Winterrede Helen Glaser: «Miteinander, nebeneinander, füreinander geht nicht allein»

Karl der Grosse lädt zur siebten Ausgabe der «Winterreden» ein – und zwar bei dir zu Hause! Vom 11. bis 15. und vom 18. bis 22. Januar 2021 haltet jeweils um 18 Uhr eine Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Kunst eine Rede. Radio GDS.FM überträgt die Reden live. Hast du die Winterrede verpasst? Hier kannst du sie nachlesen!

Gemeinderatspräsidentin Helen Glaser (Foto: Jill Oestreich)

Rede: Helen Glaser

Zusammenleben in der Gesellschaft und Individualismus erfordern gegenseitige Rücksichtnahme.

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer

Miteinander, nebeneinander, füreinander geht nicht allein. Diesen Spruch habe ich letzthin auf einem Schild gelesen – er ist mir geblieben: Er sagt so schön in einfachen Worten, was es braucht, damit das Zusammenleben in einer Gesellschaft, das Zusammenleben von uns allen funktioniert. Die Frage, wie wir das Zusammenleben gestalten, ist ein Thema, das mir immer wieder über den Weg läuft und das mich seit längerem immer wieder beschäftigt. Privat, im Alltag, bei der Arbeit und vor allem auch in der Politik. Ich begrüsse Sie herzlich zur heutigen Winterrede und freue mich, dass Sie sich ein paar Minuten Zeit nehmen, um meine Gedanken und Überlegungen zu hören, und – wer weiss – etwas davon in Ihrem Alltag übernehmen.

Mein Name ist Helen Glaser, ich bin die diesjährige Gemeinderatspräsidentin; ich stehe also dem Stadtparlament vor und bin damit noch bis Mitte Mai die sogenannte höchste Zürcherin. Gern hätte ich aus dem Erker des Zentrums Karl der Grosse zu Ihnen gesprochen, ich hatte mich gefreut auf diesen ehrwürdigen Moment. Wie so vieles in meinem Amtsjahr ist auch diese Veranstaltungsform Corona zum Opfer gefallen. Wenigstens nicht die Winterreden als solche, sondern nur die Form. Ich möchte an dieser Stelle allen Beteiligten einen grossen Dank aussprechen für die professionelle Betreuung und Organisation. So spreche ich nun also über den Äther zu Ihnen. Selber dürfte ich zwar aus dem Erker das Wort an Sie richten, Sie dürften unten aber nicht stehen bleiben wegen dem Versammlungsverbot. Es ist so zwar nicht dasselbe, nicht für Sie und nicht für mich, es fehlen die klirrende Kälte, der dunkle Himmel mit den glitzernden Sternen, der sichtbare Atem in der klaren Luft, die gerötete Nase und das Beieinanderstehen. Wenigstens finden die Winterreden dennoch statt. Und ich hoffe, meine Botschaft kommt trotzdem bei Ihnen an.

Kennen – oder besser kannten – Sie Kaspar Fischer? Er war ein begnadeter Schweizer Schauspieler und Kabarettist. Leider verstarb er vor 20 Jahren 61-jährig an einem Krebsleiden. Vor knapp 30 Jahren spielte er im Hechtplatztheater das Stück «Der Lebensbaum»: Die Hauptfigur war eine alte Frau, die bisher ein unauffälliges, angepasstes Leben geführt hatte. Eines schönen Tages hatte Sie genug davon und beschloss, aus ihrem gewohnten Alltag auszubrechen. Sie beschrieb dies in etwa so: Ich möchte nicht mehr Teil einer Hecke sein, in der ich so gar nicht als eigener Busch wahrgenommen werde; vielmehr möchte ich als einzelnes Bäumchen gesehen werden, das u. a. auch zu dieser Hecke gehört. So entschied sie – bildlich gesehen – ihre Äste etwas auszustrecken und wachsen zu lassen. Sie hatte in der Folge verschiedenste Erlebnisse: lustige und komische Begegnungen, manche Menschen stiess sie vor den Kopf oder überforderte sie mit ihrem plötzlichen Anderssein, ja Aufmüpfigsein, wieder andere bewunderten ihren Wandel, ja beneideten sie darum, denn plötzlich entsprach sie so gar nicht mehr dem Bild, dass die anderen vor ihr hatten. Sie verlangte Ihrem Umfeld so einiges an Grosszügigkeit und Rücksichtnahme ab. Dafür entwickelte sie sich mit der Zeit zu einer wunderbaren klaren, positiven, starken Frau, die ihr Umfeld bereicherte. Am Ende ihres Lebens war ihr Lebensbaum ein wahres Kunstwerk und verschönerte damit auch die ganze Hecke.

Diese Geschichte trifft beim Thema meiner Rede so ziemlich ins Schwarze. Wir sind Teil der Gesellschaft, in der wir leben, und gleichzeitig ist jede und jeder von uns ein Individuum und möchte seine individuellen Seiten ausleben und als einzigartige Persönlichkeit wahr- und ernst genommen werden.

Den meisten Menschen hier in der Schweiz und in Zürich geht es gut. Vor allem im Vergleich mit anderen Ländern. Wir haben ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit, eine Ausbildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem, ein weit entwickeltes Ausbildungssystem, das verschiedenste Chancen bietet, wir haben ein vielseitiges kulturelles Angebot, es gibt x Restaurants und Beizchen, wir haben verschiedenste Freiräume und die Natur. Wir leben in einer sicheren Welt, brauchen keine Angst vor dem Staat und vor Terror zu haben. Wir haben Menschen um uns herum, Familie, Freunde, Arbeitskolleginnen und -kollegen ... Und weil es uns so gut geht, haben wir auch die Kapazität, uns zu entwickeln und zu entfalten – wir brauchen uns um das Allernötigste keine grossen Sorgen zu machen und haben den Kopf für anderes frei.

Was wir nicht haben, ist unbeschränkt Platz. Der Wohnraum ist knapp. Der öffentliche Raum ist zum Teil überfüllt. In den öffentlichen Verkehrsmitteln steht man unter Umständen eng. Für gewisse Menschen gibt es nicht genügend Parkplätze. Anderen fehlt der Grünraum. Das Gut Raum können wir nicht beliebig vermehren. Wir können nur mehr zusammenrücken, uns den Raum auch zeitlich teilen und vor allem können wir den Raum bewusst nutzen und gegenseitig Rücksicht nehmen. Es ist nicht immer einfach, diesen beschränkten Raum und unser Bedürfnis nach Entfaltung unter einen Hut zu bringen.

Wer verteilt denn den Raum? Das sind unter anderem wir gewählten Politikerinnen und Politiker mit unseren Entscheiden und deren Umsetzung. Und es sind immer auch wieder Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, dann nämlich, wenn Sie ihre politischen Rechte wahrnehmen: Dann, wenn Sie wählen gehen, wenn es darum geht mitzubestimmen, wer in den Gemeinderat und in den Stadtrat soll; und auch dann, wenn Sie bei Volksabstimmungen nicht zu Hause bleiben, sondern Ihren Stimmzettel in die Urne legen.

Bei all diesen Entscheiden gibt es immer Gewinner und Verlierer. Es sind nicht immer alle gleich glücklich mit den Ergebnissen. Ich habe vorhin denn auch ganz unterschiedliche Beispiele genannt. Sie können sich vorstellen, dass ich als SP-Politikerin mich eher für mehr unversiegelte Flächen und Grünraum und für mehr bezahlbaren Wohnraum, als für mehr Parkplätze stark mache. Und dass ich im Gemeinderat diese Anliegen oft auch mit vorwärts bringe. Dies dank der rotgrünen Mehrheit, die wir in dieser Legislatur im Stadtparlament haben. Ich höre dabei immer wieder das Wort «durchmarschieren» – z. B. von bürgerlichen Politikerinnen und Politikern. Sagen sie das aus Frust? Oder aus Resignation? Mich ärgern solche Aussagen und ehrlich gesagt verstehe ich sie auch nicht. Denn: Einerseits hat das Volk uns gewählt, und andererseits würde ich von verantwortungsvollen Menschen erwarten, dass Sie eine demokratisch gewählte Mehrheit akzeptieren. Und vor allem mit ihr zusammenarbeiten.

Und da bin ich wieder bei meinem Thema. Wir sitzen nebeneinander im Stadtparlament mit dem Auftrag, gemeinsam, also miteinander kluge Lösungen auszuklügeln für die Bevölkerung und für die Stadt, also füreinander. So verstehe ich Politik. Für mich bedeutet Politisieren nicht, dass immer nur die Mehrheit ihre eigenen Anliegen und Standpunkte durchbringt, ohne sich je auch nur einen Millimeter nach links oder rechts zu bewegen, und dass die Minderheit ihre Aufgabe vor allem darin sieht, die Politik der Mehrheit zu behindern und zu verhindern mit Winkelzügen, Anschuldigungen und auf dem Rechtsweg. Das verhindert, dass wir uns vertrauen. Und das ist meiner Meinung nach Gift für das Politisieren miteinander und füreinander. Vielmehr vertrete ich den Standpunkt, dass alle Parlamentsmitglieder vom Volk gewählt sind und die Bevölkerung vertreten. Somit ist oder wäre es unsere Aufgabe, miteinander zu reden und zu diskutieren, einander zuzuhören und immer wieder auch Kompromisse zu finden für unsere Stadt. Das macht das Politisieren für mich spannend, dann habe ich das Gefühl, daran zu wachsen, auch persönlich. Ich bedaure, dass dies in dieser Legislatur kaum stattfindet, dass die Bürgerlichen – trotz wiederholter Gesprächs- und Zusammenarbeitsangebote der linksgrünen Seite – mehrheitlich nicht darauf eingehen, dass die linksgrüne Seite nicht immer offen ist für ein Miteinander und dass so eine konstruktive Zusammenarbeit, sprich das Finden des gemeinsamen Nenners, derzeit kaum je möglich ist.

Ich habe vorhin gesagt, dass wir hier in der Schweiz und speziell auch in Zürich die Kapazität haben, uns zu entwickeln und zu entfalten, eben weil es uns so gut geht. Wir sind Individuen, wir sind Einzelstücke. Zum Glück! Es ist wichtig, dass jede und jeder sich als einzelnes Wesen fühlt und definiert und sich innerhalb der Gesellschaft als etwas Besonderes fühlt. Ich bin sehr froh, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der so viel Individualismus Platz hat, ja sogar erwünscht ist. Konkret heisst das, dass wir einen gewissen Raum für uns selber beanspruchen für Hobbys, Freizeit, Experimente, Gesellschaftliches, Kulturelles. Das geht aber nur, wenn die anderen um uns herum uns diesen Raum auch lassen. Man kann es auch von der anderen Seite anschauen: Wenn ich Raum brauche, kann ich davon ausgehen, dass andere dies auch möchten. Und so, wie ich darauf angewiesen bin, dass die anderen mir diesen Raum zugestehen, sind sie darauf angewiesen, dass ich selber Gegenrecht halte.

Das ist manchmal eine Gratwanderung und es ist ein stetes Ausbalancieren.

Das gilt zu Hause mit den Mitbewohnerinnen und den Mitbewohnern und auch mit den Nachbarinnen und Nachbarn. Und das gilt vermehrt noch im öffentlichen Raum, in dem sich auch andere Menschen aufhalten und den wir nebeneinander gemeinsam nutzen. Ich staune immer wieder über Menschen, die kein Sensorium dafür haben, für die neben ihnen niemand zu existieren scheint oder denen die anderen einfach egal sind. Das kennen Sie doch auch: Musik aus einem Smartphone, die alle im Umkreis von mehreren Metern gezwungen sind mitzuhören. Der halbvolle Cola-Becher, den jemand im Tram hat stehen lassen. Das falsch parkierte Auto der Nachbarn, weil sie keine Lust hatten, einen blauen Parkplatz zu suchen und allenfalls ein paar Minuten zu Fuss zu gehen. Diese Beispiele mögen kleinlich tönen, sie stören wahrscheinlich auch nicht alle Menschen gleich stark. Es sind aber solche Beispiele, die aufzeigen, dass wir alle in Sachen Zusammenleben noch hinzulernen können. Auch ich. Gefordert sind Rücksicht, eine gewisse Grosszügigkeit und Gelassenheit, damit die Person nebenan ihre Individualität ausleben kann. Ebenso braucht es eine gewisse Rücksichtnahme, Bewusstheit und Bescheidenheit beim Ausleben des eigenen Individualismus, damit die anderen nicht zu sehr «belästigt» und an den Rand geschoben werden. Individualismus geht nun mal nicht allein.

Ich komme nochmals zurück an den Anfang meiner Ausführungen, wo ich von «den meisten» gesprochen habe. Schon beim Verfassen meiner Rede dachte ich: Das ist eine zu allgemeine Aussage. Da werden alle, denen es eben doch nicht so gut geht, denen es schlecht geht, denken: «Die kann gut reden, die weiss ja gar nicht, was es heisst, wenn man keine Arbeit und auch keine Aussicht auf welche hat, wenn man obdachlos ist und auf der Strasse lebt, wenn das Geld weder für die Miete noch für den Arztbesuch reicht, wenn die Sozialhilfe dabei mitredet, was man besitzen darf, wie gross die Wohnung sein bzw. was sie kosten darf und ob und wie lange man die Familie im Ausland besuchen darf. Recht haben sie: Hier habe ich keine Ahnung oder besser gesagt keine grosse Ahnung. Weil mir solches bisher nicht wiederfahren ist. Und doch weiss ich, wie es sich anfühlt, wenn es einem schlecht geht. Auch ich hatte nicht nur sonnige Tage in meinem bisherigen Leben. Und ich habe Menschen in meinem Freundeskreis, die aus eigener Erfahrung wissen, wie sich dies anfühlt. Ich bin mir sicher, dass das Leben und das Zusammenleben für alle, wirklich alle, ein bisschen gewinnt, wenn meine Gedanken zum Thema «miteinander, nebeneinander, füreinander» unser aller Alltag etwas verändern.

Individualismus geht nun mal nicht allein

Helen Glaser

Mit den Werten, die ich in meiner Rede vertrete, bin ich gross geworden. Ich komme aus einer alt-liberalen, protestantischen Familie. Bei uns zu Haus war es normal, Besuch zu haben oder auf Besuch zu gehen, die Kontakte waren eine fröhliche Bereicherung in unserem Leben. Meine Eltern führten eine recht moderne Ehe, zwar mit der traditionellen Rollenverteilung, aber sehr auf Augenhöhe, mit Freiräumen, eigenen Hobbys und gleichberechtigt. Und es war bei uns zu Hause selbstverständlich, für Freunde und Familie da zu sein und sich gegenseitig zu unterstützen, wo nötig. Diese Werte gehören gleichzeitig auch zu den Anliegen der sozialdemokratischen Partei, für die ich seit vielen Jahren politisch aktiv bin.

Meine Herkunft und meine Lebenserfahrung haben mich geprägt: Ich glaube an das grundsätzlich Gute im Menschen und an unsere Fähigkeit, mit vereinten Kräften Dinge zum Besseren zu verändern. Ich glaube daran, dass wir fähig sind, diese Gratwanderung und dieses Ausbalancieren zwischen Individualismus und Zusammenleben in der Gesellschaft zu verinnerlichen und dann bewusst nach aussen zu leben.

Ich wünsche Ihnen allen, dass Ihnen dies gelingt, und ich wünsche Ihnen allen ein möglichst gutes Jahr 2021, eine robuste Gesundheit und irgendwann dann wieder einen Alltag, in dem wir uns unbeschwert und unmaskiert in der Gesellschaft und im öffentlichen Raum bewegen und uns begegnen können.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit.

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