So lebt es sich ohne soziale Medien – Eine Aussteigerin erzählt

Viele Menschen können sich heute ihren Alltag ohne Facebook, Instagram oder Twitter überhaupt nicht mehr vorstellen. Caroline Petritsch hat sämtliche Online-Communities hinter sich gelassen. Was das für ihr Leben bedeutet und ob sie von Entzugserscheinungen geplagt wird, erzählt sie im Interview.

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Was war deine Einstiegsdroge für die sozialen Medien?

Eigentlich hat alles mit Chats begonnen, und aus denen bin ich einige Male rausgeworfen worden. In Zug, wo ich aufgewachsen bin, gab’s eine Lokale Plattform namens speak2us, vergleichbar mit Tilllate.com. So richtig aktiv war ich aber erst im Snowboard-Forum twoleftfeet, wo ich meinen damaligen Boyfriend kennengelernt habe. Wir hatten richtiggehende Hass-Chats, in denen wir nur Blödsinn gepostet haben. Regelmässig und so lange, bis uns die Admins gekickt haben. Also sind wir einfach mit Fake-Profilen zurückgekehrt. Dann kam schon bald Facebook, um 2007, als ich im zweiten Lehrjahr war.

Weshalb bist du zu Facebook gegangen?

Alle haben darüber zu geredet und darum habe ich einfach mitgemacht.

Wie viele soziale Plattformen hast du genutzt?

Nur Facebook und Instagram. Twitter hab ich nie bespielt, obwohl ich einen Account besass, sondern nur die Beiträge anderer gelesen.

Wofür hast du Social Media verwendet?

Anfänglich bloss, um bei Kolleg*innen blöde Kommentare zu platzieren, Fotos zu posten oder Schwärme abzuchecken – was man halt so auf Facebook macht; Leute stalken.

... und zum Chatten?

Ja, um abzumachen oder mit Leuten zu reden, die man schon lange nicht mehr gesehen hatte. Gspänli und Menschen, die man irgendwo auf Welt kennengelernt hat. Auf Reisen wird man ständig nach dem Facebook-Profil gefragt, um sich zu vernetzen. Ich habe auch meinen Onkel und zwei Cousins in Australien über Facebook gefunden. Gegen Ende habe ich viel Politisches gepostet, das mir wichtig erschien. Über Umwelt, Veganismus, Feminismus und was sonst noch so los war. Dabei beschlich mich das Gefühl, dass ich den Leuten damit auf den Wecker ging und dass die meisten Leute zu cool zum Liken sind. An Geburtstagen hagelt es Glückwünsche, aber auf Kommentare und Videos reagiert kaum jemand.

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Seit neun Monaten lebt Caroline Petritsch ohne Social Media (Foto: Laura Kaufmann)

Viele Leute liken Posts nur dann, wenn du Erfolge zu vermelden oder was zu feiern hast.

Dann schon, aber Inhalte interessieren selten. Das geht uns wohl allen so, und ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass wir bombardiert werden und uns gelangweilt durch die Einträge scrollen. Vor fünf Jahren war mir sogar noch wichtig, wie viele Facebook-Freund*innen ich hatte.

Bei manchen Menschen kann eine richtige Sammelsucht aufkommen.

Manche meiner Kolleg*innen hatten über 500 Freund*innen. Da habe ich mich schon oft gefragt, ob sie die alle kennen. Schliesslich gibt man eine Menge von sich Preis. Dennoch gibt einem Facebook nur wenig Kontrolle darüber, was andere sehen können und was nicht. Deshalb habe ich nur Anfragen von Leuten angenommen, die ich schon persönlich getroffen habe. Als Frau bekommt man oft creepy Anfragen. Ich habe einfach die Privatsphäre-Einstellung hochgeschraubt, dann war’s wieder okay.

Wie oft bist du auf Facebook gewesen?

Ich war ständig online. Auch in jeder freien Minute im Büro. Den Peak habe ich dann kurz vor dem Ausstieg gehabt.

Wie muss man sich den Ausstieg vorstellen?

Es ist wie mit dem Rauchen. Der Akt selber war von heute auf morgen vollzogen, aber ich hatte schon länger drüber nachgedacht.

Wie lange hast du über den Exodus nachgedacht?

Die Frage hat mich für längere Zeit beschäftigt. Es hat mehrere Gründe gegeben, die für einen Ausstieg gesprochen haben. Einerseits hat mir Social Media die Zeit genommen, ein Buch in die Hand zu nehmen, obwohl ich sehr gerne lese. Dabei war es irgendwann nur noch Ablenkung. Wie ein Zombie habe durch die Einträge gescrollt, ohne wirklich etwas aufzunehmen.

Trotzdem bist du noch einige Zeit auf der Plattform geblieben.

Ja, ich habe angefangen, mich mit anderen Problemen zu beschäftigen. Ich ging auf die Dreissig zu und habe mir immer mehr Gedanken über das Weltgeschehen gemacht. Mir sind all diese negativen Dinge aufgefallen und ich habe den Drang verspürt, sie anderen mitzuteilen. Dazu passte Facebook gut. Irgendwann habe ich begonnen, Kommentarspalten zu lesen und habe festgestellt, dass dort ganz übles Gedankengut vorhanden ist. Online haben die meisten Leute sehr viel Eier und denken, sie können ohne Konsequenzen alles Mögliche von sich geben, werden gemein und ausfällig. Auch bei meinen eigenen Artikeln habe ich festgestellt: Wenn ihnen was gefällt, bleiben sie still, doch widerstrebt ihnen der Text, zieht ein Shitstorm auf. Da wurde teils so ein Schwachsinn geschrieben, dass ich mich irgendwann nicht mehr zurückhalten konnte und das Bedürfnis verspürt habe, zu antworten. Und wie wir wissen, ist das ein Fass ohne Boden.

Bei Dingen die du geschrieben hast oder bei Beträgen anderer?

Egal wo. Natürlich habe ich gelegentlich übers Ziel hinausgeschossen, aber selbst wenn du relativ bedächtig antwortest, geht’s von allen Seiten los. Stellenweise bin ich richtig hineingezogen worden, bis ich realisiert habe, dass ich diese Leute gar nicht kenne und sie mir deshalb egal sind. Warum also soll ich sie von meiner Meinung überzeugen wollen? Warum so viel Zeit für etwas verschwenden, das dich nur noch hässiger macht?

Wie kam es zum endgültigen Bruch mit Social Media?

Ich habe Facebook zuerst während der Ferienzeit deaktiviert, bin aber dahin zurückgekehrt, weil gerade während der Arbeit manchmal Langeweile aufgekommen ist. Doch ein halbes Jahr später, nach einem fürchterlichen Streit in einer Kommentarspalte, habe ich meinen Account endgültig gelöscht. Und von Instagram habe ich mich konsequenterweise ebenfalls verabschiedet.

Und was ist mit deinen Facebook-Freund*innen passiert? Viele von denen waren wohl Karteileichen, aber mit manchen hattest du bestimmt regelmässig zu tun. Bei einigen ist Facebook gar der einzige Verbindungspunkt. Vermisst du die auch, oder verbuchst du das als virtuelle Episode?

Gute Frage. Ich habe nicht den grössten Freundeskreis, das war schon als Kind so. Nun muss ich mich aktiv um Kommunikation bemühen, etwa über WhatsApp. Wenn ich dann eine*n Freund*in anschreibe, kommt das von Herzen. Denn all die Leute, die mich nur aufgrund einer Erinnerung angeschrieben oder bloss passiv auf meine Posts reagiert haben, können mir eh gestohlen bleiben.

Jemand sagte mal: «Facebook bietet faulen Menschen die Bequemlichkeit, miteinander in Verbindung zu bleiben.»

Es ist nunmal praktisch, rasch einen lustigen Kommentar abzugeben oder geschäftlich ein Wohnungsinserat zu posten. Bei sowas melden sich gleich viele, aber ansonsten eigentlich nie. Klar muss man nicht mit allen befreundet sein, aber auf solche Kontakte kann ich gut verzichten.

Es ist schon so ein Züri-Ding, dass sich die Leute immer erst dann melden, wenn sie was wollen, nicht?

Darin liegt ein grosser Opportunismus, und den kann ich auch nachvollziehen. Wir alle haben ein Leben zu führen und stets keine Zeit. Trotzdem wollte ich konsequent sein. Ich zähle meine echten Freund*innen lieber an einer Hand ab. Und wenn ich mit ihnen Kontakt haben will, dann ruf ich sie einfach an.

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Es soll ja immer noch Leute geben, die telefonieren. Da freut man sich umso mehr, wenn ein Anruf kommt.

Genau! Ich weiss noch, wie ich früher keine Anrufe entgegennehmen wollte und mir stattdessen dachte: Warum schreibt die Person mir nicht einfach?

Wie war die Zeit nach dem Ausstieg?

Es war schwierig und zugleich erleichternd. Zu Beginn hab ich es gar nicht realisiert. Das fand ich dann mega lustig, denn das habe ich nicht erwartet.

Gab es da nie ein Lechzen?

Mein Mann ist noch immer auf beiden Plattformen unterwegs. Manchmal scrollt er im Bett durch die Feeds, und wenn ich nebendran liege, lechze ich schon ein wenig nach Katzenbildern, weil er die ebenfalls mag. Dann schiele ich mit offenem Mund und aufgesperrten Augen rüber, doch wirklich vermissen tu ich es nicht.

Inwiefern hat sich dein Internetkonsum ohne «soziale Medien» verändert?

Ich benutze wieder vermehrt Wikipedia. Ich wähle dort Artikel nach meinen jeweiligen Interessen aus. So nutze ich meine Zeit besser, weil ich erst noch was dazulerne. Ich mag es, wie einem Wikipedia am Ende eines Artikels immer wieder neue Sachen vorschlägt, sodass man weiter und weiter klickt, und sich fast ein wenig darin verliert. Du fängst bei Lavalampen an und hörst zwei Stunden später beim Atomreaktor auf.

Was hast du gelernt aus diesem Dreivierteljahr ohne soziale Medien?

Ich habe begriffen, dass es niemanden interessiert, was ich zu sagen habe, und das ist gut so. Wenn man auf Facebook postet, dann hat man immer das Gefühl, dass es alle sehen müssen. Soziale Medien befriedigen unseren Voyeurismus. Darum finden wir sie geil. Wir können am Leben von anderen teilhaben.

...und exponieren uns gleichzeitig.

Genau. So ist mir aufgefallen, dass es mich gar nichts angeht, was andere Menschen in ihrer Freizeit so treiben und dass ich null Berechtigung habe, ihre Tätigkeiten zu beurteilen oder zu verurteilen. Das geschieht ja automatisch, wenn jemand Urlaubsfotos oder Bilder vom neuen Schatz einstellt. Und gleichzeitig geht es niemanden an, was ich mache – oder nur Leute, die ich auswähle. Ausserdem finde ich es problematisch, wenn man sein Selbstbewusstsein mit dem Zuspruch von Leuten aufpolieren will oder muss, die man gar nicht kennt. Wir sollten unsere Egos nicht noch weiter füttern. Wir werden jeden Tag auf allen Kanälen mit Werbung und Informationen überflutet und stehen ständig unter Strom. Ich habe gemerkt, dass ich einen Gang runtergeschaltet habe. Ohne die sozialen Medien ist alles etwas langsamer.

Hast du keine Angst etwas zu verpassen?

Ich habe durch Social Media ganz fest unter FOMO (Fear of missing out) gelitten. Ich habe mir ständig einen Kopf darüber gemacht, wo gerade was lief. Heute bin ich jemand, die Samstagabend lieber im Pyjama auf dem Sofa fläzt und einen Film schaut.

Wie hat dein Umfeld auf deinen Exodus reagiert?

Es ist erstaunlich, wie wenige Leute sich Gedanken über einen machen. Ich habe es nur meinen Freund*innen und meinen beiden Brüdern gesagt, und die fanden es voll easy. Da merkte ich: Das sind meine wahren Freund*innen, denn die Beziehungen, die man auf Social Media unterhält, haben oft wenig bis keinen Wert.

Titelbild: Timothy Endut

Caroline Petritsch hat eine Zeit lang als Redaktorin bei Tsüri.ch gearbeitet.

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