreuzen auf den Online-Formularen dieser Stadt, in der sie alle leben und lieben. Unsere drei neuen Kolumnistinnen Jessica Sigerist, Gründerin des Sexshops untamed.love, Andrea Pramor und Alex Büchi vom Zentrum für kritisches Denken sowie die Filmschaffende Sophie Blöchlinger werden an dieser Stelle jeden Samstag (mit Ausnahme des Letzten des Monats) ihre ganz persönlichen Geschichten mit dir teilen.

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