Klettern als Therapie: Wie eine Ukrainerin in Zürich Halt gefunden hat
Daria Luzina flüchtete vor drei Jahren aus der Ukraine nach Zürich. Heute hilft sie anderen Geflüchteten dabei, anzukommen. Geschafft hat sie das auch durch Besuche in der Kletterhalle.
Daria Luzina presst ihre zerkratzten Finger an einen blauen Griff. Magnesiumstaub klebt an ihrer Haut, ihre Unterarme schwellen an. «Allez Dascha!», «Yalla!», «Boro!», ruft eine Gruppe junger Menschen hinter ihr. Luzina fixiert den nächsten Griff und schwingt die Arme nach oben.
«Am Anfang habe ich die Schweiz gehasst», sagt Luzina, die sich allen als Dascha vorstellt, als sie kurze Zeit später vor ihre Chai Latte sitzt. «Alles war ein bisschen zu fremd und die Menschen ein bisschen zu kalt.»
Die 28-jährige Ukrainerin kam vor knapp drei Jahren in die Schweiz, nachdem russische Truppen ihr Zuhause, die Donbassregion, eingenommen hatten. An diesem Sonntagmittag ist Luzina in der Boulderhalle mit der Non-Profit-Organisation «ClimbAid». Die Kletterwände sind niedrig, alle klettern ohne Seil. Hierher kommt sie mehrmals die Woche.
«Das Klettern ist meine Sucht, meine Leidenschaft und meine Therapie», sagt Luzina. Sie kann sich ein Leben ohne den Sport nicht mehr vorstellen, obwohl sie erst vor knapp zwei Jahren damit begonnen hat.
Sicher in schwindelerregender Höhe
Luzina wuchs in der Nähe von Luhansk auf, studierte Englisch und Ukrainisch. Als sie im März 2022 mit ihrer Mutter in Zürich ankam, kannte sie nur ihre Patentante, die bereits hier lebte. Die ersten Monate zog sie sich zurück, lebte von der Sozialhilfe, versank in Fantasyromanen. Bis sie entschied, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. «Ich musste raus.»
Also begann sie zu laufen, bis zum Marathon. Sie fühlte sich besser, jedoch lernte sie keine Menschen kennen. Dann hörte sie von einer Stiftung, die Geflüchteten ein Kletterabonnement bezahlt. Und kam so im März 2023 zu «ClimbAid» und zur Boulderhalle Minimum.
«Hier habe ich einen Freundeskreis gefunden», sagt Luzina. Mit ihnen fühle sie sich sicher, vergesse sie alles: Trotz Höhenangst habe sie in der Boulderhalle keine Angst. Sie fühlt sich geborgen, umgeben von farbigen Griffen, Matten und Magnesium.
Die Organisation «ClimbAid» wurde 2016 gegründet und organisiert mittlerweile Kletterkurse für Geflüchtete an 14 Standorten in der Schweiz. Über 160 Freiwillige helfen in den wöchentlich stattfindenden Sessions mit. Zudem hat die spendenfinanzierte Organisation ein Kletterprojekt zur Förderung der psychischen Gesundheit und einer inklusiven Gemeinschaft im Libanon aufgebaut.
Ein Griff nach dem anderen
Klettern kann das Selbstvertrauen stärken und die psychische Verfassung verbessern. Das konnte «ClimbAid» in einer kürzlich publizierten Studie zur Wirksamkeit ihres Programms im Libanon zeigen: Bereits acht Einheiten ihrer Bouldertherapie verbesserten das mentale Wohlbefinden der Teilnehmenden signifikant.
Beim Klettern etwas erreichen zu können, tue gut, sagt auch Luzina. Denn es gebe Routen für jedes Niveau, und mit jedem Griff, den man schaffe, schütte man Dopamin aus. Gerade nach einem stressigen Tag helfe es, sich auf eine Route zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Alles andere, das sind finanzielle Ängste, Einsamkeit oder Erinnerungen an den Krieg.
Wenn Luzina bouldert, atmet sie in den Bauch. Bevor sie zum ersten Griff greift, analysiert sie die Route an der Wand, um die beste Technik zu finden. «Ich glaube, das ist ein Toe Hook», sagt sie zu den Umstehenden, mit denen sie Deutsch spricht. Dann zieht sie sich an den rauen Kunststoffgriffen hoch, immer und immer wieder, bis sie das Ziel erreicht.
Luzina klettert mittlerweile so gut, dass sie bei «ClimbAid» selbst freiwillig Sessions für Geflüchtete leitet. Jeden Sonntag gibt es die Sessionen für junge Erwachsene und einmal im Monat solche für unbegleitete Minderjährige vom Bundesasylzentrum, begleitet von Sozialpädagogen der Stadt. Sie hat nun Freunde aus Eritrea, Afghanistan und der Ukraine.
«Das Wichtigste als Geflüchtete ist zu verstehen, dass man nicht alleine ist», sagt Luzina. Man spreche über den Alltag, weniger aber über die eigene Flucht. Das vermittle ein Gefühl von Normalität. Einige der Schweizer Helfer:innen trifft sie zudem auch ausserhalb der Boulderhalle, zum Kaffee, zum Keramikkurs oder zum Wanderwochenende.
«Ich habe kein Privatleben»
Heute ist Luzina nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen und arbeitet als Dolmetscherin für die Stadt. Jeden Samstag besucht sie einen Deutschkurs im Niveau C1. Und seit einigen Monaten zeigt sie ihrer Kursleiterin Tetiana Gubii, einer 36-jährigen Ukrainerin, die seit zehn Jahren in der Schweiz lebt, wie man klettert – auf Deutsch.
Luzina mag ihre Rolle als Coach. Sie ist geduldig, spornt an, macht Mut. Ihre Projekte, wie sie die technisch anspruchsvollen Routen in der Halle nennt, wecken aber auch ihren Ehrgeiz. Irgendwann will sie den Grad 8a erreichen. Die Boulderskala reicht derzeit von 4 bis 9a. Momentan schafft sie an guten Tagen 6a.
Luzina setzt sich auf eine Matte und lockert ihre Kletterfinken. Ihre Fersen sind rot, sie hat Blasen. Oft verlässt sie das Minimum erst kurz vor Schluss.
«Ich habe kein Privatleben», sagt sie und lacht. Dann tippt ihr jemand auf die Schulter und drückt sie an sich. An diesem Ort gibt es kaum jemanden, der Dascha nicht kennt.
Während der Krieg in der Ukraine weiterhin tobt und zu Hause Krankenkassenrechnungen warten, fühlt sich Luzina mit jedem Griff ein bisschen leichter. Und wenn sie fällt, landet sie sanft.
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