Kolumne von Özge Eren: Die Mauern unserer Welt - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Özge Eren

Kolumnistin

13. Mai 2023 um 11:00

«Meine Kolumne soll dabei helfen, Mauern zu erkennen»

Seit Özge Eren denken kann, muss sie dafür kämpfen, gehört zu werden. Damit will sie aufhören – und stattdessen aufklären. Darüber, wie Mainstream-Medien unsere Gesellschaft formen, wie durch sie die Mauern in unseren Köpfen und Systemen aufrecht erhalten werden und warum es an der Zeit ist, diese zum Einstürzen zu bringen. Ihr Kolumnen-Debüt.

Illustration: Zana Selimi

Ich schreibe. Es fühlt sich noch seltsam an. Nicht das Schreiben an sich, denn das war in letzter Zeit mein Rückzugsort. Ein Ort der Heilung, des Verzeihens und der Liebe. Ich meine dieses Schreiben, öffentliches Schreiben. Es ist meine erste Kolumne. «Ein persönlicher, meinungsbildender Textbeitrag» sollte es werden. Also schrieb ich genau das. Der Beitrag war persönlich; ich erzählte davon, wie ich in Wald im Zürcher Oberland geboren und aufgewachsen bin. Wie unsere Familie wegen 200 Franken «zu viel» Einkommen pro Monat keine Sozialhilfe bekommen hat. Wie ich den Sprung in die Mittelklasse trotz aller Barrieren geschafft habe und wie mich Gedichte dabei stets begleitet haben.

Irgendwie fühlte sich dieser Text aber nicht richtig an. Persönlicher könnte er zwar kaum sein, aber welche Meinung bildete ich damit? Eines ist sicher: Alles, was du konsumierst, und ich meine wirklich alles, formt deine Ansicht. Manchmal aktiv, manchmal ganz unbewusst.

Ohne Mauer, keine Kisten

Ein Beispiel dafür: Kennst du das Bild mit unterschiedlich grossen Personen, die versuchen, über eine Mauer hinwegzusehen? Es gibt üblicherweise ein Bild, auf dem alle Personen identische Kisten zum Draufsteigen erhalten. Die Kiste ist hoch genug für die grösste Person, aber die kleinste Person sieht trotzdem nur die Wand. Die zweite Variante zeigt eine andere Ausgangslage. Es sind die gleichen Personen, die gleiche Mauer. Dieses Mal sind die Kisten aber unterschiedlich hoch. Sie sind der Grösse der Personen angepasst. Jetzt können alle über das Hindernis hinwegsehen. Ein Happy End? Während eines Workshops sah ich dann zum ersten Mal ein drittes Bild. Eines ohne Mauer, ohne Kisten. 

«Ich habe versucht, dich zu überzeugen, dass ich es wert bin, gehört zu werden.»

Özge Eren

Ich habe eine akademische Ausbildung absolviert, aber ich war nicht in der Lage, mir selbstständig die Frage zu stellen, wieso wir nicht die Mauer abreissen, statt Kisten zu verteilen. Wieso über Barrieren hinwegsehen, anstatt sie aus dem Weg räumen? Das hat meine Sichtweise zu den Herausforderungen, die wir als Gesellschaft zu meistern haben, für immer verändert. Welche Bilder wir sehen, kann eine enorme Auswirkung auf unsere Meinungsbildung haben.

Lesen hilft mir normalerweise, Inspiration zu finden. Für meine Kolumne blieb ich aber erfolglos in meinen üblichen Medien. Nach diesen Gedanken entschied ich mich, meine eigene Bubble zu verlassen, um Antworten auf die Frage zu finden, warum ich mit meinem ersten Textentwurf nicht zufrieden war.

Wie Medien Meinungen bilden

Zum Schutz meiner mentalen Gesundheit hatte ich lange Zeit Abstand von Mainstream-Medien genommen. Im Gegensatz zu meiner kleinen Bubble jedoch erreichen sie die breite Bevölkerung. Sie prägen unsere Gesellschaft. Wovon und wie berichten sie also? Oliver* mit seinen 1,85 Metern und 90 Kilogramm argumentiert, wieso sich eine Person bei einem sexuellen Übergriff doch immer wehren kann, hätte sie wirklich gewollt. Vor Angst erstarren? Nein, so etwas gibt es laut Oliver nicht. Oder da wären die Argumente gegen die «Ja heisst Ja»-Vorlage von Gregor*, der sich noch nie fragen musste, wie viel er von sich preisgeben muss, bevor er nach Hause gehen kann. Locker flockig schreibt Kevin* darüber, was das Opfer gemacht oder getragen haben soll, obwohl das nichts, absolut gar nichts, mit der Situation zu tun hat.     

Wird eine weitere Frau ermordet, ist in den Medien von einem «Beziehungsdrama» die Rede. Patriarchat? Männlichkeit, die tötet? Lieber erwähnen, dass die Ehefrau keinen Sex haben wollte mit dem Täter, dass sie vor hatte, ihn zu verlassen, oder was auch immer hilft, um den Mann als das «wahre» Opfer darzustellen. Das ist eben Kontext.

Kontext ist wichtig im Journalismus. Das erklären auch Reto* und Hans* während der Diskussion, was denn genau rassistisch sein soll und was nicht. Die beiden entscheiden auch gleich darüber, was (oder wer) schweizerisch ist. Bedarf zum Handeln? Logisch! Es sollen jene Menschen verklagt werden, die sich antirassistisch äussern, damit nie wieder auf eine rassistische Aussage hingewiesen werden kann. Das ist die Lösung. Wieso das Rad neu erfinden, wenn es seit Jahrzehnten funktioniert hat, die Opfer zum Schweigen zu bringen.

Benjamin* berichtet voller Hass über Menschen, die unsere Gesellschaft, aber auch unsere Sprache weiterentwickeln möchten. Das N-Wort benutzt er dabei so oft, dass es mir beim Lesen schlecht wird. Dieser Hass, der häufig im Mainstream vorkommt, ist eine reale Gefahr für die Betroffenen. Das ist Benjamin allerdings egal. Und die Medienhäuser, die all das verbreiten? Thomas*, André* und Stefan* auf ihren Machtpositionen, sehen darin kein Problem. Deshalb können auch Neonazis auf diesen Plattformen erklären, wieso sie nicht rechtsextrem sind, nur weil sie Muslime und den «globalen Süden» hassen würden. Nazi-Kontext quasi.

Berichte über vergaste Schulmädchen im Iran und die dort andauernde Revolution? Über die Situation in Afghanistan? Über den Krieg im Sudan? Die Lage von über 4 Millionen syrischen Flüchtlingen im Erdbebengebiet in der Türkei? Ist ja nicht so, als hätte die EU der Türkei Geld gezahlt und ist mitverantwortlich für die Camps dort, die nun zerstört wurden. Nur der Ukraine-Krieg scheint seinen festen Platz in den Schweizer Medien verdient zu haben.

«Wir Menschen haben diese Systeme erfunden und wir Menschen werden es sein, die sie stürzen werden.»

Özge Eren

Wieso ich dir das alles erzähle? Mir wurde klar, was mit meinem ersten Entwurf für die Kolumne nicht stimmte: Ich habe versucht, dich zu überzeugen, dass ich qualifiziert bin. Dass ich es wert bin, gehört zu werden. Mein eigener Kontext. Aber wenn jene von Gregor, Benjamin und Reto die restlichen Stimmen sind, die mit Absicht Gewalt, Armut und Unterdrückung aufrechterhalten, dann kann ich keine Zeit mit Rechtfertigungen für meine Existenz verlieren. 

Erinnerst du dich an das Bild mit der Mauer? Fast immer wird diese Mauer, die strukturelle Diskriminierungsformen symbolisiert, entweder verheimlicht oder aktiv in Schutz genommen. Ist die Lösung nichts oder eine Kiste, dann ist das gleichzusetzen mit dem Verteidigen dieser Wand. Ich möchte, dass meine Kolumne hilft, Mauern zu erkennen. Es kann schmerzhaft sein, sich einzugestehen, dass diese existieren. Wer möchte schon zugeben, dass seine eigene Untätigkeit oder Neutralität zum Leid von Millionen Menschen beiträgt. Dass wir sie dem Hunger, der Gewalt und dem Tod überlassen. Aus diesem Grund schauen wir nicht hin. Lassen die Entmenschlichung gewisser Gruppen zu. Das muss aber nicht so sein! Wir Menschen haben diese Systeme erfunden und wir Menschen werden es sein, die sie stürzen werden. Mit Liebe, Zusammenhalt und Hoffnung. 

Mandy, danke für dein Vertrauen in mich und dass du diesen Platz mit mir teilst. Menschen wie du, lassen mich auf eine gerechtere Zukunft hoffen. Auf eine freie Welt, ohne Mauern.

*Alle Namen sind frei erfunden. Dadurch soll lediglich ein Bild der Schweizer Medienlandschaft erzeugt werden. Ich kann mir keine Klage leisten.

Özge Eren

Die Geschichte von Özge Eren beginnt bereits mit ihrem Grossvater, der wie viele damals im Rahmen der Abkommen zwischen der Türkei und Schweiz als Gastarbeiter in die Schweiz kam und Jahre später seine Familie zu sich holte.

Die Rechte der Arbeiter:innen, Klassismus, Kapitalismus, Sozialismus – dies waren Themen, die Özge im jungen Alter kennenlernte. Ihre Eltern erklärten ihr bereits im Kindergarten, dass sie studieren muss, wenn sie lieber länger schlafen möchte, anstatt früh morgens in der Fabrik zu stehen. Nach vielen Nebenjobs, Stipendien, unzähligen rassistischen und sexistischen Vorfällen, hat sie ihr Studium in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich erfolgreich abgeschlossen. Danach stieg sie in nur sechs Jahren in der männerdominierten Telekommunikationsbranche von einem Praktikum zu einer Head-Position auf.

Özge nutzt ihren heutigen sozio-ökonomischen Status, um diverse Vereine, Kollektive, Projekte und Menschen zu unterstützen. In ihrem Umfeld ist sie bekannt für politische Diskussionen, obwohl sie viel lieber über Fussball, Nagellackfarben und Single Malts sprechen würde. Mit ihren Texten hofft sie, zum Denken anzuregen und zu vermitteln: Wir sind nicht alleine.

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