Vier Häuser im Kreis 4 trotzen der Aufwertung – dank einer Tramlinie
Die vier Häuser am Ende der Brauerstrasse im Kreis 4 fallen auf. Wo früher SBB-Mitarbeitende wohnten, leben auch heute noch Arbeiter:innen. Was viele nicht wissen: Dank einer Tramlinie sind die Bauten noch nicht der Aufwertung zum Opfer gefallen.
«Das hat bestimmt ein Ossi gebaut», waren Peters erste Gedanken, als er in sein Zimmer an der Brauerstrasse im Kreis 4 einzog. 2005 kam der Maurer von Ostdeutschland nach Zürich. «Hast du etwa was gegen Ossis?», fragt ein anderer Bewohner im selben Dialekt. Die beiden sitzen in ihrem Gartenhaus. Hinter ihnen erstreckt sich das Gleisfeld. Kaffee und Zigaretten werden über den Tisch gereicht.
Wer mit dem Zug in den Hauptbahnhof einfährt, hat die Häuser bestimmt schon erspäht, sich vielleicht gefragt, wer hier wohl wohnt. Und vielleicht auch, ob hier überhaupt jemand wohnt. Das Grundstück mitsamt den vier Bauten gehört der SBB, diese wiederum vermietet die Liegenschaft seit Mitte 2000 der Gleisbaufirma Sersa.
Mehr über die Häuser findet man im «Spezialinventar SBB-Gebäude» heraus. Darin werden die Bauten von 1965 als «Junggesellenheime» bezeichnet, in anderen Unterlagen ist die Rede von «Ledigenhäuser». Gebaut wurden sie für Mitarbeitende des ehemaligen Güterbahnhofs, der einst da stand, wo heute das Polizei- und Justizzentrum Zürich hervorragt. Auch gegenwärtig wohnen in den «Ledigenhäuser» noch Arbeiter:innen der Gleisbaufirma.
Die Gebäude mit Flachdächern sehen identisch aus. «Man erkennt gut, dass sie aus vorgefertigten, transportablen Elementen zusammengesetzt wurden», heisst es in den Dokumenten. Und genau dieser Fertighaus-Charakter mit Platten aus einer Zement-Holzspan-Mischung erinnert an Plattenbau-Siedlungen, wie man sie aus der ehemaligen DDR kennt. Farbton: anzusiedeln irgendwo zwischen grau und weiss.
Tramlinie 1 – die vorläufige Rettung der Arbeiterhäuser
Während die SBB vom «spartanischen architektonischen Charakter» und von einer ungeschminkten Erscheinungsform schreiben, sehen die Häuser heute marode und heruntergekommen aus. Die Farbe blättert von den Holzläden ab, das Material bröckelt, der Ausbaustandard ist nicht mehr zeitgemäss, die Aussenwände sind versprayt.
Und das in perfekter Lage im Kreis 4. Warum also lassen die SBB sie überhaupt stehen?
«Das Glück dieser Häuser ist die auf Jahre vertagte Tramlinie 1. Solange unklar ist, ob und wann die Tramlinie kommt, werden die SBB nicht bauen», weiss Hannes Lindenmeyer, der ebenfalls im Gartenhaus sitzt. Der Stadtgeograf wohnt seit bald 50 Jahren im Kreis 4 und hat zwei Bücher über die Geschichte des Quartiers publiziert. Seine Vermutung bestätigen auch die SBB: Die Fläche sei mit einer Baulinie der Stadt Zürich für das Tram 1 belegt, weshalb sie keine Investitionen tätigen würden.
«Solange unklar ist, ob und wann die Tramlinie kommt, werden die SBB nicht bauen.»
Hannes Lindenmeyer, Stadtgeograf
Die Tramlinie 1 ist bereits seit 2006 in der VBZ-Strategie verankert, sie soll dereinst vom Hauptbahnhof entlang den Gleisanlagen bis nach Altstetten führen – quasi der 31er-Bus in Tramform. Ihr müssten die Häuser weichen. So sieht es auch der Richtplan der Stadt Zürich vor: Die Strecke zwischen Bahnhof Altstetten bis Hauptbahnhof via Hardplatz, Neufrankengasse und Lagerstrasse ist als mittel- bis langfristig geplante Tramstrecke festgesetzt.
Im Januar stellten die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) die «Netzentwicklungsstrategie 2040» vor. Mit der neuen Strategie wurde der Fokus für den ÖV-Ausbau in Zürich für die nächsten drei Jahrzehnte zwar auf den Ausbau eines Ringsystems gelegt. Dennoch bleibe die Linie 1 langfristig eine Option, sagte Stadtrat Michael Baumer an der Medienkonferenz. Auf Nachfrage bei der VBZ heisst es, dass man eine «vertiefte Prüfung» der Tramlinie nach 2040 anstrebe.
Für Peter und die anderen Bewohner:innen ein Segen. Die auf Jahre vertagte Linie hält die Gentrifizierung auf diesem Landstück im Zaum.
Ein Stück Arbeitergeschichte
Die vier Häuser erstrecken sich über je drei Etagen. Peter führt in sein Zimmer, für das er laut seinen Angaben 600 Franken Miete bezahlt. Auf dem Geschoss hat es weitere neun Zimmer. Etwa 7 Quadratmeter dienen ihm als Schlafzimmer und Büro. Lediglich ein Lavabo hat er für sich selbst, Küche, Nasszellen und Aufenthaltsraum teilt man sich. Am Anschlagbrett im Eingang hängt eine Anleitung auf Deutsch, Italienisch und Portugiesisch, wie Züri-Säcke zu gebrauchen sind. Was für viele nach Lagerleben klingt, ist für die Bewohner:innen Alltag.
«Die Häuser an der Brauerstrasse entstanden in Zeiten, in denen in Zürich für Ausländer:innen – damals vor allem für Menschen aus Italien – unmenschliche Verhältnisse herrschten», sagt Lindenmeyer. Denn die Häuser erzählen ihm zufolge nicht nur ein Stück SBB-Geschichte, sondern auch Zürichs Arbeitergeschichte. Diese hat er in seinem Buch «Aussersihl bewegt» aufgearbeitet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Schweiz einen Wirtschaftsboom, es ging aufwärts und die Bautätigkeit nahm zu. Hiess: Zürich brauchte Arbeiter:innen.
Während die Schweiz damals dringend auf Kräfte aus dem Ausland angewiesen war, wollte die Politik verhindern, dass sich die Menschen längerfristig niederlassen. Das sogenannte «Saisonnierstatut» kam zum Tragen. Der Familiennachzug wurde verboten oder erheblich erschwert. Italienische Kinder lebten von den Eltern getrennt oder mussten sich verstecken. «Das waren schlimme Verhältnisse», erinnert sich der 78-Jährige. Das Gesetz war von 1934 bis 2002 in Kraft, bis zum Beginn der Personenfreizügigkeit mit der EU.
Gastarbeiter:innen, die damals im Güterbahnhof arbeiteten, kamen etwa im SBB-Barackendorf unter. Dort lebten sie auf engstem Raum. Die unhaltbaren Wohnbedingungen und die Überbelegung der Baracken seien auch in der italienischen Zeitung «L’Unità» kritisiert worden, so Lindenmeyer. Mit über 200'000 Auflagen war damals die Tageszeitung der kommunistischen Partei eine der führenden Zeitungen Italiens.
Die SBB reagierten und bauten die «vier schmucklosen Betonbauten», wie die beiden Autoren Ralph Baenziger und Detlev Bugmann die Geschichte für den Quartierverein Aussersihl-Hard dokumentieren. Das «Ledigenheim» für vor allem Büroangestellte des Güterbahnhofs entstand. Peters heutiges Zuhause.
Zürich ist für Bauarbeiter:innen zu teuer
«Eigentlich sollte man diese Häuser unter Denkmalschutz stellen», sagt Lindenmeyer. Denn die Architektur entspreche dem Baustil des 1952 erstellten Dienstgebäudes auf der andern Seite der Gleise. Dieses steht heute unter Denkmalschutz, es ist ein Werk von Hans Hilfiker, der unter anderem die mittlerweile kultige SBB- Bahnhofsuhr gestaltet hat.
Lindenmeyer schaut über die Gleise, begutachtet das Gartenhaus, das die Bewohner:innen in Eigenleistung erbaut haben. Im Hintergrund ruckelt ein Zug vorbei, die Gleise quietschen. «Als ich in Zürich ankam, war ich enttäuscht. In Ostdeutschland hatten die Wohnheime bessere Ausstrahlung», sagt Peter und lacht. Über die Geschichte der Häuser weiss er Bescheid. Er und die anderen Bewohnenden sind Teil der Arbeiter:innengeschichte, die bis heute anhält.
Nach Angaben der Gleisbaufirma Sersa kommen in den Zimmern mehrheitlich ihre eigenen Mitarbeiter:innen unter, teilweise auch welche von Partnerunternehmen. Die Bewohner:innen, die hauptsächlich aus dem EU-Raum kommen, seien für mehrere Monate in den Zimmern. Angaben zur Belegung und den Mietpreisen möchte man keine machen.
«Unsere Mitglieder ziehen seit Jahren tendenziell aus der Stadt.»
Nicole Niedermüller, Gewerkschaft Unia
Da in den Zimmern vorwiegend Menschen aus dem Baugewerbe wohnen, sind die Häuser auch der Gewerkschaft Unia bekannt. «Wir haben mehrheitlich männliche Gewerkschaftsmitglieder, etwa Gleisbauer, Gipser, Plattenleger, die an der Brauerstrasse wohnen», sagt Nicole Niedermüller von der Unia Zürich-Schaffhausen.
Vergleicht man die Häuser mit dem restlichen Quartier, fallen diese zwar aus der Zeit. Der Zustand und der Ausbaustandard seien nicht optimal, dennoch sei dieser Wohnraum aufgrund der tiefen Miete wertvoll.
Auch Peter will sich nicht über den Ausbau beklagen, nur Witze über die «Schweizer Platte» macht er gerne. Er sei aber vor allem froh über die zentrale Wohnlage. Zurecht: «Unsere Mitglieder ziehen seit Jahren tendenziell aus der Stadt», sagt Niedermüller. Die Gewerkschaft beobachtet, dass immer mehr Menschen aus dem Baugewerbe es sich nicht mehr leisten können, in der Stadt zu wohnen. Viele zieht es in die Agglomeration nach Schlieren oder Regensdorf.
Die Häuser gehören also nicht nur zu einem der letzten Überbleibsel des Güterbahnhofs, sondern sind auch die letzte Arbeitersiedlung – und eine kleine Oase mitten im Kreis 4: Rund um die heruntergekommenen Häuser treiben die Knospen aus, auf der Wiese spriessen Primeln und ein eigens angelegtes Gemüsebeet einer Bewohnerin erwacht aus dem Winterschlaf.
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