Hohe Mietpreise: Familie Künzli droht die Verdrängung aus der Stadt
Gemäss einer aktuellen ETH-Studie werden Haushalte mit tiefem Einkommen besonders häufig aus der Stadt verdrängt. Dies blüht auch einer Familie aus Wiedikon. Weil ihre Wohnung saniert wird, sucht sie ein neues Zuhause – bisher erfolglos.
Miriam Künzli blickt auf die Wiese vor sich. Im Gras liegen rosa Blüten, die sich vom nahestehenden Kirschbaum gelöst haben. Unweit davon turnen zwei kleine Kinder auf einem Spielgerüst, ihre Mütter unterhalten sich bei den Kinderwagen.
Der Heiligfeldpark im Kreis 3 hat in den letzten Jahren eine grosse Rolle in Künzlis Leben gespielt, hier habe sie Kindergeburtstage veranstaltet und sich regelmässig mit befreundeten Familien getroffen. «Es ist unser Mikrokosmos», sagt sie.
Seit fast 20 Jahren wohnt sie mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Sohn ganz in der Nähe, an der Albisriederstrasse. Dieser Lebensabschnitt neigt sich nun dem Ende zu.
Vor drei Monaten, Anfang Februar haben sie die Kündigung für ihre 3-Zimmer-Wohnung erhalten. «Ein Schockmoment», wie sie sagt, denn eine ähnlich günstige Wohnung in Zürich oder gar im gleichen Quartier zu finden, scheint ein Ding der Unmöglichkeit.
Mit diesem Problem sind die Künzlis nicht alleine. Eine aktuelle Studie der ETH Zürich zeigt: Neben alten und migrantischen Menschen werden vor allem Familien mit geringem Budget aus der Stadt verdrängt.
1390 Franken im Monat zahlt die dreiköpfige Familie für ihre aktuelle Bleibe. Die durchschnittliche Marktmiete im Sihlfeld liegt laut der Immobilienbewertungs-Plattform Real Advisor allerdings bei über 2800 Franken monatlich.
Unbezahlbar für die freischaffende Fotografin und den selbstständigen Grafiker. «Wir sind stark angewiesen auf bezahlbaren Wohnraum», sagt Künzli. In der Stadt bleiben zu können, ist ihr ein grosses Anliegen. Am liebsten würden sie gar nicht aus Wiedikon wegziehen. Vor allem wegen ihres Sohns. «Wir wollen ihn nicht aus dem Quartier reissen, er hat hier seinen kompletten Lebensinhalt.»
Seit seiner Geburt vor 13 Jahren seien sie noch enger mit dem Quartier verwachsen. «Er ist im Kindergarten Letzigraben eingeschult worden», sagt Künzli und deutet auf das Gebäude auf der anderen Seite der Wiese. Heute gehe er in die nahegelegene Schule Albisriederplatz, habe seine Freund:innen, den Musikunterricht, die Pfadi und das Bouldern in Gehdistanz. Dass all dies durch einen Umzug verloren gehen könnte, stimmt die 48-jährige Mutter nachdenklich.
Termin vor der Schlichtungsbehörde steht noch an
Sie hätten es kommen sehen, sagt Künzli. Und trotzdem habe ihr die Kündigung den Boden unter den Füssen weggerissen. «In der ganzen Stadt werden Häuser saniert, den Mieter:innen gekündigt, aber man hat immer die Hoffnung, dass man davon verschont bleibt.»
Doch das Glück war Künzlis Nachbar:innen vorbehalten. Während eine Liegenschaft nebenan vor einiger Zeit mieter:innenfreundlich saniert wurde und die Bewohner:innen zu einem bezahlbaren Mietpreis bleiben konnten, wurde im Haus der Künzlis allen acht Haushalten gekündigt. Per Ende September müssten sie ausziehen.
Um mehr Zeit für die Wohnungssuche zu gewinnen, hat die Familie Künzli die Kündigung angefochten. Im Juni ist der Termin bei der Schlichtungsbehörde. «Ich weiss nicht, was passiert, wenn unser Anliegen abgelehnt wird», sagt Künzli. «Die Hälfte der Frist ist jetzt schon um und wir haben nichts.»
Wenn die Wohnungssuche das Leben bestimmt
Die Wohnungssuche sei sehr zermürbend, erzählt die Fotografin. Täglich schaue sie auf den gängigen Portalen nach möglichen Wohnungen, doch die meisten seien schlicht zu teuer. «Der Preisdruck ist enorm hoch im Quartier, aber auch sonst in der Stadt.» Auch in Birmensdorf oder Schlieren gibt es laut Künzli keine riesige Auswahl.
«Meine ganze Welt bricht zusammen, wenn wir aus dem Kreis 3 wegziehen müssen.»
Miriam Künzli
Sie sei froh darüber, dass in ihrem Haus nur zwei Familien mit Kindern betroffen sind. «Bei einer Situation wie mit den Sugus-Häusern ist klar, dass nicht alle im Quartier bleiben können. Wo sollen wir denn alle hin?» Mittlerweile dominiere die Suche nach einem neuen Zuhause ihren gesamten Alltag.
Dass sie noch keine Anschlusslösung haben, verursache auch enorm viel emotionalen Stress. «Es frisst mich völlig auf.» Immer wieder würden ihre Gedanken um die ungewisse Zukunft kreisen. «Meine ganze Welt bricht zusammen, wenn wir aus dem Kreis 3 wegziehen müssen. Wir haben hier eine Existenz aufgebaut. Der Zusammenhalt im Quartier, die nachbarschaftliche Hilfe, all das könnte wegbrechen», so Künzli.
Gentrifizierung sei kaum aufzuhalten
Mit Geschichten wie jener der Familie Künzli beschäftigt sich Vesna Tomse schon lange. Als Soziologin setzt sie sich mit der Entwicklung von Städten wie Zürich und der Gentrifizierung auseinander. «Das sind Prozesse, die wir schon seit längerem beobachten», sagt Tomse.
Ein Quartier gilt als eher unattraktiv, wird vielleicht durch schlecht gepflegte Häuser oder der Strassenprositution «abgewertet». Die Wohnungen seien deshalb oft günstig, weshalb sich Familien, Menschen mit tieferen Einkommen, aber auch viele Kunst- und Kulturschaffende ansiedeln.
Das führt laut der Forscherin dazu, dass das Quartier für Investor:innen attraktiver wird: «Die ursprünglichen Gentrifizierer werden weggentrifiziert.» Ähnliche Dynamiken habe es vor wenigen Jahrzehnten im Seefeld gegeben: «Früher war es ein lebendiges Quartier, heute ist es tot.» Die Profitmaximierung habe dort jegliche Durchmischung zunichtegemacht.
«Wir haben hier eine hohe Lebensqualität. Da ist es klar, dass Investor:innen kommen.»
Vesna Tomse, Stadtsoziologin
Dies drohe heute vielen Gegenden in Zürich. Quartierstrukturen wie Nachbarschaftshilfe oder eine Community aufzubauen, sei unsichtbare Arbeit, die oft viele Jahre dauern würde, so Tomse. «Kaputt gemacht hat man es dann aber ziemlich schnell.»
Wenn man über Gentrifizierung spreche, müsse man verstehen, dass es ein passiver Prozess sei. «Es ist etwas Unsichtbares, das man eigentlich nicht aufhalten kann.» Teil des Problems: Die Aufwertung eines Stadtteils sei per se marktfördernd.
«Eine Katastrophe für Menschen, die sehr eingebunden sind»
Das einzige, was eine Stadt dagegen unternehmen könne, sei schon in der Entwicklung von Quartieren zu sichern, dass es auch in Zukunft bezahlbare Wohnungen gäbe. Zum Beispiel durch gemeinnützigen Wohnbau.
Denn Zürich sei heute bereits eine attraktive Stadt, so die Soziologin. «Wir haben hier eine hohe Lebensqualität, eine hohe Dichte an Kultur, eine funktionierende Gesundheitsversorgung, gute Schulen. Da ist es klar, dass Investor:innen kommen.»
Die Behörden hätten nur begrenzte Hebel, um dem entgegenzuwirken. «Eine schwierige Ausgangslage für die Stadt, aber eine Katastrophe für Menschen, die in einem Quartier sehr eingebunden sind und aufgrund ihres kleinen Budgets keine neue Wohnung mehr finden», sagt Tomse.
Familie Künzli ist kein Einzelfall
Dass sich solche Schicksale in Zürich häufen, soll eine neue Studie der ETH Zürich beweisen, die Leerkündigungen untersuchte. Zwar werde die Untersuchung erst im kommenden Juni publiziert, doch Teile davon wurden bereits an einer Fachtagung der Öffentlichkeit präsentiert, wie das SRF berichtet.
Gezeigt habe sich dabei unter anderem, dass vor allem die Region Zürich überproportional von Leerkündigungen betroffen ist. Dabei würden vor allem vulnerable Personen verdrängt, wie etwa alte, migrantische, alleinerziehende Menschen und Familien mit tiefem Einkommen. Rund ein Drittel von ihnen finden laut den ETH-Forschenden keine Anschlusslösung in der Stadt. Stattdessen würden sie durch eher jüngere Leute, Haushalte ohne Kinder und gut verdienende Schweizer:innen und Expats verdrängt, die rund doppelt so gut verdienen würden.
Harte Kost für Miriam Künzli. Trotzdem werde sie alles in ihrer Macht Mögliche tun, um weiterhin im Kreis 3 wohnen zu können. Der Vermieter habe der Familie angeboten, nach der Sanierung wieder auf die Wohnung bewerben zu können, doch Künzli ist sich sicher: «Diese Miete werden wir uns nicht mehr leisten können.» Stattdessen hofft sie auf eine städtische oder genossenschaftliche Wohnung.
Im Wohnbrief vom 29. April findest du News und Tipps zu Wohnthemen in Zürich.
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