«Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen»

Am 5. Mai besucht die Autorin Svenja Flasspöhler das Literaturhaus Zürich. Mit im Gepäck: Ihr Buch «Streiten». Im Interview verrät die deutsche Philosophin, warum wir streiten müssen und wie Streit für Zusammenhalt sorgt.

Philosophin und Autorin Svenja Flasspöhler
Die Philosophin Svenja Flasspöhler plädiert für mehr Streitkultur: Im Literaturhaus Zürich spricht sie darüber, wie produktiver Streit Zusammenhalt schaffen kann. (Bild: Johanna Rübel)

Am Montag, dem 5. Mai, ist die deutsche Philosophin und Autorin Svenja Flasspöhler zu Gast im Literaturhaus Zürich und spricht über ihr Buch «Streiten» – ein Plädoyer für die produktive Auseinandersetzung in einer polarisierten Gesellschaft. Die Veranstaltung ist inzwischen ausgebucht, Interessierte können das Gespräch aber im Live-Stream mitverfolgen.

Sofiya Miroshnyk: Worüber streiten Sie gerade?

Svenja Flasspöhler: Mit meinem Mann über die Frage, ob mehrere, einander widerstreitende Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg rational begründbar sein können. Und mit meiner Tochter übers Zimmer aufräumen.

Was interessiert Sie als Philosophin am Thema Streit?

Mich interessiert zunächst einmal das Phänomen. Das Wort Streit kommt vom Althochdeutschen «strît». Ursprünglich bezeichnete man damit den Waffenkampf. Heute meinen wir mit «Streit» keine Schlacht um Leben und Tod mehr, sondern eine verbale Auseinandersetzung. Aber auch hier gilt: Wenn zwei sich mit Worten streiten, ereignet sich ein Kampf, den jede Seite gewinnen will. Das klingt erst einmal destruktiv und entzweiend. Doch das wirklich Interessante ist die Erkenntnis, dass gerade der Streit für Zusammenhalt sorgt. Genau das ist die These meines Buches: Nur wo der Streit Raum hat, sind Einheiten möglich. Und: Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen.

Ab wann ist ein Streit ein Streit?

Wenn ich die Sicht meines Gegenübers für falsch, für unterkomplex, gar für gefährlich halte und ich vom Willen geleitet bin, diese Sicht argumentativ zu Fall zu bringen. Wer sich verstehend auf den anderen zubewegt, streitet schon nicht mehr. Das macht das Streiten so heikel: Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.

Was war der Anlass, ein Buch übers Streiten zu schreiben?

Es gab mehrere Auslöser. Zum einen die desaströse Debattenkultur, damit verbunden meine eigenen Erfahrungen in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig habe ich mich dafür interessiert, warum ich eigentlich so gerne streite. Denn ich komme aus einer Familie, in der extrem heftig gestritten wurde. Naheliegend wäre also eine gewisse Harmoniesucht. Doch die gibt es bei mir nicht, weil ich davon überzeugt bin, dass Harmonie keine tiefe Verbundenheit erzeugt. Die entsteht nur, wenn ich mich streiten kann. 

Die NZZ nennt sie «konfliktfreudig», würden Sie sich auch so beschreiben?

Ja, wobei «Konflikt» noch einmal etwas anderes ist als «Streit». Ein Konflikt kann einem Streit zugrunde liegen, ohne dass man diesen Konflikt bewusst wahrnimmt. Man streitet dann über das Falsche und auf der Symptomebene. Gerade in Beziehungen ist das weit verbreitet. 

Sie haben selbst erfahren, wie schnell Streit in Ablehnung oder gar Ausgrenzung umschlagen kann – etwa als Sie beim Deutschlandfunk Kultur für kontroverse Gäst:innen wie AfD-Politiker:innen plädierten oder die MeToo-Bewegung kritisierten. Haben Sie sich in diesen Momenten eher verteidigt oder gestritten?

Streit ist nur möglich, wenn der Rahmen stimmt. Dieser muss ein Messen der Argumente ermöglichen. Das ist leider längst nicht immer der Fall. Mir selbst ist es häufiger passiert, dass ich nicht zur Gegnerin, sondern zur Feindin erklärt wurde.

Inwiefern?  Etwa, indem man mich aufgrund meines Metoo-kritischen Buches «Die potente Frau» als rechte Feministin labelte, mit der man am besten gar nicht erst redet. Mit Feinden misst man sich nicht. Feinde vernichtet man.

Gibt es für Sie auch Grenzen, wo Sie sagen: «Ne, also mit dir rede ich einfach nicht mehr, bringt nix»?

Eine Grenze ist für mich, wenn jemand den Holocaust leugnet. Oder wenn jemand behauptet, dass die Erde eine Scheibe ist. Also ja, es gibt Grenzen dessen, worüber sich streiten lässt. Aber gegenwärtig ziehen wir diese oft zu eng. Dann entsteht Feindschaft.

Was sind die Folgen davon für eine demokratische Gesellschaft?

Die Demokratie selbst gerät in Gefahr, wenn eine Gesellschaft Streit, also die Pluralität von Meinungen, nicht mehr ermöglicht. Dazu kommt: Menschen oder Gruppen, denen kein Gehör mehr geschenkt wird, sind verführt, sich zu radikalisieren. Das bedroht die Demokratie zusätzlich.

Unsplash/Afif Aamdhasuma
Ein Streit kann trennen – oder verbinden: Wer sich offen auseinandersetzt, zeigt dem Gegenüber, dass er ihn ernst nimmt. (Bild: Unsplash/Afif Aamdhasuma )

Im Busch schreiben Sie davon, wie Sie als Kind erlebt haben, wie ihre Mutter mit ihrem Stiefvater so heftig stritt, dass sie Angst hatten, dass jemand stirbt. Wie hat diese frühe Angst Ihre heutige Haltung zum Streit geprägt?

Meine Mutter hat mit meinem Stiefvater auf eine zerstörerische Weise gestritten. Sie ist irgendwann gegangen und hat eine neue Familie gegründet. Ich streite, um bleiben zu können. 

Sie sagen, schlimmer als Streiten ist eigentlich das Nicht-Streiten, das Weglaufen. Woher nimmt man die Kraft, sich nicht zurückzuziehen?

Die Kraft liegt in dem Willen, mit dem Gegenüber weiterhin eine Welt zu teilen. Fehlt mir dieser Wille, dann ist mir der andere möglicherweise egal. Oder ich habe ihn bereits aufgegeben. 

Endet ein guter Streit immer im Kompromiss?

Nein, oft endet er unversöhnlich. Aber wir sollten die Unversöhnlichkeit nicht gering schätzen. Ich mag meine Freunde nicht deshalb, weil sie die Dinge so sehen wie ich. Sondern, weil sie ihre Perspektive gut begründen können und es ihnen um etwas geht. Wir sollten das Verbindende weniger im Resultat des Streits sehen – also im Konsens oder im Kompromiss – sondern im Akt des Streitens selbst. Wenn ich streite, zeige ich dem anderen, dass ich ihn ernst nehme. 

Einlenken oder weiter streiten, das ist oft die Frage. Wie weiss ich, wann ich aufhören muss, zu streiten? 

Ich höre auf, wenn ich zu müde bin. Aber das heisst nicht, dass ich einlenke. Ich brauche nur eine Pause.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde auf Wunsch von Svenja Flasspöhler aus Zeitgründen schriftlich geführt.

Im Tsüritipp vom 30. April findest du News und Events zur Kultur in Zürich. 

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2025-02-04 Sofiya Miroshnyk Portrait

Sofiya Miroshnyk begann ihre berufliche Laufbahn als Chemielaborantin mit einer Ausbildung beim Labor Spiez und anschliessender Tätigkeit bei Givaudan. Nach ihrer Weiterbildung über die BMS am Inforama Zollikofen und der Passerelle am Gymnasium Neufeld studierte sie Philosophie, Politik und Wirtschaft an der Universität Luzern.

Bereits während des Studiums entdeckte sie ihre Leidenschaft für den Journalismus und sammelte erste Erfahrungen bei Tink.ch, wo sie später als Chefredaktorin tätig war. Nach einem Praktikum bei SRF in der Sendung SRF-Schawinski war sie ein halbes Jahr Produzentin bei Schawinski, danach arbeitete sie drei Jahre als Produzentin und Redaktorin bei der SRF-Arena. Es folgten Stationen bei Blick TV und der NZZ am Sonntag. Derzeit ist sie als Redaktorin beim SRF-Club tätig und arbeitet parallel in einem befristeten Teilzeitpensum bei Tsüri.ch.

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