Auch Linke in Zürich denken: «Antisemitisch sind die anderen»

Um die pro-palästinensische Bewegung in Zürich ist es leiser geworden. Umso mehr fällt die immer grössere Zahl an Graffitis auf, welche Expert:innen als antisemitisch einordnen. Die Stadt übermalt sie, doch die Debatte darum fehlt.

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Wo ist die Grenze zwischen Palästina-Solidarisierungen und Antisemitismus? (Bild: Mara Dominique Schneider)

Während die Bilder aus dem Nahen Osten unerträglich bleiben, scheint der Gaza-Krieg in Zürich in den Hintergrund der kollektiven Wahrnehmung gerückt zu sein: Proteste und Kundgebungen sind in den vergangenen Monaten seltener geworden, öffentliche Diskussionen rarer. 

Was sichtbar bleibt: Graffitis, die als antisemitisch und als Aufruf zur Gewalt verstanden werden können. Ende Juli wurde beim Oberen Letten nicht nur der gängige Leitspruch der Pro-Palästina-Bewegung «Free Palestine» gesprayt, sondern auch die Parole «Smash Zionism» mit dem bekannten roten Dreieck in der Mitte, das unter anderem die Hamas verwendet, um ihre Feind:innen zu markieren. Auch der umstrittene Slogan «From the River to the Sea» und der Aufruf zur «Intifada» prangten auf der grossen Mauer.

Bis zur physischen Gewalt

Diskussionen über solche Parolen polarisieren in linken Kreisen. Und vielleicht deshalb, weil die Fragen dazu klein erscheinen mögen, wenn man an das grosse Leid denkt, das der Krieg der Zivilbevölkerung in Gaza derzeit beschert. Doch nicht zuletzt der Kontext nötigt dazu, auch hier genau hinzuschauen: 

Laut dem jüngsten Antisemitismus-Bericht des Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) haben die Terroranschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 eine «regelrechte Antisemitismuswelle» in der Schweiz ausgelöst.

Eine Auswahl aus Zürich: Anfang Juli wurden eine Galerie mit jüdischer Inhaberin und eine, die jüdische Künstler:innen ausstellte, mit Schmierereien beschmutzt. An Demonstrationen waren vereinzelt Holocaust-Verharmlosungen zu vernehmen und auch die roten Dreiecke sind inzwischen an zahlreichen Orten der Stadt zu sehen. Besonders traurig ist der Messerangriff auf einen orthodoxen Juden im März dieses Jahres.

Wir wollen den Aktivismus kritisch unter die Lupe nehmen: Wo liegen die Grenzen zwischen Palästina-Solidarisierungen und Antisemitismus, und wo werden sie überschritten?

Stadt übermalt fragliche Graffitis 

In einem Video auf Instagram zeigt die linke Organisation «Revolutionäre Jugend Zürich» (RJZ), wie sie die Graffitis am Oberen Letten sprayen, verschiedene Kanäle pro-palästinensischer Protestbewegungen reposten und kommentieren zustimmend. In den Medien reagiert die jüdische FDP-Kantonsrätin Sonja Rueff-Frenkel mit einer scharfen Verurteilung. Sie sieht darin einen Aufruf zu Hass und Antisemitismus, woraufhin sie in den sozialen Medien als «Zionistin» verhöhnt wird.  

Auch die Stadt ordnet Teile der Graffitis als problematisch ein und beantragt die Übermalung. Massgeblich hierfür ist die Richtlinie, dass Graffitis und Schriftzüge, die antisemitische, rassistische, sexistische oder auf andere Weise diskriminierende Aussagen beinhalten oder zu Gewalt aufrufen, entfernt werden müssen. Daniel Bekcic, Sprecher von Immobilien Stadt Zürich, erklärt im Gespräch, dass es nach dem Fall beim Letten eine Differenzierung dieser Regelung bei der Stadt gab. «Beim letzten grossen Graffiti am oberen Letten wurden ‘Free Palestine’ und die arabische Übersetzung sowie die Melone stehengelassen.

Entfernt wurden das rote Dreieck und ‘Smash Zionism’, der Aufruf zur ‘Intifada’ und ‘From the River to the Sea’, da diese Parolen als antisemitisch oder als Aufruf zur Gewalt verstanden werden können», sagt Bekcic. Und er schiebt nach: Die Regelung werde eher strikt angewendet, um zu vermeiden, dass sich Menschen diskriminiert fühlen. Dass vor dieser Differenzierung auch «Free Palestine»-Graffitis übermalt wurden, ist nicht auszuschliessen. Es sei nach «bestem Wissen und Gewissen» gehandelt worden, so Bekcic.

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Es geht auch differenziert: Ein Graffiti-Diskurs zum Nahostkonflikt an der Kanonengasse (Bild: Tsüri.ch / Kai Vogt)

«Rote Linien sind überschritten, wenn man mit der Hamas sympathisiert»

Um die Positionen der Verantwortlichen zu verstehen, wandte sich Tsüri.ch mit Gesprächsanfragen an pro-palästinensische Organisationen in Zürich, die in den sozialen Medien oder bei Protesten mit umstrittenen Parolen aufgefallen sind – doch Kontaktversuche liefen oft ins Leere. Anrufe blieben unbeantwortet, angekündigte Rückrufe blieben aus. Trotz zahlreicher Versuche konnten keine Stellungnahmen der fraglichen Organisationen eingeholt werden.

 

  • Korrigendum: Im Artikel steht, dass trotz zahlreicher Anfragen an verschiedene Gruppen niemand für ein Gespräch bereit war. Die Anfrage an den Instagram-Account «Pal Action Swiss» wurde von uns zwar abgeschickt, kam auf der anderen Seite aber nicht an, was wir bedauern. Dies konnte nun geklärt werden. Unser Gesprächsangebot besteht nach wie vor. (22. August, 16:41)

Personen, die sich gut in der linken Szene auskennen, sprechen von einer grossen Fragmentierung bei linken Kreisen in Fragen rund um den Nahostkonflikt. Und sie betonen, dass es sich um eine kleine Gruppe handle, die aus dem Umfeld der RJZ, dem «Palestine Comittee Zurich» und des Instagram-Kanals «Pal Action Swiss» stammen, die mit antisemitischen Grenzüberschreitungen auffallen. Aber auch innerhalb dieser Organisationen gebe es Kritik daran.

Weshalb es Grenzüberschreitungen sind, weiss Philip Bessermann, Geschäftsleiter der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA): «Rote Linien sind dann überschritten, wenn man mit der Hamas sympathisiert, zur Intifada aufruft oder auch Nazi-Vergleiche anstellt», sagt er. Und auch beim Aufruf «Smash Zionism» sei Vorsicht geboten.

Die grosszügige Interpretation dieser Aussage sei, sie richte sich gegen die israelische Regierung sowie sie rufe zu Solidarität mit den Palästinenser:innen auf. Die weniger grosszügige Interpretation ist, dass «Smash Zionism» das Streben von Jüdinnen:Juden nach einer sicheren Heimstätte nach dem Holocaust aberkennt: «Im Prinzip wird damit jüdischen Menschen abgesprochen, dass sie ein sicheres Zuhause, quasi einen Panic Room haben.»

«Sehr wenig Interesse an Emotionen der Jüdinnen:Juden»

Auch Christina Späti, Geschichtsprofessorin an der Uni Fribourg und Antisemitismus-Expertin, kennt sich mit den Nuancen aus. Für sie stellt sich jeweils die Frage, was die Parolen im Anwendungsfall bedeuten würden. «Was wäre denn mit den Jüdinnen:Juden, wenn es Israel als zionistischen Staat nicht mehr gäbe?» Die Sorge sei berechtigt, dass mit den Parolen eine Vertreibung der jüdischen Bevölkerung in Israel gemeint sei. «Und wenn man um diese Sorgen weiss und die Slogans dennoch weiter benutzt, zeigt man bewusst sehr wenig Interesse an den Emotionen der Jüdinnen:Juden», sagt Späti.

Bei diversen Hintergrundgesprächen mit linken Aktivist:innen wird immer wieder argumentiert, der Fokus auf die Massaker im Gaza-Streifen sei relevanter als die Diskussion über Antisemitismus in Zürich. Im O-Ton: Das Leid der palästinensischen Bevölkerung ist grösser als die Betroffenheit der jüdischen Bevölkerung in Zürich bei einem fragwürdigen Graffiti.

Das erweckt den Eindruck, es handle sich hier um ein Nullsummenspiel: Als würde die Solidarität mit einer betroffenen Gruppe zwangsweise die Solidarität mit einer anderen schmälern. 

Unkritisch gegenüber der Hamas

Es stellt sich die Frage, weshalb nicht auf Symbole und Slogans verzichtet wird, die diskriminierend wirken können und auch von der Terrororganisation Hamas verwendet werden. Wie kommt es zur Querfront zwischen einigen Linken und radikalen Islamist:innen? Verschiedene Debattenbeiträge auf internationalen Plattformen (zum Beispiel hier auf Mondoweiss) legen nahe, dass der palästinensische Widerstandskampf gegen Israel einend wirkt und andere ideologische Differenzen in den Hintergrund treten. 

Mit dieser Nähe von einigen Linksradikalen zur Hamas, deren erklärtes Ziel die Auslöschung Israels ist, ist bei weitem nicht die ganze Linke einverstanden. Auch in Zürich wird kritisiert, dass einige Revolutionäre «Hand in Hand mit Hamas» kämpfen. Und es gibt berechtigte Zweifel daran, dass diese Querfront der palästinensischen Sache dient.

Für Mirjam Hostetmann, Präsidentin der JUSO Schweiz, ist klar: «Wenn sich Jüdinnen:Juden diskriminiert fühlen, dann sollten bei uns auch die Alarmglocken läuten. Antisemitismus ist tief in unserer Gesellschaft verankert, niemand ist davon gefeit.» Sie fügt aber auch an, dass Antisemitismusvorwürfe nicht missbraucht werden dürften, um die Verbrechen der israelischen Regierung klein zu reden. Hier bräuchte es bei den Linken eine klare Haltung, so Hostetmann.

«Antisemitisch sind jeweils die anderen»

Auffallend ist, dass auf die Konfrontation einiger Gruppen mit dem Vorwurf des Antisemitismus eine reflexartige Zurückweisung folgt. Auf eine eingehende Auseinandersetzung mit der Problematik deutet dies nicht hin. «Antisemitisch sind jeweils die anderen. Das Wort wird oft benutzt, um die politische Gegnerschaft zu kritisieren», sagt Späti. Im aktuellen politischen Diskurs werde der Vorwurf vor allem von rechter Seite benutzt, um gegen die migrantische Bevölkerung Stimmung zu machen. «Es scheint mir, dass es sich dabei aber mehr um die Politisierung des Schlagworts ‘Antisemitismus’ handelt und es nicht eine tiefgehende Debatte zum Thema angeregt hat.»

Bei diesem Phänomen wird auch von der Antisemitismus-Keule gesprochen: Der Vorwurf, antisemitisch zu sein, wird als Versuch abgetan, gewisse Stimmen zum Schweigen zu bringen. Späti sieht im Kontext der Debatte in der Schweiz eine Übertreibung: «Ich denke, diese Kritik wird auch verwendet, um sich nicht wirklich mit der eigenen Position gegenüber Israel auseinandersetzen zu müssen», sagt die Expertin. 

Gleichzeitig plädiert sie für einen sensibleren Umgang mit dem Vorwurf und vor allem für das Etablieren einer konstruktiven Debatte zum Thema. Ob die Graffitis nun stehen gelassen werden oder nicht, bleibt für sie sekundär. «Wenn man alles immer nur übermalt, können die Leute auch sehr einfach bei ihren Positionen bleiben. Das Wichtigste bleibt die Auseinandersetzung.»

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Kai Vogt

Kai hat Politikwissenschaften und Philosophie studiert und als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter der Zürcher Studierendenzeitung (ZS) das Treiben der Uni und ETH kritisch beleuchtet. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für 
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An der Universität Zürich hat Simon Politikwissenschaften und Publizistik studiert. Nach einem Praktikum bei Watson machte er sich selbstständig und hat zusammen mit einer Gruppe von motivierten Journalist:innen 2015 Tsüri.ch gegründet und vorangetrieben. Seit 2023 teilt er die Geschäftsleitung mit Elio und Lara. Sein Engagement für die Branche geht über die Stadtgrenze hinaus: Er ist Gründungsmitglied und Co-Präsident des Verbands Medien mit Zukunft und macht sich dort für die Zukunft dieser Branche stark. Zudem ist er Vize-Präsident des Gönnervereins für den Presserat und Jury-Mitglied des Zürcher Journalistenpreises. 2024 wurde er zum Lokaljournalist des Jahres gewählt.

Kommentare

Lucia Patané
22. August 2024 um 07:04

Wo ist die Grenze zwischen Palästina-Solidarisierungen und Antisemitismus?

Ein sehr guter Beitrag zur Aufklärung und Bewusstseinsbildung.

Sheila Nevasca
22. August 2024 um 12:50

Leider keine kritische Berichterstattung

Ihr macht euch zu einem Sprachrohr von FDP, der Stadt Zürich und politisch sehr eindeutig pro Israel gefärbten Stiftungen. Die Solidaritätsbewegung für Palästina in die Nähe zu Antisemitismus zu rücken - das kann ich tatsächlich in jedem Mainstream-Medium lesen. Und ja, es gibt positive Gegenbeispiele, wie die Berichterstattung von "baba news". Diese braucht zwar etwas mehr Mut, als bloss die dominanten Positionen wiederzukäuen aber bedeutet Menschen viel, die sich sonst nirgends in der Berichterstattung wiedererkennen. Die meisten Auftritte von Palästina-Solidaritätsgruppen scheinen mir recht moderat zu sein und hauptsächlich den Krieg der israelischen Armee anzuprangern. Wenn von diesen Aktivist:innen niemand mit euch sprechen will, dann sagt das viel aus..

Erich
22. August 2024 um 12:56

Stadt als Wort-Richterin?

Guter differenzierter Bericht. Ich dachte zuerst, es sei etwas fragwürdig/absurd, wie die Stadt mit ihrer Parolenprüferei vor der Graffiti-Entfernung vorgeht. Wenn aber wie hier im Artikel die Stadt das Vorgehen erklärt, dann scheint mir das für die Debatte förderlich zu sein. Ohne diesen Kontext bliebe die teilweise Entfernung aber unverständlich.

Werni Weber
27. August 2024 um 15:24

Menschenrechte

Der einfachste Massstab sind die Menschenrechte. Zum unglücklichen Begriff Antisemitismus, auch die Palästinenser:innen sind Semiten. Warum nicht einfach Antijudaismus? Zu Antisemitismus hilft die Jerusalemer Erklärung: https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf

Daniel Levi
27. August 2024 um 17:10

Der Antisemitismus ist kein Freifahrtssschein für Netanyahu!

Antisemitismus meint die systematische Anfeindung und Benachteiligung von jüdischen Menschen. Der Staat Israel steht nicht für den Judentum und handelt nicht als Jude. Die Kritik ä der zerstörerischen Kriegsführung und ausgeübten Kriegsverbrechen des Staates Israel ist kein Antisemitismus. Auch die Kritik der illegalen Besatzung Palestinas und der illegalen Siedlungsbaues ist kein Antisemitismus. Antisemitismus darf nicht als ein Freifahrtsschein für ein grenzenloses dulden aller rechtswidrigen und Menschenunwürdigen Verhaltensweisen des Staates Israels missbraucht werden. #FreePalestine