«Demonstrationsfreiheit bedroht»: Jurist:innen ziehen vor Bundesgericht
Die Demokratischen Jurist:innen Zürich ziehen vor Bundesgericht: Sie sehen in der Umsetzung des Gegenvorschlags zur «Anti-Chaoten-Initiative» einen Angriff auf Grundrechte. Raphael Moos, Anwalt und Vorstandsmitglied des Vereins, erklärt die Gründe für den Schritt.
Die Demokratischen Jurist:innen Zürich haben am Montag beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht: Sie kritisieren die Umsetzungsvorlage des Kantonsrats zum Gegenvorschlag zur «Anti-Chaoten-Initiative» als nicht mit Grund- und Völkerrecht vereinbar. Mitgetragen wird die Beschwerde unter anderem von der Alternativen Liste Zürich und der Grünen Stadt Zürich.
Die Zürcher Stimmbevölkerung hat den Gegenvorschlag im Mai 2024 angenommen. Er sieht vor, dass bei «ausserordentlichen Polizeieinsätzen» im Zusammenhang mit Demonstrationen die Kosten zwingend auf die Verursacher:innen überwälzt werden.
Konkret bedeutet das: Wenn die Polizei etwa wegen befürchteter Ausschreitungen mit Wasserwerfern oder Gummischrot ausrückt, sollen die entstehenden Kosten den Demonstrierenden in Rechnung gestellt werden – sofern sie vorsätzlich oder grobfahrlässig gehandelt haben. Vorsätzlich bedeutet, dass eine Tat bewusst und willentlich ausgeführt wird; grobfahrlässig, wer die möglichen Folgen einer Handlung in auffälliger Weise ausser Acht lässt.
Eine ähnliche Regelung gibt es bereits, sie ist bislang jedoch nicht zwingend. Neu müsste die Polizei die Kosten in jedem Fall auf die Verantwortlichen überwälzen.
Kai Vogt: Raphael Moos, Sie sind Anwalt und Vorstandsmitglied der Demokratischen Jurist:innen Zürich. Missachten Sie mit der Beschwerde nicht den Entscheid der Zürcher Stimmbevölkerung?
Raphael Moos: Nein, wir akzeptieren selbstverständlich den Volksentscheid. Jedoch wurde der Stimmbevölkerung versprochen, dass dabei die Grundrechte gewahrt werden. Diese Anforderungen erfüllt die Umsetzungsvorlage unseres Erachtens nicht. Daher haben wir Beschwerde erhoben.
Für die Rechtssicherheit ist es wichtig zu klären, wie die Gerichte das neue Gesetz beurteilen – insbesondere, ob es mit Grund- und Völkerrecht vereinbar ist. Dieses Interesse betrifft nicht nur potenzielle Demonstrierende, sondern auch die Polizei und die Bevölkerung, die Polizeieinsätze über Steuern finanziert.
Was stört Sie am Gegenvorschlag?
Vieles. Die Demonstrationsfreiheit ist in der Schweiz durch die Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit geschützt, sowohl in der Bundesverfassung als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Durch die abschreckende Wirkung des Gegenvorschlags sehen wir diese Freiheit jedoch beschnitten: Menschen könnten künftig zögern, ihr Recht auf Demonstration wahrzunehmen, aus Angst vor den drohenden Kosten. Das ist einer unserer Hauptkritikpunkte.
Können Sie das ausführen?
In der Rechtsprechung spricht man vom «Chilling Effect»: Wenn hohe Kosten drohen, überlegen sich viele zweimal, ob sie an einer Aktion teilnehmen, selbst wenn diese letztlich völlig grundrechtskonform ist. Zwar soll eine Kostenüberwälzung nur bei vorsätzlichem oder grobfahrlässigem Handeln erfolgen. Man könnte also meinen, wer nichts absichtlich falsch macht, müsse nichts befürchten. Doch in der Praxis wird im Kanton Zürich bereits heute relativ schnell von vorsätzlich gesprochen.
Inwiefern?
Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Im Juni 2025 kam es am Zürcher Hauptbahnhof zu einer unbewilligten Versammlung mit rund 300 Personen, gegen welche die Polizei mit Wasserwerfern, Reizstoff und Gummischrot vorging. Einer Person, die sich lediglich am Helvetiaplatz aufhielt, also weit entfernt vom HB, nicht an der Kundgebung teilnahm und sich nicht rechtswidrig verhielt, wurde trotzdem eine anteilige Kostenbeteiligung am Polizeieinsatz auferlegt.
«Die Regelung soll strafen und abschrecken. Sowas darf nicht in einem Polizeigesetz geregelt werden.»
Raphael Moos, Vorstandsmitglied Demokratische Jurist:innen Zürich
Sie befürchten also eine zu einfache Kostenabwälzung auf Demonstrierende?
Genau. Und eine nicht vorhersehbare.
Sie kritisieren zudem die «fehlende Unabhängigkeit der Polizei als Rechnungsstellerin».
Die Polizei müsste neu feststellen, ob eine Person vorsätzlich gehandelt hat, aber auch selbst entscheiden, ob der eigene Einsatz ausserordentlich war. Denn nur dieser ausserordentliche Teil müsste verrechnet werden. Zudem müsste sie beurteilen, wie hoch der Anteil der Kosten ist, den jede einzelne Person tragen soll. Das sind Aufgaben, die eigentlich polizeiliche Ermittlungen erfordern würden.
Und oft werden solche polizeilichen Ermittlungen gegen die betreffenden Personen parallel laufen. Die Polizei führt dann also zwei Verfahren: ein Strafverfahren, bei dem die Mitwirkung verweigert werden darf, und ein Verwaltungsverfahren, in dem eine Mitwirkungspflicht besteht. Das geht nicht.
Unabhängige Ermittlungen wären also nicht mehr möglich?
Die Polizei hat eine klare Interessenslage. Es kann zum Beispiel sein, dass sie in den Medien kritisiert wird für einen zu harschen Einsatz. Wegen eines solchen öffentlichen Drucks könnte sie sich dazu gezwungen sehen, ihr Vorgehen zu rechtfertigen, indem sie den einzelnen Demoteilnehmer:innen die Kosten auferlegt. Ausserdem besteht ein finanzielles Interesse: Einsätze werden günstiger, wenn die entstehenden Kosten auf die Beteiligten überwälzt werden können.
Was erhoffen Sie sich mit der Beschwerde?
Unser Ziel ist die Aufhebung der neuen Bestimmungen. Wir sind überzeugt, dass wir dafür sehr gute Argumente haben. Zudem sollen auch die Hürden für eine Demonstration erhöht werden. Das kritisieren wir ebenfalls.
Sie sprechen von der Bewilligungspflicht?
Ja, mit der Zustimmung zum Gegenvorschlag muss man im ganzen Kanton neu für sämtliche Kundgebungen, Demonstrationen und andere Grossveranstaltungen eine Bewilligung bei der Gemeinde einholen. Das widerspricht den Bestrebungen der Stadt, die Bewilligungspflicht für Versammlungen mit bis zu 100 Personen zu lockern.
Wenn Ihre Beschwerde nicht gutgeheissen würde, was hätte das für Demonstrierende in Zürich zur Folge?
Genau das ist das Problem: Wir wissen es nicht genau, weil die Bestimmungen so unklar formuliert sind. Sie lassen der Polizei einen grossen Ermessensspielraum, was zu Rechtsunsicherheit führt.
Was raten Sie den Zürcher:innen?
Sie sollten sich weiterhin an Demonstrationen beteiligen. In einer Demokratie ist es zentral, die eigene Meinung auch auf der Strasse zu zeigen. Besonders für Menschen, die sich sonst kaum in politische Prozesse einbringen können, etwa weil sie kein Stimm- oder Wahlrecht haben, ist das Demonstrationsrecht ein essenzielles Mittel der Mitbestimmung.
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Studium der Politikwissenschaft und Philosophie. Erste journalistische Erfahrungen beim Branchenportal Klein Report und der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), zuletzt als Co-Redaktionsleiter. Seit 2023 medienpolitisch engagiert im Verband Medien mit Zukunft. 2024 Einstieg bei Tsüri.ch als Autor des Züri Briefings und Berichterstatter zur Lokalpolitik, ab Juni 2025 Redaktor in Vollzeit. Im Frühjahr 2025 Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz in Berlin.