Züri Deal 1: Wie ein Luxusbau wegen Veloparkplätzen den Stadelhofen verändert

Im Moment erinnert der Stadelhofen eher an eine Schutthalde, als an einen Bahnhof. Grund dafür: «Ein Gebäude wie eine Luxusyacht», finanziert von der AXA. In ihrer Architektur-Kolumne beleuchtet die ZAS*, wie die Stadt mit dem «architektonischen Highlight» einen Züri Deal eingeht.

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Das Haus zum Falken der Zukunft. (Bild: Rendering: Calatrava Valls SA)

Ein riesiger Schutthügel. Stadelhofen, Montagmorgen, 8 Uhr, 17. Oktober 2022. Schon letzten Freitag bin ich am Mittag im wackligen Dosto daran vorbei gerast. Da stand die Westfassade noch, wie eine löchrige Staffage, zwischen Haufen von Abbruchmaterial. Es mussten also tatsächlich vor Ablauf der Arbeitswoche die letzten herausragenden Überreste beseitigt worden sein. Am Montagmorgen treffe ich nur noch Schutt an: Holzbalken, Eisengeländer, Dachziegel und Sandsteinmauerwerk, dazwischen einige havarierte Waschbetonblumentröge und Aluminiumverkleidungen des ehemaligen Café Mandarin. Die Wucht des Rückbaus, ausgeführt durch die 275 PS starken Klauen des 55 Tonnen schweren Abbruchbaggers namens Komatsu P 390-11 HRD der Firma KIBAG, der nun thronend auf dem Schrotthaufen steht. 

Doch sind es nicht allein physische Kräfte, die hier die so vertraute wie auch befremdliche Realität vom Abbruch schaffen. Das vorangegangene Kräftemessen ist vielmehr beispielhaft für die Vorgänge, wie in Zürich heute die Stadt entwickelt wird: Ein Züri Deal. Das Internet ist so gütig, uns mittlerweile fast lückenlos die Hintergründe dazu preiszugeben – wenn in den richtigen Archiven mit den passenden Schlagworten gesucht wird. 

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Das Velochaos am Stadelhofen. Im Hintergrund der Abbruchbagger auf dem Schutthaufen. (Bild: ZAS*)

Der Name: Das Einzige, was bleibt

Die Bautafel am Rande des Abbruchs verkündet, dass hier das «Haus zum Falken» entstehen wird, mit Verweis auf die Projektwebsite. Das gerenderte, glatte Gebilde des Stararchitekten Santiago Calatrava erinnert mich zwar eher an einen gestrandeten Pottwal. Aber «Haus zum Falken» hiess halt schon der Vorgängerbau, der 203 Jahre an dieser Stelle stand und während 28 Jahren im Inventar schutzwürdiger Bauten aufgeführt wurde. «Ein Gebäude wie eine Luxusyacht», titelte die NZZ zum geplanten Bürohaus vor ein paar Jahren, es hätte also auch einen maritim anmutenden Namen tragen können. Der Name bleibt «Haus zum Falken» – ein wenig Kontinuität kann ja nicht schaden.

In grossen Lettern steht da noch: «Die AXA Anlagestiftung baut hier.» Anlagestiftungen stecken immer öfter möglichst grosse Geldanlagen in möglichst grosse Gebäudeanlagen. Was auf den Parzellen jeweils an Substanz schon verbaut ist, ist dabei weniger relevant. Man baut hier ja auch nicht irgendetwas, sondern ein «architektonisches Highlight». Doch wie kommt es, dass eine Anlagestiftung überhaupt ein «ein Glanzstück moderner Architektur» zulasten eines so alten, schutzwürdigen Gebäudes verwirklichen kann?  

Ein Deal, ein Velo-Problem weniger

Auf der Website des neuen Projektes werde ich unter der Rubrik «Vorteile» auf die «Lösung des Veloproblems am Bahnhof Stadelhofen» hingewiesen. Eine dreistöckige, unterirdische Velogarage mit 800 kostenpflichtigen Stellplätzen soll in Zukunft Abhilfe schaffen. Der arme Wal soll also «im Auftrag der Stadt Zürich» das Veloproblem schlucken. Ein privater Gestaltungsplan wurde dafür ausgehandelt, im Parlament diskutiert und schliesslich genehmigt.

«Wenn schon ein so altes Gebäude geopfert wird, dann immerhin für eine gehörige Velotiefgarage.»

ZAS*

Auf der Website des Gemeinderats kann dazu in den Protokollen der geführten Debatten gestöbert werden. Da erfährt man: Die AXA Leben AG investiert 46 Millionen. Die Stadt schöpft von der AXA einen Mehrwertausgleich von 1,55 Millionen ab, der aus den planungsbedingten Vorteilen entsteht, und investiert diesen in den Bau der Anlage. Zusätzlich werden für die Velostation 15,2 Millionen Franken benötigt, die aus dem «Rahmenkredit Velo» von der Stadt Zürich bezahlt werden – was also circa 20’000 Franken pro Abstellplatz bedeutet. Wenn schon ein so altes Gebäude geopfert wird, dann immerhin für eine gehörige Velotiefgarage.

Ich lese mich durch all die Protokolle, Medienmitteilungen und Gestaltungsplan-Genehmigungen, und erfahre bald: Schon 2007 hatte die AXA das Grundstück erworben, und wohl auf die eine oder andere Weise von den ungelösten Veloproblemen im unmittelbaren Umfeld erfahren. Zufälligerweise entpuppte sich das Grundstück auch in einer Machbarkeitsstudie vom Stararchitekturbüro als optimaler Standort für eine neue Velogarage – integriert in den projektierten Neubau. Diese Erkenntnis erfreute auch die gegen das Velochaos kämpfenden Behörden – und so liess sich der Stadtrat schliesslich 2014 dazu verleiten, den «wichtigen kulturhistorischen Bauzeugen» zugunsten eines «wichtigen zukünftigen Zeugen der 2020er-Jahre» aus dem Inventar zu entlassen. Allerdings nur, wenn die Velostation gebaut wird.

Der Züri Deal zusammengefasst: Die Anlagestiftung darf in den Ersatzneubau investieren und räumt dafür auf – Veloparkplätze gegen Inventarentlassung. Und damit nehmen die Geschehnisse ihren Lauf…

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Das Haus zum Falken (Baujahr 1819) mit angebautem Fotoatelier (1889) im Jahr 1946. (Bild: Bildarchiv der ETH-Bibliothek Zürich / Fotograf: Schweiz. Lichtbildanstalt)

Nie mehr Bananencurry

Das Pächterpärchen des Café Mandarin ging 2018 in Pension, nachdem sie das Lokal während 34 Jahren jeden Tag geöffnet hatten. Eine Nachfolge wurde nicht mehr benötigt - «Nie mehr Bananencurry», titelte der Tages-Anzeiger zum Ladenschluss. Baurekurse verzögerten das Rückbauvorhaben um einige Jahre, während der Stuck der Fassade schon langsam auf das Trottoir bröckelte. Zwischennutzungen zogen ein und feierten euphorisch die letzten Tage des angeschlagenen «Haus zum Falken».

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Das Haus zum Falken mit dem Café Mandarin, dass bis 2018 geöffnet hatte und 34 Jahre bestand. (Bild: Bildarchiv der ETH-Bibliothek Zürich / Fotograf: Hanspeter Dudli)

Zurück am Stadelhofen wende ich mich nochmals dem realen Kraftakt des Rückbaus zu. Der Abbruchbagger startet seinen Motor und fährt krachend ein paar Meter durch die hohen Schrotthaufen, um die Abbruchschere durch eine Baggerschaufel  auszuwechseln. Ich schaue dem Treiben zu und bemerke: Die Klauen des Komatsus führen nur das aus, was das Kräftemessen zwischen Politik, Kulturgüterschutz und Privatwirtschaft in der heutigen Zeit erzeugt. Und ich erahne auch, was den Ersatzneubau zu einem «wichtigen Zeugen der 2020er-Jahre» machen könnte – eine gestrandete Luxusyacht wird in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr das Mittel der Wahl im Umgang mit Bestand sein können.

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ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

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