Wieso das Projekt «Tagesschule 2025» für Kritik sorgt
Mit dem Schulstart im vergangenen August ging das Projekt «Tagesschule 2025» in die nächste Runde. Während auch in diesem Jahr weitere Schulen mit dem Projekt starteten, beschweren sich Eltern wie auch die Politik über eine fehlerhafte Umsetzung.
Dieser Beitrag ist zum ersten Mal am 15. September 2021 erschienen. Im Rahmen einer Repost-Woche holen wir die meistgelesenen Artikel 2021 aus unserem Archiv.
Die skandinavischen Staaten dienen oft als Beispiele in den öffentlichen Debatten etwa in Zusammenhang mit Schulmodellen, wobei die nordischen Länder häufig als Vorbild bezeichnet werden. Am ersten Schultag gibt es in Dänemark zum Beispiel wenig feste Traditionen, abgesehen von einer Begrüssungszeremonie mit einigen Ansprachen. Das Schulgebäude ist meist mit Fahnen geschmückt.
Pünktlich um 8 Uhr ertönt die Schulglocke, womit für die Schüler:innen der Unterricht beginnt. Bis zum Nachmittag bleiben die Kinder durchgehend in der Schule und essen dort auch zu Mittag, spielen Fussball im Schulhof und werden von den Lehrkräften betreut. Diese Form der durchgehenden Betreuung in der Schule nennt sich «Tagesschulmodell». Da in den meisten Familien beide Elternteile arbeitstätig sind, funktionieren alle Schulen in Dänemark nach diesem Prinzip.
In der Schweiz gibt es – ähnlich wie in Dänemark – meist ebenfalls eine Ansprache am ersten Schultag. Anstelle von Fahnen verteilen die Lehrpersonen hierzulande häufig Sonnenblumen an die Kinder, die ihren ersten Schultag haben. Und anstelle eines Tagesschulmodells kommen die Kinder über Mittag nach Hause. So funktionieren die meisten Schulen in der Schweiz. Die Stadt Zürich entschloss sich jedoch, andere Wege zu gehen und probiert seit fünf Jahren das aus, was in Dänemark bereits seit langem Standard ist.
Mit dem Schuljahr 2021/22 nähert sich das Ende der zweiten Pilotphase des Projekts «Tagesschule 2025» der Stadt Zürich. Beim sogenannten Tagesschulmodell, welches die Stadt im Zuge dieses Projektes erprobt, bleiben Schüler:innen ab dem zweiten Kindergartenjahr an Tagen mit Nachmittagsunterricht über Mittag an den Schulen. Solche Betreuungszeiten laufen unter dem Namen «gebundene Mittage». Während Kindergartenkinder zwei gebundene Mittage pro Woche haben, sind es bei Primarschüler:innen drei bis vier und bei Sekundarschüler:innen vier.
Das Projekt startete 2016 mit der ersten Pilotphase an sechs Schulen. Die stimmberechtigte Bevölkerung der Stadt Zürich nahm im Jahr 2018 eine Vorlage zur Weiterführung des Projekts an. Damit erhielt die Stadt grünes Licht, um in einer zweiten Phase den Tagesschulbetrieb in 24 weiteren Schulen aufzunehmen. Nach Abschluss der zweiten Phase, die von 2019 bis 2022 andauert, findet 2022 eine weitere Volksabstimmung über die flächendeckende Einführung des Tagesschulbetriebs statt. Sowohl der Stadtrat als auch das Schuldepartement verfolgen den Plan, den Tagesschulbetrieb ab 2023 an allen Stadtzürcher Volksschulen einzuführen.
Diese Schulen stellen bis Ende 2021 auf Tagesschulbetrieb um:
-Dachslern-Feldblumen
-Fluntern-Heubeeribüel
-Ilgen
Diese Schulen stellen bis Ende 2022 auf Tagesschulbetrieb um:
-Freilager
-Allmend
-Gubel
-Campus Glattal
Mehrere Ziele, Mehrkosten für Eltern
Das Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich verfolgt mit dem Projekt «Tagesschulen 2025» mehrere Ziele, wie es auf seiner Website erklärt. Zum einen solle durch und intensivere Betreuung und Förderung für mehr Chancengerechtigkeit zwischen den Schüler:innen gesorgt werden.
Zum anderen sollen Eltern ihren Beruf besser mit der Familie vereinbaren können. Das Projekt kommt jedoch nicht bei allen Eltern gut an, wie der Blick in die sozialen Netzwerke verrät. So beschwerte sich beispielsweise eine Mutter von vier Kindern über die mangelhafte Flexibilität des Tagesschulmodells.
Weil sie ihre Kinder für alle gebundenen Mittage entweder an- oder abmelden müsse und dies nicht individuell anpassen kann, würden Mehrkosten für sie entstehen: «An zwei Mittagen bin ich mit den Kleinen zuhause und koche für sie, während ich die Älteren kostenpflichtig verpflegen lassen muss», erklärt sie in einem Facebook-Post. Auf diese Weise würden für die Mutter während eines Jahres Mehrkosten von über 1000 Franken entstehen, wie sie schreibt. Bei den ungebundenen Betreuungsmodellen wäre eine An- und Abmeldung für einzelne Tage wiederum möglich, schreibt die betroffene Mutter weiter.
Zu den individuellen Betreuungsangeboten gehört auch das sogenannte «Hortmodell» der Stadt Zürich. Anders als bei der Tagesschule können die Eltern bei diesem Modell die Betreuungszeiten frei wählen. Dabei sind sie nicht verpflichtet, alle Betreuungstage für ein Semester zu buchen.
Durch den Einheitstarif von sechs Franken pro betreuten Mittag, den Eltern im Tagesschulmodell bezahlen, fällt das Tagesschulmodell jedoch günstiger aus. Gemäss einer Weisung des Stadtrates vom 14. April 2021, beläuft sich dieser Einheitstarif ab 2023 auf neun Franken pro betreutem Mittag. Mit dieser Tariferhöhung will die Stadt die Kosten für die Mahlzeiten und die Infrastrukturkosten decken.
Im Gegensatz zu anderen Betreuungsangeboten der Stadt gibt es beim Einheitstarif keine einkommensabhängigen Beitragsunterschiede: «Der Einheitstarif ist ein wichtiges Kernelement und hat zum Ziel, die Zahlbarkeit auch für mittlere Einkommen attraktiv zu machen», sagt das Schuldepartement auf Anfrage.
Es sei den Eltern selbst überlassen, ihre Kinder im Tagesschulmodell anzumelden oder die individuellen Betreuungsangebote zu nutzen, heisst es weiter. Für einkommensschwache Haushalte gilt bereits heute und auch nach 2023 ein Minimaltarif von 4.50 Franken.
FDP und SP wollen Kosten senken
Auch die Verkürzung der Mittagspause, die im Tagesschulmodell statt 110 noch 80 Minuten dauert, sorgt für Kritik von Seiten der Eltern. Diese sei eine «logische Schlussfolgerung», wie das Schul- und Sportdepartement auf Anfrage sagt. Dies, weil die meisten Kinder ohnehin über den Mittag in der Schule bleiben würden. Nachdem eine Mutter im Juni dieses Jahres eine Online-Petition aufschaltete, um die Kürzung der Mittagspause rückgängig zu machen, äusserte sich auch die Stadtzürcher FDP zu diesem Thema.
In einer Medienmitteilung vom 9. Juni schrieb die Partei, dass die «faktische Freiwilligkeit der Tagesschule auch dann gewährleistet sein muss, wenn etwa jüngere Kinder etwas längere Schulwege zurücklegen müssen». Bei einer Mittagspause von 80 Minuten sei diese Freiwilligkeit nicht mehr in allen Fällen gewährleistet. Das Tagesschulmodell berücksichtige nicht alle Familienmodelle, sagt denn auch die Zürcher FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois: «Es gibt Eltern, die sich abwechseln bei der Betreuung ihrer Kinder, oder nicht an allen Tagen eine externe Betreuung durch die Schule brauchen.»
Uns ist wichtig, dass das Hortsystem den Tagesschulen gleichgestellt ist.
Yasmine Bourgeois, FDP-Gemeinderätin
Das Hortmodell sei zwar flexibler, jedoch deutlich teurer als die Tagesschule, erklärt Bourgeois weiter. Ander als beim Tagesschulmodell, variieren die Horttarife je nach Einkommen der Eltern. Wenn ein Haushalt keinen Anspruch auf Leistungsbeiträge für die Betreuung ihrer Kinder hat, kostet ein betreuter Mittag im Hortmodell 33 Franken.
Aus diesem Grund reichte Bourgeois dieses Jahr gemeinsam mit der SP einen Vorstoss im Gemeinderat ein, um die Hortbetreuungskosten zu senken. «Uns ist wichtig, dass das Hortsystem den Tagesschulen gleichgestellt ist», sagt die FDP-Gemeinderätin. Der Minimaltarif von 4.50 Franken beim Hortmodell solle dabei nicht erhöht werden.
Neue Erfahrungen für Lehrkräfte
Die Kürzung der Mittagspause erfolgte im Sinne der Schüler:innen, sagt Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (ZLV): «Auf diese Weise müssen die Kinder nicht bis abends in der Schule bleiben.» Insgesamt hätten die Lehrkräfte verschiedene Erfahrungen mit dem Tagesschulmodell gemacht, sagt Hugi weiter.
Der ZLV-Präsident unterrichtet selbst als Lehrer an der Primarschule Am Wasser, die seit 2016 im Tagesschulbetrieb geführt wird. Die wichtigste Erkenntnis sei, dass die Tagesschule eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Schulunterricht und Betreuung mit sich bringt: «Die Hortarbeit wächst mit der Arbeit an der Schule enger zusammen, wodurch wir die Kinder in verschiedenen Settings umfassender wahrnehmen können.»
Die Lehrkräfte sehen sich nicht mehr so viel, was ein Nachteil ist.
Christian Hugi, Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband
Der Tagesschulbetrieb würde jedoch nicht nur Vorteile mit sich bringen, sagt der ZLV-Prädsident weiter. Die Lehrkräfte hätten weniger Zeit, um Absprachen zur Vor- und Nachbereitung des Unterrichts zu treffen: «Die Lehrkräfte sehen sich nicht mehr so viel, was ein Nachteil ist.» Dies sei vor allem dann der Fall, wenn die Lehrkräfte über den Mittag bei der Betreuung mithelfen. Lehrpersonen können dabei selbst entscheiden, ob sie bei der Tagesschulbetreuung mitarbeiten möchten oder nicht, sagt Hugi.
«Das finden wir vom ZLV auch wichtig. Lehrer:innen haben ihren Beruf gewählt, um zu unterrichten. Längst nicht alle möchten daneben auch noch in der Betreuung arbeiten», sagt Hugi weiter. Aber die Arbeit in der Betreuung auch neue Einblicke geben: «Als Betreuungsperson nimmt man eine andere Rolle ein, als jene, die man als Lehrkraft hat.»
Abmeldequoten von bis zu 40 Prozent
Der Hauptbericht zur Evaluation der Pilotphase II definierte für das Projekt Tagesschule 2025 eine Anmeldequote von 90 Prozent auf Primar- und 75 Prozent auf Sekundarstufe als Zielwert. Laut Schul- und Sportdepartement liegt die Anmeldequote in den insgesamt 27 Pilotschulen auf Kindergarten- und Primarstufe aktuell bei durchschnittlich rund 85 Prozent. In der Sekundarschule liegt die Anmeldequote bei 60 Prozent, schreibt das Schul- und Sportdepartement weiter.
Das Projekt fördere dennoch die Chancengerechtigkeit zwischen den Schüler:innen, findet Hugi. «Es ist grundsätzlich ein Vorteil, wenn das Angebot da ist, auch wenn es nicht alle nutzen», erklärt der Lehrer. Wenn nun beispielsweise von einer ganzen Klasse nur zwei Kinder nicht in der Mittagsbetreuung sind, könne dies aufgrund der Gruppendynamik ein Nachteil für die betroffenen Kinder sein. Dies sei jedoch von Fall zu Fall sehr verschieden, erklärt der Lehrer weiter: «Letztendlich liegt es auch im Ermessen der Lehrpersonen oder der Schulsozialarbeit, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen, wenn es wichtig wäre, die Kinder mehr in den Tagesschulbetrieb zu integrieren.»
Im Jahr 2020 wies vor allem die Primarschule Schauenberg eine verhältnismässig hohe Abmeldequote von über 40 Prozent auf. Das Schul- und Sportdepartement sieht jedoch auch bei einer solchen Abmeldequote eine Verbesserung der Bildungschancen. Die Gründe für die Abmeldungen seien nicht genauer bekannt, da die Eltern dies nicht angeben müssten.
Jedoch hätte gemäss Evaluationen die soziale Durchmischung an den Tagesschulen zugenommen, wie das Schul- und Sportdepartement betont: «Es meldet nur ein geringer Anteil der Eltern ihre Kinder aus Kostengründen von den gebundenen Mittagen ab.» Aktuelle Zahlen zu den An- und Abmeldequoten an den einzelnen Schulen wollte das Schul- und Sportdepartement auf Anfrage nicht bekannt geben – anders, als noch im Jahr 2020. Damals veröffentlichte die Stadt nach einer schriftlichen Anfrage der beiden Zürcher Grünen-Gemeinderäte Balz Bürgisser und Muammer Kurtulmus eine Liste der Abmeldequoten der jeweiligen Tagesschulen.
Zu wenig Räume an einzelnen Schulen
Durch das Tagesschulmodell sind mehr Räumlichkeiten für die zusätzliche Betreuung der Schüler:innen notwendig. Das Schul- und Sportdepartement konzentriert sich deshalb nach eigener Aussage auch auf eine Erweiterung der Küchen- und Raumkapazität an den Pilotschulen. Sollte eine Schule nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen, so gibt das Schul- und Sportdepartement an, diese Engpässe unter anderem durch Einmietungen in externe Gebäude zu lösen.
Dies ist zum Beispiel beim Schulhaus Weinberg-Turner im Kreis 6 der Fall, wo Schüler:innen ab der fünften Klasse das Schulgelände verlassen müssen, um in einem Gebäude direkt am stark befahrenen Schaffhauserplatz zu Mittag zu essen. Auch die Schule Fluntern-Heubeeribüel greife aus Platzgründen auf externe Räumlichkeiten zurück. So eine Lösung sei jedoch die Ausnahme, wie das Schul- und Sportdepartement auf weitere Anfrage schreibt: «Bei allen anderen Schulen wird der Hauptteil der Verpflegung zentral organisiert.»
Über die Zukunft des Projekts Tagesschule 2025 entscheidet im Jahr 2022 die stimmberechtigte Bevölkerung. Dann kommt die Frage, ob das Tagesschulmodell in allen Zürcher Schulen eingeführt werden soll, vor die Urne. Bei einem «Nein» würde die Stadt die Pilotschulen wieder in gewöhnliche Regelschulen zurückführen.
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