Zürcher Plattform-Fahrer:innen wehren sich mit neuem Verein gegen Ausbeutung

In Zürich liefern sich Uber und Bolt einen erbitterten Preiskampf – auf Kosten der Fahrer:innen. Lohndumping, mangelhafte Kontrollen und ein löchriges Gesetz treiben viele Arbeitende an den Rand des Existenzminimums. Ein neuer Verein will das ändern.

Mann Cem Kurun steht vor dem Uber- und Taxiauto
Kurun fährt derzeit das Auto seines Onkels – für Reparaturen seines Wagens fehle das Geld. (Bild: Jenny Bargetzi)

Früher Sonntagmorgen in Zürich, irgendwo zwischen den Gleisen des Hauptbahnhofs und der Sihl. Autos warten auf der Strasse, aus einem Club nebenan treten Menschen heraus. Sie blicken auf ihre Handys, suchen nach bestimmten Nummernschildern, winken, murmeln einen Namen und steigen auf der Rückbank ein. Dieselbe Szene, die ganze Nacht.

Nur vereinzelt leuchtet ein Taxilicht. Die Mehrheit der Wagen ist unauffällig, mit einem kleinen, zürichblauen Rechteck hinter der Windschutzscheibe. Es ist gerade mal so gross wie ein Post-it und zeigt an: Hier fährt jemand gewerblich, meist für Plattformen wie Uber oder Bolt. Seit Anfang 2024 schreibt das neue Zürcher Personentransportgesetz (PTLG) diese Kennzeichnung für Fahrer:innen mit Wohnsitz im Kanton vor.

Doch auch Fahrzeuge ohne Plakette nehmen Gäste mit.

Denn Fahrer:innen, die einem anderen Kanton anreisen, unterliegen in Zürich keiner Nachweispflicht. Das erhöht den Druck auf jene, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen. Denn wer mithalten will, fährt über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus, wie aus Gesprächen mit Fahrern klar wird.

Dagegen will der neu gegründete Verein Zürcher Plattformfahrer:innen (VZP) vorgehen – mit verbindlichen Regeln, politischem Druck und dem Ziel, Plattformarbeit endlich rechtlich anzuerkennen und abzusichern.

«Als Taxifahrer habe ich vielleicht zwei bis drei Kunden im Monat, mit Uber und Bolt deutlich mehr.»

Cem Kurun, Mitgründer Verein Zürcher Plattformfahrer (VZP)

Wenig Lohn trotz vieler Fahrten

Einer, der das Geschäft kennt, ist Cem Kurun. Er ist Mitgründer des Vereins VZP und selbst auch Taxi- und Limousinenfahrer. Mehr als 10’000 Fahrten hat er in sechs Jahren zurückgelegt, früher im Taxi, heute fast nur noch für Plattformen.

Uber, Bolt und andere Anbieter, sagt Kurun, hätten die Kundschaft des klassischen Taxigewerbes abgezogen. Das Taxi sei ihnen zu teuer, die Plattformen deutlich günstiger. «Als Taxifahrer habe ich vielleicht zwei bis drei Kunden im Monat, mit Uber und Bolt deutlich mehr», sagt er. Viele Fahrer:innen seien bei mehreren Apps gleichzeitig angemeldet. «Vier von fünf Kollegen fahren für mehrere Plattformen, nur einer ausschliesslich für Uber», sagt er.

Kurun fährt durchschnittlich 10 bis 20 Fahrten pro Tag, an Spitzentagen über 30. «Den Mindestumsatz erreiche ich nur, weil ich doppelt so viele Kilometer fahre und viele Fahrten weniger als zehn Franken sind», erklärt er.

Der Stundenlohn liege teils unter fünf Franken, sagt Aristoteles Assanakidis, Mitgründer des VZP und ebenfalls Taxi- und Limousinenfahrer. Assanakidis rechnet vor: Die elf Kilometer lange Strecke vom Zürcher Hauptbahnhof zum Flughafen Kloten kostet im «Saver»-Modus der Uber-App – der günstigsten Option für Kund:innen – rund 18 Franken. Zu Stosszeiten kann die Fahrt laut Assanakidis bis zu 40 Minuten dauern. «Für den Rückweg werde ich selten gebucht. Das heisst: Leerfahrt.» Nach Abzug der Fahrzeugkosten, Versicherungen, Steuern, Wartung und Benzin bleibe am Ende kaum etwas übrig.

Billiger und schneller um jeden Preis

Seit Bolt im April 2024 auf dem Zürcher Markt gestartet ist, hat sich der Preiskampf verschärft. Die litauische Plattform unterbot das amerikanische Unternehmen Uber systematisch mit Rabatten von bis zu 50 Prozent für Neukund:innen. Uber konterte mit eigenen Aktionen. Die Rechnung zahlen die Fahrer:innen.

«Bolt zeigt uns Fahrer:innen vorab den Fahrpreis an, aber das ist der Bruttopreis», erklärt Cem Kurun. Nach Abzug der Provision der Plattform bleibe deutlich weniger übrig als erwartet.

Die Plattformen verstehen sich als blosse Vermittler:innen, nicht als Arbeitgebende. Doch sie bestimmen den Preis, den Weg, die Auftragsvergabe. Wer Fahrten zu oft ablehnt, rutscht im Ranking ab oder wird ganz gesperrt. «Das erhöht den Druck, jede Fahrt anzunehmen», sagt Kurun. «Egal zu welchem Preis.»

Nicole Niedermüller, Bereichsleiterin Kommunikation und Politik bei der Gewerkschaft Unia, bestätigt den Trend: «Die Arbeitsbedingungen für Plattformfahrer:innen in Zürich haben sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert.» Viele müssten über die erlaubten Stunden hinaus arbeiten, um auf ein existenzsicherndes Monatseinkommen zu kommen. Darunter litten Familie, Freizeit und Gesundheit.

Laut der Unia sind rund die Hälfte der Limousinenfahrer:innen in Zürich auf Sozialhilfe angewiesen. Mit dem Markteintritt von Anbieter:innen wie Uber und Bolt habe sich eine Praxis etabliert, die viele in die Schwarzarbeit dränge. Hinzukomme: Die Plattformen zahlten kaum Sozialversicherungsbeiträge – obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet wären.

Jahr für Jahr würden sie systematisch Millionenbeträge einbehalten, die eigentlich in die Sozialversicherung fliessen müssten. «Obwohl das seit Jahren bekannt ist, fehlen spürbaren Kontrollen oder Durchgriffe», sagt Niedermüller. Man habe es versäumt, Plattformanbieter:innen im neuen Gesetz klar zu regulieren und konsequent zu überwachen.

«Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, die Plattformarbeit in der Schweiz zu verbessern – im engen Austausch mit Fahrer:innen sowie mit lokalen und nationalen Behörden»

Stellungnahme von Uber

Neues Zürcher Gesetz für Taxis und Uber

Dies hat auch die Politik und die Behörden auf den Plan gerufen. Das Bundesgericht hat 2022 und 2023 klargestellt: Uber-Fahrer:innen gelten als unselbstständig. Das bestätigt die SVA Zürich auf Anfrage: «Entsprechend müssen die Sozialversicherungsbeiträge über den Arbeitgeber abgerechnet werden.» Die Ausgleichskassen seien verpflichtet, die gesetzlichen Vorgaben konsequent umzusetzen.

Uber widerspricht dieser Darstellung. Die Medienstelle von Uber schreibt auf Anfrage, die überwiegende Mehrheit der Fahrer:innen in der Schweiz wolle selbständig bleiben. In den letzten Jahren habe Uber deshalb ein grundlegend neues Modell aufgebaut, das die Wahlmöglichkeiten, Kontrolle und Autonomie der selbständigen Fahrer:innen weiter stärke. «Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, die Plattformarbeit in der Schweiz zu verbessern – im engen Austausch mit Fahrer:innen sowie mit lokalen und nationalen Behörden», heisst es in der Stellungnahme.

Auch bei der Preisgestaltung sieht sich Uber als fairen Partner: Die Plattform biete einen verlässlichen und zugänglichen Service, die dynamische Preisgestaltung passe sich der Nachfrage an. Selbständige Fahrer:innen könnten ihre Mindesttarife pro Kilometer jederzeit anpassen und so eigenständig auf Marktdynamiken reagieren. Wer wolle, könne Fahrten zu höheren Tarifen anbieten, etwa via Uber Comfort, Black, Lux oder Van. Zudem würden Fahrer:innen mit Uber Taxi zum Taxameter-Tarif, der aktuell bei durchschnittlich 3.80 Franken pro Kilometer liegt, fahren.

Das Bundesgerichtsurteil beziehe sich auf ein altes Geschäftsmodell aus dem Jahr 2014, das heute nicht mehr existiere. Inzwischen arbeite Uber ausschliesslich mit lizenzierten Fahrer:innen zusammen, die alle rechtlichen Vorgaben erfüllten. Alle Fahrzeuge seien für die gewerbliche Personenbeförderung zugelassen und mit Fahrtenschreibern ausgestattet.

Bolt reagiert nicht auf die Anfrage.

Zürcher Sonderweg: Lücken im Gesetz

Andere Kantone wie Genf und Bern gehen mittlerweile konsequent gegen die Plattformen vor, indem sie nur noch Fahrten mit angestellten oder lizenzierten Fahrer:innen zulassen.

Zürich hingegen verfolgt einen vergleichsweise liberalen Weg – mit teils erheblichen Lücken im Gesetz. Fahrer:innen aus anderen Kantonen brauchen in Zürich weder Registrierung, Lizenz noch Sprach- oder Ortskenntnisse. Sie entgehen jeglicher Kontrolle.

Das führt laut Kurun und Assanakidis zu einem Zustrom: «Viele Fahrer:innen – insbesondere aus Osteuropa oder der Westschweiz – kommen bereits Mitte der Woche nach Zürich, arbeiten hier mehrere Tage am Stück und fahren erst sonntags wieder zurück.» Man erkenne sie am Fahrstil oder an bestimmten Automodellen, die unter Fahrer:innen besonders beliebt seien, sagt Kurun. Belegen lässt sich das aber nicht.

Eine offizielle Statistik, wie viele Fahrer:innen tatsächlich auf Zürichs Strassen unterwegs sind, fehlt. Kurun schätzt die Zahl auf rund 9000. Dieses Überangebot treibe den Wettbewerb zusätzlich an, erklärt er. Einige würden sogar die Fahrtenschreiber manipulieren, um gesetzliche Lenk- und Ruhezeiten zu umgehen, und seien mehr als siebzig Stunden pro Woche im Einsatz. «Viele Uber-Fahrer:innen essen und schlafen im Auto», sagt Kurun. Das verstosse zwar gegen die Regeln, doch kaum jemand kontrolliere es. Das bestätigt neben Kurun und Assanakidis auch ein weiterer Uber-Fahrer.

Cem Kurun Uber- und Taxifahrer
Die Mitgliedschaft im Verein soll bewusst günstig bleiben und mit einem Jahresbeitrag von 60 Franken für alle bezahlbar sein, wie Kurun sagt. (Bild: Jenny Bargetzi)

Schwache Kontrollen, hohe Risiken

Für die Kontrolle von Taxi- und Limousinenfahrer:innen sind mehrere Ämter zuständig: Das Strassenverkehrsamt führt Register, stellt Ausweise und Plaketten aus. Auf der Strasse kontrollieren Kantons- und Stadtpolizei. Wer ohne Plakette fährt oder keine Tarife ausweist, riskiert eine Busse – doch die Kontrollen seien lückenhaft, sagen Assanakidis und Kurun. «In sechs Jahren wurde ich genau einmal kontrolliert», sagt Kurun. Laut Kantonspolizei erfolgen Kontrollen im Rahmen allgemeiner Verkehrskontrollen, eine Statistik gibt es jedoch nicht.

Auch die Stadtpolizei verweist auf gezielte Einsätze, bei denen die Einhaltung des Taxi- und Limousinengesetzes sowie der Arbeits- und Ruhezeiten überprüft würden, nennt aber ebenfalls keine Zahlen. Die Kritik an mangelnden Kontrollen weist die Stadtpolizei zurück.

Nicole Niedermüller von der Unia widerspricht: «Trotz jahrelanger Probleme fehlt es an wirksamen Kontrollen oder Durchgriffen.» Man habe es versäumt, Plattformanbieter im neuen Gesetz wirksam zu regulieren und zu überwachen.

«Dieser Beruf gehört in professionelle Hände. Nicht in jene von Hobby- oder Wochenendfahrer:innen.»

Cem Kurun, Mitgründer Verein Zürcher Plattformfahrer (VZP)

Ein Verein gegen die Ohnmacht

Deshalb haben Kurun und Assanakidis Anfang Juni den Verein Zürcher Plattformfahrer (VZP) gegründet. Ihr Ziel: politische Forderungen zu stellen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das heisst, einen Mindestpreis von 2.60 Franken pro Kilometer, 90 Rappen pro Minute und 6 Franken Startgebühr. 

Diese Preise seien von der Stiftung Promobil auf Basis der Lebenshaltungskosten im Kanton Zürich berechnet, sagt Kurun. Ausserdem verlangen sie eine Registrierungspflicht für alle Fahrer:innen sowie Zugangsbeschränkungen wie Sprach- und Ortskenntnisse. 

«Das würde den Markt regulieren, ganz automatisch», sagt Kurun. Assanakidis ergänzt: «Dieser Beruf gehört in professionelle Hände. Nicht in jene von Hobby- oder Wochenendfahrer:innen.» 

Das Interesse an einer Veränderung sei gross. Mittlerweile hätten sich laut Kurun bereits über 50 Fahrer:innen gemeldet. Sie seien nicht gegen die Kund:innen, sagt Kurun. «Sondern gegen ein System, das uns ausbeutet.»

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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

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