Winterrede Milky Diamond: «Wir müssen Verschiedenheit akzeptieren, Anderssein schützen, Vielfalt feiern!»

Wenn um 18 Uhr die Grossmünsterglocken verklungen sind, richtet sich jeden Abend eine Persönlichkeit aus dem Erkerfenster «Karl der Grosse» ans Publikum auf dem Grossmünsterplatz. Für 20 Minuten lauschen wir der Rede und wärmen uns danach bei Glühwein und Suppe im Restaurant auf. Hast du die Rede verpasst? Hier kannst du sie nachlesen!

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Rede: Milky Diamond

Guten Abend Herr bis Frau Tsüri

Für die Zuhörer_innen, die mich nicht kennen... ja es spricht wirklich eine Drag Queen zu ihnen. Direkt beim ehrwürdigen Grossmünster, Popkultur meets Erkerfenster.

Mein Name ist Milky Diamond, ich bin 26 und arbeite seit 6 Jahren auf Bühnen im In- und Ausland. Sie denken sich vielleicht... von was will denn eine Drag Queen in ihrer Winterrede erzählen?

Glauben sie mir, Sie und ich, wir zwei, haben uns diese Frage die letzten Wochen lang gestellt. Soll ich über das unglaublich ermüdende Beine rasieren reden? Der Titel der Rede wäre dann: Mein Kampf – gegen die Männlichkeit.

Oder vielleicht ausführlich darüber philosophieren, wie es sich anfühlt, seine Genitalien so zu formen, das auch der engste Badeanzug aalglatt sitzt?

Diese zwei «Themen» sind immer die Ersten, die kommen, wenn ich vor einem Journalisten sitze. In diesem Sinne: Vielen Dank Tamedia, die wirklich nur die kreativsten Köpfe anstellt.

Ich könnte die 15 Minuten auch dafür nützen, schamlos für meine Produktion mit Agota Dimen zu werben. «Hey Late Night Drag im Millers. 22.Februar. Kauft Tickets, es ist super lustig.»

Aber ich glaube, ihr möchtet vielleicht von meinem glamourösen Leben auf den Bühnen dieser Welt hören: Vom Blitzlichtgewitter, das eigentlich meistens mein eigenes iPhone ist oder von den schmackhaften Döner-Caterings vom New Point.

Ich könnte auch über das derzeitige Weltgeschehen referieren, über die US-Angriffe im Iran, über den Generationen-Clash zwischen den OK Bommer und den Greta-Millenials, oder, am allerwichtigsten, dass Jennifer Aniston und Brad Pitt wieder zusammen sein sollen?!

Aber für kritischen Blick zum Iran gibt es ja unsere Qualitätsmedien, die Weltwoche. Und auch in den Konflikt Boomer versus Thunberg darf ich mich nicht einbringen, denn wir wollen ja auch nicht, dass reihenweise Herzschrittmacher ausfallen. Und es interessiert doch wirklich niemand mit wem Jennifer Aniston gerade schnackselt...

Wir sind tagtäglich umgeben von von gephotoshoppten Influencern, die sich wie die Influenza in unseren Smartphones mit ihrem Fake verbreiten und von Cervelatprominenzen, die sich über eine Restaurantreservation aufregen... deswegen erzähle ich euch heute eine wahre Geschichte, die das Leben von vielen unter uns widerspiegelt...

Es geht um einen 15 Jährigen Jungen der im Dorf lebt. Michael weiss schon als kleiner Junge dass er anders ist, alles alle anderen.

Wenn die anderen Kinder Fussball spielen, malt Michael Models in schönen Gewändern.

Wenn die anderen Kinder mit Autos spielen, spielt Michael mit Barbies und frisiert ihre Kunsthaare.

Wenn die anderen Kinder Michael auslachen, versteht er nicht, was er falsch macht, denn er ist doch nur sich selbst? Doch wenn andere lachen, muss sich selbst zu sein, ein Fehler sein. Also fängt Michael an, seine Barbies zu hassen, seine Zeichnungen zu zerreissen und probiert, Fussball zu spielen.

Mit 15 Jahren ist Michael ein grosser Fan von Lady Gaga, die aufwendigen Glitzerkostüme, Designerschuhe und der Fame, das steht für genau das, was Michael verkörpern will: sich nicht verstecken, sondern der grossen Welt endlich zeigen, wer er wirklich ist. Bunt wie der Regenbogen.

Michael fängt an, seine Haare zu färben, die Hosen in der Frauenabteilung zu kaufen und das erste Mal in Jahren sieht er sich so im Spiegel, wie er ist. Doch desto mehr er seine Kindheits-Kostümierung abwirft, desto mehr reagiert die Welt um ihn herum auf den Wandel. Tanten und Cousins kommentieren sein Erscheinen als «Fasnacht» und «unangebracht». Was denken wohl die Nachbarn über ihn? Das wirft ein schlechtes Licht auf uns!

Je mehr Michael seine Verkleidung abschüttelt, desto mehr Leute im Bus fangen an, zu tuscheln.

Auf der Strasse wird gerufen:

«Schwuchtel!»

«Faggot!»

«Bring dich um!»

Die Zeit hält an, jede Sekunde ist wie eine Stunde, tausend Gedanken im Kopf, tiefe Verletzung, werde ich angegriffen, kommen sie mir nach, was ist mein schnellster Weg, schneller Puls, ständige Alarmbereitschaft.

«Schwuchtel! Faggot! Bring’ dich um!» Die Stimmen schreiben sich in das Innere von Michael, die Rufenden, Schimpfenden, Schlagenden müssen gar nicht mehr in der Nähe sein, ihr Hass wirkt auch so. Der schnelle Blick um die Ecke wird zu Michaels Alltag, nie mehr sicher fühlen, ständige Alarmbereitschaft, bis er Zuhause den Hausschlüssel dreht.

Mit 19 Jahren überrollt Michael den dauernden Druck und die ständig Angst. Sein erster Freund trennt sich nach zwei Jahren von ihm, das Verhältnis zu seiner Familie ist so schlecht, das die Eltern manchmal tagelang nicht mit ihm reden.

Michael ist alleine.

Er verbringt viele Tage alleine in seinem Zimmer, denkt darüber nach, in was für einer grausamen Welt wir leben: Eine Welt, die nur Rollen akzeptiert, Verkleidungen verlangt, Menschen in Schubladen steckt, aber echte, ehrliche, verschiedene Menschen mit indoktrinierter Scham und roher Gewalt unterdrückt.

Die Psychologin hilft Michael nicht weiter: Wie soll er einer Frau trauen, die sicher auch ein Urteil fällt über ihn? Wie soll er die Schwierigkeiten mit der eigenen Famile aufarbeiten, wenn gerade diese Familie Psychologie für unnötig erklärt? Was soll eine Psychologin überhaupt helfen können: Die Welt ändert sich deswegen ja nicht!

Michael isoliert sich von seiner Aussenwelt und richtet den Hass und den Zorn gegen sich selbst, gegen seinen eigenen Körper. Doch eigentlich will Michael sich der Welt öffnen und ihr zeigen, wer er ist. Die Welt, die er kennt, will aber davon nichts wissen.

Mit 20 Jahren bricht Michael aus: Ausbrechen aus dem Dorf, aus der Familie, aus der Isolation, ausbrechen aus der Scham, den negativen Gefühlen. Michael zieht in eine grosse Stadt, wo auch seine wenigen Freundinnen und Freunde leben.

Er fängt an, sich selbst zu sein, wieder. In kindlicher Erinnerung, als erwachsener Mann, trägt er die Kleider, die er will. Er beginnt das Studium, das er immer machen wollte. Er findet Lehrerinnen und Mitstudenten, die ihn förderten und herausforderten. Er findet Freundschaften, wo Erfahrungen und Gefühle geteilt werden dürfen. Er findet sich selbst in einer neu entdeckten Welt, und er gibt dieser Welt das grösste Geschenk: sich selbst.

«So bin ich und das ist gut so!», ruft Michael.

Märchen haben ein Happy End, aber das richtige Leben garantiert einem keinen glücklichen Verlauf. Bei Schwulen und Lesben ist die Suizidrate etwa fünfmal so hoch wie bei heterosexuellen Jugendlichen. Bei transgender Jugendlichen geschätzte sechs- bis zehnmal so hoch wie bei heterosexuellen Jugendlichen. Und das in der Schweiz, wo Suizid sowieso schon die häufigste Todesursache von Teenagern ist.

Nicht alle sind wie Michael: Können in eine andere Welt flüchten, die ihnen Asyl bietet. Viele finden keinen Zugang zu ihrer Community, finden nicht die Hilfe, die sie brauchen, weil es sie nicht gibt, weil sie zu weit weg ist, weil sie kostet, weil ihre Hilferufe nicht gehört werden, weil niemand hinhören will! Viele finden keinen Weg aus der Dunkelheit.

Ich bin heute hier, um zu fordern. Nicht nur im Namen von Schwulen, von Dragqueens, Lesben und trans Menschen, sondern im Namen aller Minderheiten und Minoritäten, die einfach nur ihr Kostüm abwerfen und sich selbst sein wollen.

In der Schweiz haben wir schon so ein gutes Leben, Spitäler, Schulen, Busse und AHV-Renten... Vorbildlich. Wir müssen auch sonst ein Vorbild sein: Verschiedenheit akzeptieren, Anderssein schützen, Vielfalt feiern! Michaels Leben ist eine persönliche Erfolgsgeschichte. Aber es ist ein Armutszeugnis für die Schweiz.

Ich habe es geschafft, ein bisschen mehr so zu werden, wie ich bin. Doch auch heute, wenn ich durch die Stadt laufe, und die Wörter höre, sei es als Erinnerung oder als trauriger Alltag in Zürich, im Jahr 2020: «Schwuchtel», «Bring dich um», dann bin ich für einen kurzen Moment wieder 19, ganz alleine. Der Unterschied ist: Ich kann mich heute in die Arme der Community fallen lassen, die sich um mich sorgt. Schaffen wir an unserer Welt, wo wir so sein können, wie wir sind und schliessen wir jene aus, die hassen und hetzen. Auch am Abstimmungssonntag vom 9. Februar.

Wir sind das herz-wärmende Licht für den nächsten Michael, der immer noch in der Dunkelheit sitzt. Danke.

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