Verhaltensökonom im Interview

Aufschrei um Bargeld: «Vielen geht es ums Prinzip»

Sowohl das Kunsthaus als auch der Weihnachtsmarkt am Zürcher Hauptbahnhof wollten die Bargeldzahlung abschaffen. Das löste eine Welle der Empörung aus. Doch warum hängen Menschen so sehr an den Nötli? Verhaltensökonom Marcel Stadelmann klärt auf.

Schweizer Geldnoten Format 4:3
Bargeld ist längst nicht mehr das gängigste Zahlungsmittel. (Bild: Unsplash/Claudio Schwarz)

Minea Pejakovic: In den letzten Tagen und Wochen wurde die Abschaffung von Bargeldzahlungen kontrovers diskutiert. So hat unter anderem das Kunsthaus angekündigt, nur noch elektronische Zahlungsmittel anzunehmen. Warum werden Bargeldzahlungen abgeschafft?

Marcel Stadelmann: Den meisten Menschen sind die Gebühren bei den bargeldlosen Zahlungsmitteln bekannt. Vielen ist jedoch nicht bewusst, dass auch die Zahlung mit Bargeld Kosten für Unternehmen verursacht. Diese verstecken sich in vielen kleinen Arbeitsschritten, wie beispielsweise dem Zählen des Bargelds, dem Durchführen des Kassensturzes sowie der Beschaffung von Wechselgeld. 

Das Geld muss anschliessend auch wieder zur Bank gebracht werden – all das braucht Zeit. Und wenn man Bargeld akzeptiert, besteht die Gefahr, dass es verloren geht oder gestohlen wird. Daher müssen Unternehmen sich in gewissen Fällen schützen und einen Geldtransporter oder Sicherheitsleute organisieren. All diese Schritte verursachen Kosten. Wenn man kein Bargeld akzeptiert, entfallen diese Ausgaben.

Auch der Weihnachtsmarkt im Zürcher Hauptbahnhof wollte kein Bargeld mehr akzeptieren. Welche Vorteile hätte das gebracht?

Gerade bei zeitlich befristeten Anlässen wie Weihnachtsmärkten ist es besonders aufwändig, eine komplette Bargeldinfrastruktur aufzubauen und zu unterhalten. Die hohen Umsätze an gut besuchten Tagen führen zu grossen Bargeldansammlungen, was ein erhöhtes Sicherheitsrisiko mit sich bringt.

Wer auf Kartenzahlungen oder Bezahl-Apps setzt, behält einen besseren Überblick über die Einnahmen. Beim Weihnachtsmarkt im Zürcher Hauptbahnhof war das ein entscheidendes Argument, da die Standmiete auch eine umsatzabhängige Komponente enthält. Mit digitalen Zahlungen lassen sich die tatsächlichen Umsätze lückenlos nachvollziehen – bei Bargeld wäre das deutlich schwieriger.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Bei zeitlich befristeten Veranstaltungen arbeiten häufig Temporäre wie Schüler:innen und Studierende. Sie identifizieren sich naturgemäss weniger mit dem finanziellen Ergebnis des gesamten Anlasses und nehmen es beispielsweise beim Wechselgeld für Freund:innen nicht immer so genau. Bei «cashless-only» entfällt diese Problematik komplett. Das kennen wir auch von Festivals und Open-Airs im Sommer, die schon länger auf bargeldlose Systeme setzen.

Werden bestimmte Leute ausgeschlossen, wenn kein Bargeld akzeptiert wird?

Unsere Studien haben gezeigt, dass heute mehr als 90 Prozent der Bevölkerung eine Kreditkarte, eine Debitkarte oder Twint besitzen. Eine grosse Mehrheit hat somit die Möglichkeit, bargeldlos zu zahlen.

Nach grosser Empörung haben das Kunsthaus und der Weihnachtsmarkt im Hauptbahnhof ihre Entscheidung wieder zurückgenommen. Aber warum ärgern sich Menschen über den Verlust der Bargeldzahlung, wenn die meisten ohnehin mit Karte zahlen?

Meiner Ansicht nach sind es nur wenige Menschen, die sich wirklich so stark ärgern. Diese Menschen sind sehr laut und können sich stark Gehör verschaffen. Das Thema polarisiert, weshalb die Medien darauf aufmerksam werden. 

Vielen geht es um das Prinzip. Wir Schweizer:innen sind sehr freiheitsliebend und stehen Veränderungen oft kritisch gegenüber. Daher möchten wir die Wahlfreiheit haben und selbst entscheiden können, wann wir mit Bargeld zahlen. Seit der Corona-Pandemie werden auch die Stimmen lauter, die sich vor einem Überwachungsstaat fürchten. Dieselben Kreise kämpfen für einen Erhalt des Bargelds aus Gründen des Datenschutzes, da bei bargeldlosen Zahlungen Datenspuren hinterlassen werden.

Warum rudern Unternehmen zurück, anstatt zu ihrer Entscheidung zu stehen und abzuwarten, was passiert?

Aufgrund des öffentlichen Aufschreis. Viele Unternehmen wollen nicht die Ersten sein, die sich exponieren und die gesamte Verärgerung der Bevölkerung abbekommen. Es gibt aber auch Fälle, in denen Unternehmen bewusster und strategischer an die Thematik herangegangen sind. Ein Beispiel dafür ist die Familie Wiesner Gastronomie. Vor etwa zwei Jahren haben sie beschlossen, in ihren Betrieben keine Bargeldzahlungen mehr zu akzeptieren. Es gab Kritik, aber keinen grossen Aufschrei.

«Es gibt immer mehr Menschen, die nie Bargeld bei sich tragen.»

Marcel Stadelmann, Verhaltensökonom

Die angekündigten Bussen für Standbetreiber:innen des Weihnachtsmarkts, die dennoch Bargeld annehmen, waren sicher auch nicht hilfreich. 

Die Kommunikation war etwas ungünstig. Das Bargeld wurde nicht nur abgeschafft, sondern quasi verboten. Das wurde als weitere Eskalationsstufe wahrgenommen, dass Bargeld nicht nur nicht mehr willkommen ist, sondern sogar sanktioniert wird.

Werden Menschen denn auch ausgeschlossen, wenn nur Bargeld akzeptiert wird?

Es gibt immer mehr Menschen, die nie Bargeld bei sich tragen. Einige haben häufig gar kein Portemonnaie mehr dabei. In den wenigsten Fällen trägt man vielleicht noch irgendein Notfall-20-Franken-Nötli im Hosensack oder in der Handyhülle. Ich würde daher sagen, dass sich ein Betrieb kaum noch leisten kann, nur Bargeld zu akzeptieren – zumindest nicht in einer Stadt.

Marcel Stadelmann Verhaltensökonom
Dr. Marcel Stadelmann ist Verhaltensökonom und doziert an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. (Bild: Privat)

In der Stadt gibt es aber auch Betriebe, die nur Bargeld akzeptieren. Was sind die Gründe dafür?

Es können verschiedene Faktoren dahinterstecken. Zum einen kann es die persönliche Überzeugung der Betreiber:innen sein. Vielleicht sind sie gegen Kartenzahlungen, weil sie keine grossen Firmen «mitfinanzieren» möchten. 

Es kann sich aber auch um eine ökonomische Überlegung handeln, insbesondere, wenn in einer Bar viele kleine Beträge anfallen. Bei den meisten bargeldlosen Zahlungen hat man einen Vertrag, bei dem pro Transaktion eine bestimmte Gebühr fällig wird. Zusätzlich fällt eine prozentuale Provision an.

Wenn pro Transaktion beispielsweise zehn Rappen fällig werden, kann sich das bei vielen kleinen Beträgen summieren. Zudem bleiben bei einer einzelnen Bar mit überschaubarem Umsatz die Kosten des Umgangs mit dem Bargeld im Rahmen. Und letztlich spielt auch die Einstellung des Klientels eine Rolle.

Die Schweizerische Nationalbank schätzt eine Zukunft ganz ohne Bargeld als unwahrscheinlich ein. Was glauben Sie, wird unsere Zukunft bargeldlos sein?

Nein, das glaube ich nicht. Bargeld ist schliesslich nicht nur ein Zahlungs-, sondern auch ein Wertaufbewahrungsmittel. Viele Schweizer:innen nutzen es, um zu Hause ein paar hundert Franken als Sicherheitsreserve zu haben. Ausserdem braucht man es vielleicht noch als Götti-Batze oder anderweitig als Geschenk.

Es werden jedoch immer mehr bargeldlose Anwendungen entwickelt, die uns das Leben erleichtern sollen, wie zum Beispiel beim Bezahlen von Parktickets. Daher wird Bargeld im Alltag also wahrscheinlich weniger präsent sein. Ganz verschwinden wird es in den nächsten 20 Jahren aber kaum.

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Minea Pejakovic

Nach der Ausbildung zur Kauffrau EFZ beim Sozialdepartement der Stadt Zürich folgte die Berufsmaturität an der KV Zürich mit Schwerpunkt Wirtschaft. Anschliessend Bachelorabschluss in Kommunikation und Medien mit Vertiefung Journalismus an der ZHAW. Erste journalistische Erfahrungen als Praktikantin in der Redaktion von Tsüri.

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Kommentare

Simona
21. November 2025 um 07:02

Hmm

... ich habe dieses Interview mit grossem Interesse gelesen, dochmuss ich am Schluss sagen, dass es sehr einseitig wirkt. Es scheint als würden die Bedenken der Bargeld-Befürworter*innen komplett unter den Teppich gekehrt. "90% besitzen eine Karte - hallo ? das sind 10% der Bevölkerung welche dies nicht tun, das ist nicht wenig. Ich denke da an Kinder, Senior*innen, Flüchtende Menschen ? Durch die "kein Bargeldpolitik" wird wieder ein neues Hinderniss geschaffen, welches die barrierefreie Teilnahme aller an der Gesellschaft erschwert. Schade fand kein hinterfragnderer Gedanke Platz im Interview.