Warum Inklusion am Weltwirtschaftsforum klappt – und an Zürcher Events nicht
Als Mensch mit Behinderung ist sich Islam Alijaj gewohnt, dass er Hilfsmittel selbst organisieren muss. Trotzdem stimmt es unseren Kolumnisten nicht nur positiv, als er während seines Besuchs am Weltwirtschaftsforum in Davos einen anderen Umgang mit Inklusion erlebt.
«Hallo Islam! Cool, kommst du auch zur Demo?», begrüsst mich freudig ein mutmassliches Mitglied der Klimajugend, als ich am Abend vom 19. Januar im Zug nach Davos Platz genommen habe.
Oh, dachte ich mir. Das gibt jetzt gleich eine veritable Produktenttäuschung, wenn ich offenbare, dass ich zwar auch nach Davos fahre, aber nicht um an der örtlichen Demo gegen die kapitalistische Internationale, sondern um am Weltwirtschaftsforum (WEF) teilzunehmen. Am WEF!
Zu meiner Verteidigung bringe ich vor, dass mich die Schwab Foundation für mein inklusives Engagement auszeichnet und ich den Anlass insgesamt aber natürlich sehr kritisch sehen würde. Ja klar, ich sei doch Team (Behinderten-)Revolution!
Im Grunde demonstriere ich ja auch, nur eben auf der Veranstaltung. Schon meine blosse Anwesenheit dort sei doch bereits ein Sieg der Gleichstellung.
Ganz überzeugen kann ich damit weder mein Gegenüber noch mich selbst.
«Barrierefreiheit, wie ich sie in Davos erleben durfte, ist alles andere als selbstverständlich.»
Islam Alijaj
In Davos angekommen, geht es ins Hotel. Auf mich wartet ein viertägiger Marathon aus Preisverleihung, Paneldiskussionen und Networking-Events.
Und ich muss leider sagen: Ich habe noch keine inklusivere Veranstaltung erlebt.
Zum einen inhaltlich, da die Inklusionsdebatte im internationalen Kontext teilweise deutlich weiter ist als bei uns in der Schweiz. Zum andern aber vor allem materiell: Keine zu hohen Türschwellen, die ich überwinden muss, kein Umweg über einen Warenlift, kein Stehtisch, kein als Abstellkammer zweckentfremdetes Behinderten-WC und vor allem: keine Bühne ohne Rampe.
Keine Bühne ohne Rampe? Werden sich jetzt einige von euch vielleicht fragen. Wer würde sich den auch die Blösse geben, einen Preisträger im Rollstuhl einzuladen, der dann nicht auf die Bühne kann?
Ich nenne keine Namen, aber ich war letztes Jahr anlässlich meiner Nationalratskampagne auch auf zwei Award-Shows der Werbebranche.
Die Bilanz: Einmal musste ich mir meine Rampe selbst organisieren. Beim anderen Mal war zwar eine versprochen worden, dann aber nicht vor Ort. Und da sitzt man dann als versammelte Branchen-Elite, beklatscht den gesellschaftlichen Fortschritt und merkt gar nicht, dass man nicht mal die banalste Form der Inklusion unfallfrei – Achtung Wortspiel – über die Bühne gebracht hat.
Kurzum: Barrierefreiheit, wie ich sie in Davos erleben durfte, ist alles andere als selbstverständlich.
Gleichzeitig spüre ich, dass das nicht nur gut ist. Im Umfeld der globalen Entscheider geht plötzlich alles. Dort ist Inklusion kein täglicher Kampf mehr, sondern steht dank fast unbegrenzter Ressourcen einfach zur Verfügung.
Sie brauchen noch ein Shuttle, das sie zum Hotel bringt? Klar, machen wir. Sie reisen mit einer Assistentin und Pflege-Person? Die Zimmer sind gebucht.
In dieser Welt sind die alltäglichen Herausforderungen der Inklusion schlicht nicht mehr präsent. Und so frage ich mich am Ende meiner vier Tage in Davos, ob nicht genau das auch Teil der Erklärung ist, weshalb die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in Politik und Wirtschaft oft nicht ausreichend wahrgenommen werden.
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