Outsider in der Politik: Die Kraft des Netzwerks

Als Angehöriger einer Minderheit startete Islam Alijaj seine politische Karriere als Aussenseiter. Warum das vielen so ergeht und was das für die Kandidatur von Mandy Abou Shoak bedeutet, schreibt er in seiner neusten Kolumne.

Islam Alijaj Nationalrat Bundeshaus
Dass er heute für die SP in Bern politisiert, habe er auch seinen Unterstützer:innen zu verdanken, sagt Islam Alijaj. (Bild: Lara Blatter)

«Von deiner Undankbarkeit bin ich wirklich enttäuscht und bereue es, dich überhaupt gewählt zu haben.»

Diese und ähnlich charmante Unmutsbekundungen erreichten mich einige Tage nach meiner Wahl in den Nationalrat im Herbst 2023. Ich war damals naiv genug, mich vom Onlinemagazin 20 Minuten mit dem Satz «Die SP hatte mich mit einem aussichtslosen Listenplatz bedacht» zitieren zu lassen, der es dann auch in die Überschrift geschafft hatte – Kritik an der SP liest man natürlich gerne.

Heute kann ich die Reaktionen verstehen. Kaum gewählt, sich öffentlich zu beklagen, weil man als Behinderter vermeintlich nicht genügend unterstützt wurde, war kleinlich.  

Tatsächlich stimmte das so auch nicht ganz: Mein Listenplatz war keine Folge meiner Behinderung und wenn, dann war ihr Einfluss wohl eher positiv. Nein, oft ist entscheidender, wie lange man schon dabei ist und wie gut man in die parteiinternen Netzwerke eingebunden ist.

Als sich andere schon bei den Jungsozialist:innen vernetzten, war ich noch in der Sonderschule. Während andere schon erste Partei-Ämter bekleideten, wollte ich meine Welt noch als Behindertenrechtsaktivist verändern.

Kurzum: Repräsentationslücken entstehen oft dort, wo Minderheiten erst viel später mit politischen Parteien in Berührung kommen und ihre Karriere deshalb als Outsider starten müssen. 

Und so bewegt sich eine Partei wie die SP immer in einem Spannungsfeld zwischen der politischen Erfahrung verdienter Funktionäre und dem Wunsch, sich neuen Profilen zu öffnen.

«Ich habe selbst erlebt, welche Kraft die Idee einer Kandidatur entwickeln kann.»

Islam Alijaj

Jüngstes Beispiel aus dieser Reihe ist Mandy Abou Shoaks long-shot für das Stadtpräsidium. Was spricht alles für diese Kandidatur dieser politischen Senkrechtstarterin: Angefangen bei ihrem hervorragenden Ergebnis bei der letzten Kantonsratswahl, das eindrucksvoll zeigt, dass ihre Kompetenz beim Stimmvolk ankommt.

Weiter ist da ihre Migrationsgeschichte, angesichts derer sogar die NZZ – nicht gerade als Zentralorgan für solche Themen bekannt – diskutiert, ob in einer Stadt, in der 55 Prozent der Einwohner:innen einen Migrationshintergrund haben, nicht auch migrantische Perspektiven in der Stadtregierung repräsentiert sein sollten. Und schliesslich müssen wir auch über die Euphorie sprechen, die Abou Shoaks Kandidatur ausgelöst hat.

Das zeigt sich nicht nur in Reichweiten auf Social Media, von denen ich als Kandidat nur hätte träumen können, sondern auch in ihrem rasant wachsenden Unterstützer:innenkomitee, das sich unter dem Slogan «Züri isch parat» formiert hat. 

Man kann spüren: Da liegt was in der Luft. Gleichzeitig dürfte Stadtrat Raphael Golta, sozusagen der logische Kandidat für die Partei, als Favorit in die interne Ausmarchung gehen. Schliesslich verfügen nur wenige über vergleichbare Exekutiverfahrung.

Klar, diese Kolumne ist kein guter Ort für parteiinterne Wahlempfehlungen. Aber so viel: Man sollte die Begeisterung für Abou Shoaks Aufstellung ernst nehmen. Ich habe selbst erlebt, welche Kraft die Idee einer Kandidatur entwickeln kann, wenn sich Menschen hinter ihr versammeln.

Vielleicht ist Zürich tatsächlich parat. 

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