Zürcher Projekt bringt Geflüchtete und Freiwillige zusammen
Im Pfadiheim Studerwies treffen sich am Ostersonntag Asylsuchende aus dem Bundesasylzentrum Embrach – für viele eine Zwischenstation, so auch für Kallou und Ebrima.
Im Waldstück bei Embrach riecht es nach feuchtem Moos und Rauch. Ein kleines Feuer knistert in der Mitte einer Gruppe, daneben liegen sorgfältig zugeschnittene Holzstücke. Nacheinander beschriften die Teilnehmenden sie mit einem Wort, einem Namen, einem Gedanken – und werfen sie ins Feuer.
Rund ein Dutzend Menschen aus dem Bundesasylzentrum (BAZ) Embrach sind an diesem Ostersonntag hier im Wald, rund 25 Autominuten von Zürich entfernt, zusammen gekommen. Einige der Teilnehmenden befinden sich im laufenden Asylverfahren, andere wurden abgelehnt. Organisiert wurde das Zusammentreffen von der katholischen Seelsorgerin Edith Weisshar und dem Verein «Space of Solidarity». Der Tag beginnt mit einem stillen Ritual im Wald und endet mit einem Beisammensein im Pfadiheim Studerwies.
«Das Zentrum in Embrach ist ein Standort ohne Verfahren. Deshalb haben etliche der Geflüchteten geringe Chancen, in der Schweiz bleiben zu können», sagt Weisshar. Es sei eine Gratwanderung zwischen Mut machen und realistisch bleiben. «Wichtig ist, keine falschen Hoffnungen zu wecken.»
Auf einem der Holzstücke steht «Putin». Der Mann in dunkelgrüner Regenjacke, der ihn ins Feuer wirft, stammt aus Georgien. Weisshar steht daneben, schweigt, beobachtet.
Ein paar Minuten später verteilt die Seelsorgerin Ostereier – echte und solche aus Schokolade. Eine Gruppe an Ukrainer:innen lacht beim Versuch, die Eier zu «tütschen». Für viele ist es das erste Osterfest in der Schweiz. Zu ihnen gehört auch die Familie Nazar aus Odessa. Sie hat über einen Mitarbeiter im BAZ vom Zusammentreffen erfahren. Der Sohn erzählt, sie seien vor etwa einem Monat nach Embrach gekommen. Seit zwei Wochen besuchen er und seine jüngere Schwester die nahegelegene Schule.
«Tagsüber ist die Schule ein Aufsteller», meint Weisshar dazu. Die Kinder der Familie Nazar bestätigen das mit einem Nicken. «Viele wünschen sich einen guten Deutschkurs vor Ort – was aber nicht ganz einfach ist bei den vielen Wechseln», erklärt die Seelsorgerin.
Waffeln und ein Stapel UNO-Karten
Nieselregen begleitet den zehnminütigen Spaziergang vom Wald zum Pfadiheim Studerwies. Kallou zieht sich die Kapuze von seinem Pullover tief ins Gesicht. Er kommt aus Mali. Auf seiner Reise in die Schweiz hat er Algerien, Tunesien und Italien durchquert. Eigentlich sei er 16 Jahre alt, erzählt Kallou. Sein Alter wurde jedoch bei der Ankunft auf 19 Jahre geschätzt. Warum die Behörden das angepasst haben, wisse er nicht. Unabhängig prüfen liessen sich Kallous Angaben nicht.
Das Alter hat auch einen Einfluss auf seine Rechte. Unter 18-Jähriger zählen zur Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) und gelten als besonders schutzbedürftig. Mit 19 Jahren fallen beispielsweise das Recht auf den Zugang zur Schule weg.
Kallou spricht Französisch – gelernt hat er es auf der Strasse. Seine Muttersprachen sind eigentlich Malinké und Bambara, zwei Landessprachen von Mali. «Wenn man sich nicht ausdrücken kann, ist man ausgeliefert», sagt Kallou. Das spüre er auch hier in Embrach.
Neben ihm geht Ebrima. Er ist 23 Jahre alt und kommt aus Gambia. Beide kommen zum ersten Mal zum Treffpunkt vom «Space of Solidarity».Genau wie Kallou kam er vor rund vier Monaten alleine in die Schweiz. Er stehe mit seiner Pflegefamilie in seinem Heimatland in Kontakt, sagt Ebrima. Die beiden jungen Männer leben in Mehrbettzimmern mit bis zu fünf anderen Personen. Das Zusammenleben sei Glückssache, erzählen sie. «Manche schnarchen, andere sind unruhig. Häufig sprechen wir nicht dieselbe Sprache.»
Edith Weisshar schätzt die Situation im BAZ als «grundsätzlich ruhig» ein, «soweit das an einem solchen Ort möglich ist». Hier wohne niemand freiwillig und entsprechend herausfordernd sei auch das Zusammenleben.
«Es braucht ziviles Engagement, weil der Staat nicht die ganze Verantwortung übernimmt.»
Alessandro Rearte, Vereinsmitglied von «Space of Solidarity» in Embrach
Angekommen im Pfadiheim liegen Chips, Waffeln in Herzform und ein Stapel UNO-Karten auf dem Tisch. Zwei Mitglieder von «Space of Solidarity» schneiden Äpfel. «Normalerweise versuchen wir, zu dritt zu sein», sagt Alessandro Rearte. «Aber es ist schwer abzuschätzen, wie viele Geflüchtete sonntags kommen. Manchmal kommt niemand.»
Rearte ist seit der Gründung von «Space of Solidarity» im Jahr 2018 dabei. Der Verein ist Teil des Bündnisses «Wo Unrecht zu Recht wird...», tritt jedoch unabhängig auf. Bevor der Verein Ende 2022 ins Pfadiheim ziehen konnten, nutzten sie als Treffpunkt einen alten Bahnwagen direkt am Bahnhof Embrach. «Das war zentraler. Leute konnten einfach vorbeikommen, wenn sie uns gesehen haben», erinnert sich Rearte. Jetzt müsse man schon wissen, wo sie seien. Das Haus liegt etwas abgelegen den Hang hinab.
Die partielle Zusammenarbeit zwischen dem Verein und den Seelsorger:innen besteht seit rund viereinhalb Jahren. «Das Staatssekretariat für Migration sagt, dass die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft wichtig sei. Deswegen arbeite ich nicht nur mit kirchlichen Organisationen zusammen, sondern mit allen, die sich um Geflüchtete kümmern», erklärt Edith Weisshar.
Vor ihrer Pension im November war die Seelsorgerin in der Spitalseelsorge und früher in der Pfarrei tätig. «Ich brauchte andere Welten, um die Freude am Leben nicht zu verlieren», sagt sie. Heute würden ihr die Enkelkinder dabei helfen, das Leid der Geflüchteten mittragen zu können.
Kritik an Zürcher Bundesasylzentren
Das BAZ Embrach wurde 2017 mit 120 Plätzen eröffnet. Die Anzahl ist anschliessend auf 360 gestiegen. Die Asylsuchenden sind hier während ihres Verfahrens untergebracht und verbringen ihre Zeit mit dem Warten auf Bescheide und Antworten– oft monatelang.
Umso wichtiger sei es, wenn Projekte wie der «Space of Solidarity» Räume schaffen, in denen die Menschen gesehen werden. «Es braucht ziviles Engagement, weil der Staat nicht die ganze Verantwortung übernimmt», sagt Rearte. «Obwohl er es sicher könnte.»
«Das Verhältnis zum Asylzentrum hängt stark davon ab, wer gerade die Leitung übernimmt», sagt er. Nichtsdestotrotz wird die Verbindung zum BAZ geschätzt. Auch wenn der Verein bei weitem nicht mit allem einverstanden ist. «Die Leitung des BAZ geht in der Regel auf unsere Anfragen ein und nimmt sich Zeit, diese zu beantworten», so das Vereinsmitglied. Gleichzeitig hätten die Gespräche über einen möglichen Teilzugang zum BAZ – etwa bis hinter die Loge – gezeigt, dass ein gewisses Misstrauen bestehe.
In der Vergangenheit sorgten neue Richtlinien des Staatssekretariats für Migration (SEM) für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) sowie die Zustände in den Bundesasylzentren der Schweiz für Schlagzeilen. 2021 deckten Recherchen von SRF und der «WOZ» Missstände in Bundesasylzentren auf. Sicherheitskräfte sollen Asylsuchende provoziert und körperlich angegriffen haben.
Auch im BAZ Embrach wurden wiederholt Vorwürfe gegen das Sicherheitspersonal laut. Im Januar 2020 erlitt ein kurdischer Asylsuchender bei einem nächtlichen Handgemenge einen Kieferbruch. Er beschuldigte einen Securitas-Mitarbeiter, ihm mit dem Stiefel ins Gesicht getreten zu haben. Der Fall wurde vor dem Bezirksgericht Bülach verhandelt.
«Das macht mich krank»
Gespräche mit Asylsuchenden über Probleme oder Missstände entstehen nur langsam und über einen längeren Zeitraum, sagt Alessandro Rearte. «Viele sind sehr überrascht, da sie die Schweiz mit Menschenrechten verbinden und merken, dass hier ebenso Ausbeutung und Ausgrenzung herrschen kann, was sie sehr an ihre politische Verfolgung im Heimatland erinnert.»
Andere seien einfach froh, ein Bett zu haben und realisierten nicht, dass ihnen mehr Rechte zustünden. «Wir versuchen nicht, Menschen zum Reden zu zwingen. Wenn sie möchten, kommen sie von selbst.»
Ein Problem beobachtet Rearte jedoch immer wieder: «Viele verstehen gar nicht, wie die Prozesse ablaufen oder welche Möglichkeiten sie haben.» Es fehle an Aufklärung. Auch in Bezug auf das Dublin-Abkommen. «Wir versuchen dann, an geeignete Stellen zu verweisen.» Auch laut Edith Weisshar ist die gängigste Frage von Erwachsenen, die das Gespräch mit ihr suchen: «Wie geht es weiter?» Vor allem, wenn der Fluchtgrund nicht anerkannt werde.
Ebrima schaut auf die geschnittenen Apfelstücke vor sich. Sein Antrag auf Asyl wurde abgelehnt. Jetzt ist er am Warten. «Das macht mich krank», sagt er und greift sich dabei an den Kopf. In einer halben Stunde, pünktlich um 17 Uhr, muss er mit den anderen zurück ins Zentrum.
Der Ostersonntag war eine kleine Abwechslung vom Warten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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Ausbildung als Polygrafin EFZ an der Schule für Gestaltung in Bern und aktuelle Studentin Kommunikation mit Vertiefung in Journalismus an der ZHAW Winterthur. Einstieg in den Journalismus als Abenddienstmitarbeiterin am Newsdesk vom Tages-Anzeiger, als Praktikantin bei Monopol in Berlin und als freie Autorin beim Winterthurer Kulturmagazin Coucou. Seit März 2025 als Praktikantin bei Tsüri.ch