Vom Verkehrsweg zum Lebensraum: Zürichs Mühen mit dem öffentlichen Raum
Strassenraum ist mehr als nur eine Verbindung zwischen zwei Orten. Dies hat auch die Stadt Zürich erkannt – und verfolgt eine entsprechende Strategie. Trotzdem muss sich laut unserem Kolumnisten Thomas Hug-Di Lena zuerst noch beweisen, dass sie auch den Weg in die Umsetzung findet.
Wer an Strassen denkt, assoziiert zunächst Verkehr: Velovorzugsrouten, attraktive Fusswege oder neue ÖV-Verbindungen. Doch wenn Strassen nur als technische Verbindungen von A nach B betrachtet werden, verlieren sie ihre Bedeutung für das soziale Leben.
Die Reduktion unserer Strassenräume auf ihre Verkehrsfunktion führt zu einer Verarmung des städtischen Lebens. Doch was passiert, wenn wir Strassen wieder als multifunktionale Räume verstehen? Quartierplätze, die zum Verweilen einladen, Begegnungszonen, in denen Kinder spielen können, begrünte Strassen, die als Erweiterung des Wohnraums dienen – all das schafft Lebensqualität jenseits von Verkehr.
Die Stadt Zürich hat den notwendigen Perspektivwechsel erkannt. Deshalb gilt seit 2024 eine neue Strategie: Stadtraum und Mobilität 2040. Von nun an soll also die Qualität der öffentlichen Räume dem Verkehr ebenbürtig sein.
Doch zwischen wohlklingenden Visionen und konkreter Umsetzung klafft oft eine gewaltige Lücke. Die entscheidende Frage ist, ob die Stadt genügend Mut aufbringen wird, etablierte Prioritäten tatsächlich umzukehren.
Die Realität in vielen Quartieren lässt daran Zweifel aufkommen: Nach wie vor dominieren parkende Autos die Strassenränder, während für Begegnungsflächen und urbanes Grün kaum Platz bleibt. Die Bedürfnisse des Verkehrs haben in Planungsverfahren praktisch immer Vorrang.
Das Versagen der Stadt in drei Akten:
Akt 1: Die autoarme Langstrasse
Seit rund eineinhalb Jahren gilt auf der Langstrasse auf rund 50 Metern ein Fahrverbot für motorisierte Fahrzeuge. Das Ziel: Neue Qualitäten auf der lebhaften Strasse schaffen. Weil sich die Busse auf der ganzen Länge kreuzen müssen – eine Anforderung, die zumindest hinterfragt werden sollte –, sieht der Ort nahezu identisch aus wie in den Jahrzehnten davor.
Die Langstrasse hätte ein sichtbares Zeichen dafür sein können, wie sich Stadträume verändern. Stattdessen bleibt sie ein Symbol für halbherzige Umsetzung.
Es ist also kein Wunder, dass die Autos weiterhin reihenweise das Fahrverbot missachten: Die fehlende stadträumliche Umgestaltung sendet das unbeabsichtigte Signal, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Der Strassenraum kommuniziert nach wie vor seine jahrzehntelange Funktion als Verkehrsweg.
Akt 2: Kieswüste an der Zurlindenstrasse
Irritierend ist auch die vor einem Jahr erfolgte Neugestaltung an der Ecke Sihlfeld-/Zurlinden- und Kalkbreitestrasse. Ein liebloser Kiesplatz entstand dort direkt an der Kreuzung. Ausgerechnet in Zeiten, in denen Schottergärten verboten werden, um die Klimaerwärmung zu bekämpfen und Biodiversität zu fördern, schafft Zürich neue versiegelte Flächen.
Dass die Stadt dies als «Übergangslösung» bezeichnet und verspricht, in den nächsten Jahren ein Folgeprojekt mit mehr Grün zu realisieren, unterstreicht primär die fehlende Gewichtung von stadträumlichen Aspekten in der städtischen Planung.
Akt 3: Velo-Zickzack am Hallwylplatz
Ein aktuelles Beispiel für eine halbherzige Umsetzung zeigt sich am Hallwylplatz im Kreis 4. Statt diesen Ort ganzheitlich im Sinne der neuen Strategie zu denken, kommt die Stadt mit einer technokratischen Lösung daher: Die geplante Velovorzugsroute soll in einem merkwürdigen Zickzack um den Platz herumgeführt werden.
Der grosse Verlierer dieser merkwürdigen Führung ist nicht etwa das Velo, sondern der Platz selbst. Denn die verkehrstechnische Perspektive zerstört die Chance, den Hallwylplatz als integrierten Stadtraum neu zu konzipieren. Dabei hätte sie den Platz nach dem Vorbild des Röntgenplatzes zu einem echten Begegnungsraum umgestalten können.
Diese Beispiele werfen eine grundlegende Frage auf: Wer ist eigentlich für die Qualität des öffentlichen Raums in Zürich zuständig?
Landschaftsarchitekt:innen verfügen zwar über das gestalterische Know-how, haben aber selten das letzte Wort. Verkehrsplaner:innen fokussieren primär auf Bewegungsflüsse und Sicherheitsaspekte (einige löbliche Ausnahmen ausgenommen). Architekt:innen konzentrieren sich meist auf die Gebäude, nicht auf den Raum dazwischen (ebenfalls einige löbliche Ausnahmen ausgenommen). Und die Verkehrsbetriebe verteidigen ihre Betriebsanforderungen mit Vehemenz. Dazwischen bleibt der öffentliche Raum als Lebensraum auf der Strecke.
Solange alle ein bisschen, aber niemand wirklich zuständig ist für die Qualität des öffentlichen Raums, dürfte es häufig bei Kiesplätzen oder kaum erkennbaren Fahrverboten bleiben.
Zürich braucht nicht nur eine neue Strategie, sondern auch mutige Verantwortliche, die bereit sind, den öffentlichen Raum tatsächlich zurückzuerobern. Der schönste Strategieplan bleibt wirkungslos, wenn ihn in der täglichen Arbeit niemand verteidigt. Deshalb: Seid mutig!
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