Tramfahrer: «Können nicht jeder Person den neuen Linienplan erklären»
Neue Linien, neue Nummern, neue Takte: Der VBZ-Fahrplanwechsel hat Zürichs ÖV neu geordnet. Während sich Fahrgäst:innen umorientieren, müssen Chauffeur:innen unter Zeitdruck funktionieren. Heinz Schulthess, Präsident des Personalverbands Transfair – VBZ Züri-Linie, im Interview.
Jenny Bargetzi: Der neue Fahrplan läuft seit einigen Tagen. Wie haben sie die Umstellung erlebt?
Heinz Schulthess: Die Nervosität war spürbar. Viele Kolleg:innen hatten Angst, dass die Fahrgäst:innen massenhaft zur Kabine kommen würden, um nach dem Weg zu fragen. Dafür haben wir im Betrieb schlicht keine Zeit – wir können nicht jeder einzelnen Person den neuen Linienplan erklären. Diese Sorge hat sich aber weitgehend als unbegründet erwiesen.
Woran liegt das?
Weil die Informationskampagne sehr gut war. Gelbe Westen an den Haltestellen, Flyer und Hinweise in Zeitungen und im Radio. Bis jetzt betrifft die Verunsicherung nur einzelne Personen. Die grosse Mehrheit der Fahrgäste kam erstaunlich gut zurecht. Einzig: Der Fahrplanwechsel fiel ausgerechnet auf den Tag des Silvesterlaufs. Zusätzlich zu den neuen Linienführungen kamen also noch Umleitungen dazu. Diese sind wir wegen Grossanlässen gewohnt, aber die Kombination war anspruchsvoll.
Wo spüren Sie den neuen Fahrplan im Alltag am stärksten?
Bei der Taktung. Nehmen Sie den 13er im Drei-Minuten-Takt: Da kommen sich die Trams sehr nah. Wenn vorne eine kleine Störung entsteht, fährt das Tram hinten sehr schnell auf. Ansonsten merkt man als Fahrer:in gar nicht so viel – oft ist es einfach eine andere Liniennummer, die vorbeifährt.
Diese veränderten Nummern sorgen bei den Fahrgästen aber für viele Emotionen.
Das ist tatsächlich spannend. Die Leute hängen sehr an «ihrer» Liniennummer. Dabei ist es am Ende nur eine Zahl. Das Tram fährt weiter, die Strecke ist fast dieselbe – aber statt einer 5 steht plötzlich eine 8 dran.
Haben Sie selbst eine Lieblingslinie?
Ja, den 7er.
Warum gerade diese?
Er ist aus meiner Sicht am angenehmsten zu fahren.
Durch die Bahnhofstrasse?
Natürlich: Fast jede Linie muss durch den die dichten Innenstadtbereiche. Aber von Wollishofen ist man zunächst relativ frei unterwegs, dann geht es durch die Enge der Innenstadt, über das Central – und schon ist man wieder draussen. Richtung Stettbach kommt das Eigentrassee dazu, später der Tunnel. Das ist gut verteilt.
Wie wurden die Fahrer:innen auf den Fahrplanwechsel vorbereitet?
Monatelang im Voraus. Wir wussten früh, dass der Wechsel kommt, auch wenn Details wie die genaue Linienführung erst später feststanden. Es gab Übersichten wie einen Kalender, in dem jede betroffene Linie aufgeführt war, inklusive aller umgestellten Weichen. Die wichtigsten Änderungen werden zudem direkt im Führerstand angezeigt, mit Warnhinweisen auf dem Bildschirm.
Was belastet das Fahrpersonal am meisten?
Die Unaufmerksamkeit im Strassenraum. Viele Menschen schauen aufs Handy, tragen Kopfhörer und nehmen das Tram kaum wahr. Rund 99 Prozent der Unfälle passieren zudem wegen Linksabbieger:innen, die noch schnell durchfahren wollen. Vielen ist nicht bewusst, wie lang der Bremsweg eines Trams ist.
Was bedeutet das im Ernstfall?
Müssen wir eine Vollbremsung machen, stürzen Menschen im Fahrzeug, es gibt Verletzte. Und am Ende stehen wir Fahrer:innen unter enormem psychischem Druck.
Der Gemeinderat hat beschlossen, die Ausbildung der Tramfahrer:innen zu verlängern, um den Stress zu reduzieren. Was halten Sie davon?
Das halte ich für richtig. Die Ausbildung umfasst eine Basisausbildung sowie separate Prüfungen für jeden Fahrzeugtyp; Hochflur, Cobra und Flexity. In den letzten 19 Jahren wurde die Ausbildung zwar modernisiert, die Dauer ist aber gleich geblieben. Gleichzeitig ist der Stress massiv gestiegen. Einziges Problem ist, wer das finanziert.
Diese fällt auf die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) zurück.
Genau. Der Beschluss kommt vom Gemeinderat, bezahlt werden müsste es aber letztlich vom Kanton – und damit indirekt von den VBZ. Der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) erhält ein fixes Budget vom Kanton. Wenn an einem Ort mehr ausgegeben wird, muss an einem anderen gespart werden. Und Einsparungen beim Personal spüren wir direkt im Alltag.
Wo zeigt sich das konkret?
Zum Beispiel bei Infrastrukturprojekten. Wenn Eigentrassees wegfallen und wir uns die Spur mit Autos teilen müssen, wird es für uns langsamer und gefährlicher. Natürlich ist es richtig, dem Veloverkehr mehr Platz zu geben. Aber oft landen die Autos dann auf den Tramschienen.
Wo passiert das bereits?
Etwa auf der Hofwiesenstrasse beim 11er, im Abschnitt beim alten Radiostudio, oder auf der Rämistrasse, bei der Universität, Richtung Zoo. Wenn Eigentrassees verschwinden, fahren Autos plötzlich dort, wo eigentlich das Tram freie Fahrt hätte und wir stehen zusammen im Stau. Es braucht Lösungen, die für alle funktionieren.
Wie können Fahrer:innen besser auf gefährliche Situationen vorbereitet werden?
Schon bald sollen Simulatoren mit dreidimensionalen Strassenbildern zum Einsatz kommen. Damit können realistische Gefahrensituationen trainiert werden, ohne dass jemand zu Schaden kommt. Pro Monat werden in Zürich rund zehn neue Trampilot:innen ausgebildet. Der Simulator in der Kalkbreite ist geplant, aber noch nicht in Betrieb.
Braucht es tatsächlich so viele neue Fahrer:innen?
Unbedingt. In den kommenden Jahren werden allein bei den Trampilot:innen rund 330 Personen pensioniert. Das sind nur jene, die regulär mit 65 Jahren gehen. Frühpensionierungen oder Abgänge sind da noch nicht eingerechnet. Doch das zeigt, dass lange viele im Beruf bleiben.
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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.