Wir alle sind süchtig
Für unseren Redaktor Philipp Mikhail ist es überheblich, naiv und konservativ zu glauben, frei von allen Süchten zu sein. Er glaubt, dass man sich der Sucht nicht entziehen kann.
Als streng christlich erzogenes Kind der Neunziger war ich mir sicher, dass der Junkie im Zugabteil links vorne, der krampfhaft versuchte, nicht einzuschlafen, vom Teufel besessen sein musste. Ich fürchtete mich als Kleinkind vor Heroinabhängigen. Manchmal betete ich in meiner Angst vor ihnen gar für sie und befahl den Dämonen, den Körper des Junkies zu verlassen – leider ohne Erfolg.
Beim Sihlcity stand damals noch eine Handvoll leerstehende rote Gebäude. Etwas mehr in Richtung Sihltal spritzten sich die Abhängigen Methadon. An der Haltestelle dealten sie, «schaufelten» oder suchten die Gleise nach versteckten Beutelchen mit «Sugar» ab.
Wie es das Schicksal wollte, sollte ich einige Jahre später genau an dieser Haltestelle täglich auf meinem Weg ins Gymnasium ein- und aussteigen. Inzwischen war ich ein Teenager geworden und die einzige Angst, die ich im Zusammenhang mit Heroinabhängigen noch hatte, war, auf eine infizierte Spritze zu treten. Oder dass ein Junkie mich nach einer Zigarette fragen würde, für die ich mein ganzes Essensgeld geopfert hatte, und ich ihm diese nicht abschlagen könnte.
Meine Angst vor Heroinabhängigen aus der Kindheit hatte sich über die Jahre in Mitleid verwandelt. Wahrscheinlich auch aufgrund meiner ersten eigenen Erfahrungen mit Rauschmitteln, also Alkohol und Cannabis. Den Respekt vor Heroin hatte ich nicht verloren. Dennoch wusste ich nun um die Genialität und die Anziehungskraft der Rauschmittel.
Und so meinte ich zu verstehen, dass Heroin so genial sein musste, dass man darum nicht damit aufhören konnte und deshalb sein Leben voll und ganz dieser Droge widmete. Ich selbst verspürte aber kein solches Verlangen nach irgendetwas, weshalb ich davon ausging, nach nichts ernsthaft süchtig zu sein.
Heute sehe ich in Heroin nichts Geniales mehr. Ich sehe nur noch den Irrtum, der diese Droge verursacht. Den Trugschluss, dass alle, die nicht heroinsüchtig sind, nach gar nichts süchtig sind und alles im Griff haben.
Als ich mir vor drei Jahren zum ersten Mal vornahm, einen Monat lang keinen Alkohol zu trinken, empfand ich schon nach einigen Tagen ein starkes Verlangen, mich zu betrinken. Der alkoholfreie Monat war ursprünglich als ein kleines Experiment gedacht. Ich wollte etwas gesünder leben.
Diesen September trat ich zum dritten Mal einen solchen alkoholfreien Monat an und musste erneut merken, wie stark meine Lust nach Alkohol noch immer ist, wenn ich mich diesem entziehe. Ich bin süchtig nach Alkohol. Es ist nicht die Art von Sucht, bei der ich einen Herzinfarkt bekäme, wenn ich auf mein Bier zum Frühstück verzichten würde. Sondern eine rein gesellschaftliche und psychologische Abhängigkeit, die sich erst auf den zweiten Blick als körperliche herausstellt.
Wenn ich nicht trinke, finde ich die Bars und Clubs, die Leute, ja sogar die Musik im Ausgang nur noch nervig. Wenn ich bei einem Apéro oder einem Nachtessen, zu dem ich eingeladen bin, dann nur ein Glas Orangensaft oder Eistee trinke, suche ich verkrampft nach Gesprächsthemen und schäme mich, zu diskutieren, eine andere Meinung zu haben. Und dann werde ich meistens schnell müde. Mein Körper und mein Geist scheinen direkt miteinander verbunden zu sein.
Während den alkoholfreien Monaten schlafe ich in der Regel täglich etwa zwei Stunden mehr als üblich. In genau diesen Momenten der Abstinenz fällt mir dann erst auf, wie überheblich meine Einstellung gegenüber Sucht ist.
Wie als Kind verteufle ich die Sucht auch heute noch, wenn auch auf eine weniger radikale Weise. Immer wieder vergesse ich, dass ich selbst nach unglaublich vielen Dingen abhängig bin, sowohl psychisch als auch körperlich.
Erst mit dem Verzicht zeigt sich meine Abhängigkeit. Und dann frage ich mich, welche anderen Süchte sonst noch in mir lauern. Aber Sucht ist etwas, dem man sich nicht entziehen kann. Und sie besteht als Lust auch weiter, wenn man sich ihr nicht hingibt. Heroin zu konsumieren, ist nicht ratsam. Doch es ist naiv und konservativ, in Gedanken mit dem Finger auf eine heroinsüchtige Person zu zeigen und dabei sich selbst einzureden, die Kontrolle über die eigenen Süchte zu haben.
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