«Es gibt mich sehr wohl» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Sophie Blöchlinger

Filmschaffende und freie Autorin

email

20. März 2021 um 08:26

«Es gibt mich sehr wohl»

Früher tingelte Sophie Blöchlinger zwischen Zürich und Berlin hin und her. Immer gut angezogen, meistens ehrgeizig, oft verkatert und grösstenteils mit sich selbst beschäftigt. Bis zur Geburt ihres Sohnes. Eine Kolumne über das Alleinerziehend-Sein in einem System, in dem dieses «Modell» nicht vorgesehen ist.

Mood image for «Es gibt mich sehr wohl»

Illustration: Artemisia Astolfi

Letztes Jahr fragte mich die Redaktionsleiterin dieses Magazins, ob sie über meine Begegnungen als Alleinerziehende mit dem anderen Geschlecht schreiben darf. Der Beitrag generierte im Mamablog des «Tages-Anzeigers» über 40’000 Klicks und etliche Kommentare von besorgten Leser*innen über das Wohl meines Kindes, das vollkommen verwahrlost sein müsse, wenn ich als Mutter immer noch das Gefühl habe, eigene Bedürfnisse, wie zum Beispiel Sex, anmelden zu dürfen. Das Fazit der Meisten war dann, dass es mich gar nicht gibt weil eine Frau – die alleine mit einem Kind dasteht und dabei nicht das Gefühl hat, dass in ihrer Biographie etwas schiefgelaufen ist – ein Phantasieprodukt der skandalheischenden Journalistin sein müsse. Dazu möchte ich sagen: Mein Name ist zugegebenermassen nicht Paula, aber es gibt mich sehr wohl.

Es gab mich übrigens auch schon vor der Geburt meines Kindes – da war ich noch leichter verdaulich und in meiner Spezies weiter verbreitet. Ich tingelte fröhlich zwischen Berlin und Zürich hin und her, klapperte mit meinen hohen Absätzen durch den Terminal A, immer geschminkt, gut angezogen, meistens ehrgeizig, oft verkatert. Ich war grösstenteils mit mir selbst beschäftigt – was gut war, denn das gehört in die Zwanziger – kümmerte mich hingebungsvoll um meine heranwachsende Karriere und hätte um keinen Preis an einem Wähenzmittag im Gemeinschaftszentrum Wipkingen teilgenommen.

Ich war zu dem geworden, was ich sonst nur mit einer Prise Mitleid aus der Ferne betrachtet hatte.

Sophie Blöchlinger

Im Oktober 2015 lag ich im Kreissaal des Unispitals Zürich, wohin ich von einer guten Freundin begleitet wurde. Spontan – insofern man das nach 20 Stunden Wehen sagen kann – fiel der Entscheid zu einem Kaiserschnitt. Die Ärzte verweigerten meiner Begleitung den Gang in den Operationssaal mit der Begründung, dass dort nur Väter zugelassen seien. «Sehen Sie hier irgendwo einen Vater?», brüllte sie die Belegschaft an. Nach einem kurzen Moment allgemeiner Beklemmung stapfte sie entschieden neben meinem rollenden Bett dem OP-Saal entgegen, während ich weit weniger entschieden, fluchend meiner Zukunft als alleinerziehenden Mutter entgegendonnerte.

In diesem Moment fing ich an zu ahnen, dass ich eine Abzweigung genommen hatte, die mich von der grossen Herde abtrennte und einer kleineren zugehörig machte. Dieses «Downgrading» widerstrebte mir aus tiefstem Herzen und ich strampelte mich halbtot bei dem Versuch, der Welt zu beweisen, dass ich auch mit Kind das schillernde Jet-Set-Wesen meiner jüngsten Vergangenheit am Leben zu erhalten vermochte.

Dass ich daraufhin haarscharf an einer Erschöpfungsdepression vorbeischlitterte, hatte aber nicht nur mit meiner Furcht vor der angestaubten und doch sehr düsteren Schublade der Alleinerziehenden zu tun, sondern war hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass die Doppelbelastung von «Alleinversorgerin» und «Alleinerziehend» schlicht nicht zumutbar ist.

Erschöpfungsdepressionen kommen bei Alleinerziehenden in den ersten Babyjahren drei mal öfters vor als bei Müttern mit Partnern. Ich kann diese Anfangsjahre nicht beschönigen. Ich war zu dem geworden, was ich sonst nur mit einer Prise Mitleid aus der Ferne betrachtet hatte: Müde bis in die Knochen und meine «Situation» – ein unangenehmes Gesprächsthema. Bei meinen Versuchen, wieder an ein Leben ausserhalb anzudocken, stieg in mir bald der Verdacht auf, dass nicht nur ich unter «Chötzlilumpen» und Stilleinlagen begraben die Welt ein bisschen vergessen hatte, sondern sie mich in gleichem Masse.

Egal wie ich mich verhielt, ich schämte mich. Entweder, weil ich zu viel oder zu wenig gesagt hatte.

Sophie Blöchlinger

Das Familienmodell meiner Pensionskasse gab es nur mit finanziellen Zugeständnissen an den Lebenspartner, wiederum war im Single-Modell mein Kind nicht mitversichert. Die Dame am Telefon war ratlos. Nicht weniger ratlos war ich – konfrontiert mit Berliner Kita-Schliesszeiten bereits um 16 Uhr. Auf Nachfrage, wie ich so einen Arbeitsalltag bewältigen sollte, wurde ich darüber aufgeklärt, dass sie nicht von zwei Vollzeit arbeitenden Elternteilen ausgehen würden und es drinliegen müsse, dass man sich die Restbetreuung mit dem Partner teilt.

Hotels warben kinderfreundlich «ohne Aufpreis für den Nachwuchs», verrechneten mir und meinem Sohn jedoch das Doppelte, weil das Angebot nur bei zwei zahlenden Erwachsenen galt. Beim Check-in am Flughafen wunderte ich mich, wie ich mein krabbelndes Kind inklusive Windeltasche und Rucksack mit Brei-Proviant wieder die Treppe hoch hieven sollte, wenn ich den Kinderwagen bei Bulky Items im Keller abgeben muss. Daraufhin wurde ich von der Mitarbeiterin darüber aufgeklärt, dass ich halt das nächste mal den «Papi» mitnehmen müsse. Ich brüllte sie an, der «Papi» sei tot – obwohl das gar nicht stimmt. Die besorgte Leserschaft kann ich an dieser Stelle beruhigen – mein Sohn entrümpelte derweil den Mülleimer ausser Hörweite.

Die Orientierungslosigkeit, die mein jeweiliges Gegenüber bei meinem Anblick – Einzelperson mit Kind – ergreift, färbte damals auf mich ab. Ich war in den Köpfen der anderen zu «etwas» geworden, dessen Existenz man nicht auf Anhieb in Betracht zieht und auf das ich aufmerksam machen muss, wenn ich wahrgenommen werden will. Da ich die mitleidige Stille nach meinem «Outing» jeweils nicht ertrug, verzettelte ich mich wildfremden Menschen gegenüber in ausufernden, philosophischen Ergüssen über die Liebe, um zu rechtfertigen, warum ich mich nicht in eine ungewollte Beziehung zwängen kann oder machte hilflose Witze zum Thema Verhütung. Egal wie ich mich verhielt, ich schämte mich. Entweder, weil ich zu viel oder zu wenig gesagt hatte.

Spätestens während des ersten Lockdowns wurde mir klar, dass mein Status nicht nur in den Köpfen meiner Mitmenschen, sondern auch in der bürokratischen Welt eine fatal mangelnde Präsenz verzeichnet. Als die Kitas schlossen, musste ich eine finanzielle Überbrückung beantragen, weil die Kinder nur noch «innerhalb der Familie» betreut werden durften – also von mir. Jedoch stürzte die dafür eingerichtete Online-Plattform kommentarlos ab, wenn die Zeile mit der Sozialversicherungsnummer des zweiten Erziehungsberechtigten leer blieb.

Gerne möchte ich auch dem Rest der Welt sagen, dass es uns gibt.

Sophie Blöchlinger

Auf dem nächsten Formular konnte man nur maximal 50 Prozent Arbeitsausfall beantragen, weil die verbleibenden 50 Prozent der Partner einreichen müsse. Als ich dann auch noch an Corona erkrankte, wollte die Frau vom BAG wissen, seit wann ich mich von meiner Familie sprich meinem Sohn isoliert hätte, um die Quarantänezeit zu berechnen. Nach meinen Ausführungen versprach sie mir einen Rückruf, weil sie die «spezielle» Situation erst mit ihrem Vorgesetzten besprechen müsse. Der Rückruf kam nie.

Dass ich meinen Status der jungen Jetsetterin hinter mir gelassen habe, schmerzt mich mittlerweile nicht mehr so sehr. Es war ein kurzer freier Fall durch die erschöpfenden Babyjahre und ein trauriger Moment der Fehlannahme, dass ich niemand mehr bin, weil die anderen nicht mehr wussten, dass ich überhaupt bin. Gerne möchte ich nicht nur den «Tagi»-Leser*innen sondern auch dem Rest der Welt sagen, dass es uns gibt. Aktuell 207’000 Eineltern-Haushalte in der Schweiz. Die sich bestimmt auch über ein eigenes Kästchen auf den Online-Formularen freuen würden.

Autorin Sophie Blöchlinger
Sophie Blöchlinger wuchs als Scheidungspendlerin zwischen zwei Welten auf. Den Alltag verbrachte sie in Zürich mit ihrer alleinerziehenden Pianisten-Mutter und einem grossen Flügel im Wohnzimmer, die schulfreien Tage im dörflichen Turgi bei Baden bei ihrem Komponisten-Vater, seiner Patchwork Familie und seinen selbstgebauten Musikinstrumenten, die auf drei Haushalte verteilt waren und in denen ebenso viele Stief-Halbgeschwister und Ex-Partner wohnten. Mit 16 verliess sie die Schule, um Spanisch und Französisch zu lernen, servierte Tapas in Barcelona und führte Tourist*innen durch die marokkanische Wüste.

Mit 18 kehrte sie nach Zürich zurück und pendelte erneut zwischen zwei Realitäten, während sie in Durchgangszentren Deutsch unterrichtete, aber vor allem Ausweisungsaufforderungen für die Asylbeantragenden übersetzte und gleichzeitig in überteuerten Privatschulen reichen Brasilianerinnen beibrachte, auf Deutsch bei Chanel einzukaufen. Nach fünf Jahren hingebungsvoller Auseinandersetzung mit Satz- und Literaturanalyse in vier Sprachen, verliess sie die akademische Laufbahn mit einem Bachelorabschluss in Linguistik und einer bestandenen Zwischenprüfung zur Simultanübersetzerin endgültig und erinnerte sich an ihre ursprüngliche Leidenschaft – das Geschichten erzählen.

Nach einem Praktikum bei einer der grössten Spielfilmproduktionen der Schweiz und einem Vormittag im verrauchten Stübchen eines Filmeditors beschloss sie, sich dem Filmschnitt zu widmen. Als gebürtige Pendlerin wurde ihr die Schweiz schnell zu eindimensional, sie zog nach Berlin-Kreuzberg und arbeitete im europäischen Raum als selbstständige Werbe- und Spielfilmeditorin. Mittlerweile lebt Sophie wieder in Zürich und war für den Schweizer Filmpreis nominiert. Um der Atemnot Erleichterung zu verschaffen, die entsteht, wenn sie sich zu lange an einem Ort aufhält, bereist sie mit ihrem Sohn die Welt, wärmt die Babyfläschchen über einem Holzofen in der chilenischen Pampa und besucht ausgedehnte Yogaworkshops an thailändischen Stränden, während ihr Sohn mit den Besitzern einer Kampfgockelfarm Schweinesuppe kocht. Sie hat vor, noch viele Daseinsformen auszuprobieren.
Article image for «Es gibt mich sehr wohl»
Kolumnen-Serie
Sie glauben, dass diese Welt ein anderer Ort wäre, würde jede:r von uns etwas kritischer mitdenken. Schubladen? Nein Danke. Sie fordern mehr Daseinsberechtigung von ambivalenten Zuständen. Ein bisschen mehr fragen und weniger annehmen. Und neue Kästchen zum ankreuzen auf den Online-Formularen dieser Stadt, in der sie alle leben und lieben. Unsere drei neuen Kolumnistinnen Jessica Sigerist, Gründerin des Sexshops untamed.love, Andrea Pramor und Alex Büchi vom Zentrum für kritisches Denken sowie die Filmschaffende Sophie Blöchlinger werden an dieser Stelle jeden Samstag (mit Ausnahme des Letzten des Monats) ihre ganz persönlichen Geschichten mit dir teilen.

1. Wie soll ich's den Kindern sagen?
2. Zwei gescheiterte Romantikerinnen rechnen ab
3. «Es gibt mich sehr wohl»
4. Meine monogame Freundin
5. Niemand ist Single
6. «Vielleicht braucht es mehr Hinsehen, bevor man schade sagt»
7. «Wie ist das denn so mit dir und den Männern?»
8. Ich bin bi
9. Alternative Beziehungsformen: «Langfristig funktioniert das nicht»
10. Die Sache mit den Erwartungen

Dieser Artikel wurde automatisch in das neue CMS von Tsri.ch migriert. Wenn du Fehler bemerkst, darfst du diese sehr gerne unserem Computerflüsterer melden.

Das könnte dich auch interessieren