Schreckgespenst Fentanyl: «Probleme gibt es, wenn die Leute unter Druck kommen»
Der Drogenmarkt ist im Wandel und Zürich wappnet sich für ein Aufkommen von synthetischen Opioiden. Was bedeutet das für die Betroffenen? Ein Besuch in der Kontakt- und Anlaufstelle Kasernenstrasse.
Die Lösung ist ein Provisorium: Die Kontakt- und Anlaufstelle (K&A) auf der Kasernenwiese besteht aus weissen Containern, wie man sie auch auf Baustellen vorfindet. In der Mitte stehen fünf Gartentische, Möbel aus Holzpaletten und darüber der freie Himmel.
Michael, Jahrgang 1972, ist ein feingliedriger Mann in brauner Lederjacke und einer der 1000 Besucher:innen der Zürcher K&As. Neben der Kasernenwiese gibt es noch eine beim Bahnhof Selnau und eine in Oerlikon. Zum Schutz seiner Identität kommt Michael hier nur mit Vornamen vor.
2025 geht das Schreckgespenst Drogenepidemie wieder um. Zürich wappnet sich für ein Aufkommen von synthetischen Opioiden, die bis 200 Mal so potent sind, wie Heroin. Der 30. Jahrestag der Letten-Schliessung weckt Erinnerungen an damals und die Bilder der Fentanyl-Krise in den USA verstärken die Befürchtungen einer neuen offenen Drogenszene in Zürich. Orte wie die K&A sollen dafür sorgen, dass es nicht dazu kommt.
Michael, 53, K&A-Klient: «Probleme gibt es dann, wenn die Leute unter Druck kommen»
Die Bilder aus Amerika kennt Michael, sie erinnern ihn an das, was er in den 90ern in Zürich erlebt hat: «Es ist verrückt, dass sich 30 Jahre später in einem anderen Land dasselbe wiederholt.»
Er macht sich keine Sorgen, dass die Schweiz bald solche Zustände erlebt, wie die USA. Das Angebot, das in den letzten drei Jahrzehnten für die Süchtigen ausgebaut wurde, decke viele Bedürfnisse ab. «Ein Problem gibt es dann, wenn die Leute unter Druck kommen.»
Michael kam auf dem Platzspitz zum ersten Mal mit Heroin in Kontakt. Ein Kollege habe ihn eines Tages mitgenommen und dann war es schnell um ihn geschehen. Als Jugendlicher, von den Eltern rausgeschmissen und alleine auf der Gasse unterwegs, habe der Heroinrausch ihm eine Geborgenheit geben können, die er sonst nirgendwo bekam.
«Nach der Schliessung des Platzspitz hatte ich plötzlich keine Anlaufmöglichkeiten, keinen Ort, wo ich den Stoff herkriegen und konsumieren konnte. Und dann musste schnell eine Lösung her», sagt Michael. Bei vielen war das die Beschaffungskriminalität und der offene Konsum in den Quartieren, die Polizei immer auf den Fersen. «Die Stadt ist damals wahnsinnig repressiv gegen den Heroinkonsum vorgegangen. Diese Zeit war ein Riesenstress.»
Einen Ort zu haben, wo er geschützt Drogen konsumieren kann, sei vor allem jetzt im Alter eine Erleichterung, sagt Michael. «Der Körper hat viel mitgemacht.»
Fast alle K&A Besucher:innen konsumieren mehrere Substanzen
Zugang in die K&A haben nur schwerstabhängige Drogenkonsumierende oder die Sozialarbeiter:innen, die hier arbeiten. Der Ein- und Ausgang wird von der sip überwacht.
Seit der Pandemie ist die Zahl der Drogenkonsument:innen in den Kontaktstellen um rund 25 Prozent gestiegen und gleichzeitig werden die Besucher:innen immer jünger. Das berichtet das Sozialdepartement der Stadt Zürich auf Anfrage. Gleich geblieben ist, dass rund drei Viertel von ihnen Männer sind.
Ein Grossteil der K&A-Nutzer:innen befindet sich in einer Opioid-Agonisten-Therapie, einer Behandlungsmethode für beispielsweie heroinabhängige Menschen. Fast alle konsumieren daneben aber noch andere Substanzen.
Mit über 80 Prozent fällt der Grossteil des Konsums in den K&A auf Crack oder Freebase. Beides ist eine Form von Kokain, das entweder mit Natron oder Ammoniak vermischt und aufgekocht wird. Das High kommt schnell und heftig und ist nach einigen Minuten schon wieder vorbei – und dann folgt das Bedürfnis nach mehr.
In den Containern sind Injektionsräume und ein Inhalationszimmer eingerichtet. Hier kann eine Person 30 Minuten bleiben, dann muss sie der nächsten Platz machen. Eine Sozialarbeiterin sitzt vor der Türe und führt die Warteliste.
Kleinhandel soll offene Drogenszene verhindern
Was die K&A in Schweizer Städten von Konsumräumen in anderen Ländern unterscheidet, ist, dass hier der Mikrohandel unter den Drogenabhängigen toleriert wird. Auf der Kasernenwiese findet er im Fumoir, einem weissen Zelt in der Mitte der Container-Landschaft statt. Offen und für alle einsehbar.
Das ist gesetzlich verboten, wird hier aber von Polizei und Politik geduldet. «Dass wir den Verkauf auf dem Gelände tolerieren, ist einer der Hauptgründe, warum wir in Zürich keine grosse offene Drogenszene haben», sagt Florian Meyer. «Wo verkauft wird, wird auch konsumiert.» Dulde man den Handel nicht, gebe es in kürzester Zeit eine Szene im öffentlichen Raum.
Meyer ist seit acht Jahren Abteilungsleiter der Kontakt- & Anlaufstellen und promoviert zu Bedürfnissen und Ressourcen von Crack-Konsumierenden. «Dieser Mann weiss, wie man eine offene Drogenszene auflöst», schrieb jüngst die Hamburger Morgenpost.
Zürich hat mit seiner Drogenpolitik im Nachgang zu Platzspitz und Letten Schule gemacht. Die Kontakt- und Anlaufstellen sind Bestandteil der 4-Säulen-Politik, die aus Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression/Regulierung besteht.
Auf der Kasernenwiese spricht keiner von Süchtigen oder Abhängigen. Für Meyer und sein Team sind es «Klient:innen» und das Zauberwort heisst «akzeptanzorientiert». Dass es einmal ein Zürich ohne Drogen geben wird, das erwartet hier niemand.
«Ein Schlüssel zum Erfolg ist, dass wir Anlaufstellen haben, die nach den Bedürfnissen der Nutzer:innen ausgerichtet sind», sagt Meyer beim Rundgang durch die Anlage. Hier können die Besucher:innen duschen, schlafen, Kleider tauschen, sich verpflegen. Im Aufenthaltsraum spielt ein Besucher Solitär am Computer.
«Uns ist wichtig, zu erwähnen, dass Crackkonsumierende nicht per se gewalttätig sind», sagt der Sozialarbeiter und zitiert eine Erhebung der Stadt. Diese misst, dass der Crack-Konsum in den K&A seit vielen Jahren ansteigt, parallel dazu die Gewaltvorfälle an den Orten aber gesunken sind. Meyer sieht darin einen Beweis, dass hier die Leute zur Ruhe kommen und so auch das Konfliktpotential sinkt.
Ruhe ist nicht garantiert
Wie fragil diese Ruhe aber sein kann, beweist genau dieser Ort: 2022 wurde die K&A im Kreis 4 wegen Sanierungsarbeiten geschlossen und an den Stadtrand verlegt. Kurz darauf bildete sich auf der nahegelegenen Bäckeranlage eine neue offene Drogenszene. Erst die Eröffnung des Provisoriums Ende 2023 brachte Beruhigung.
Bis auf weiteres ist der zentrale Standort des Konsumraums gesichert. In diesem Herbst wird das Provisorium in die ehemaligen Polizeigaragen in der Nähe verlegt, wie die Stadt mitteilte.
Andy, 59, K&A-Klient: «Zürich hat mich damals aufgenommen»
Andy ist 59 Jahre alt und besucht die K&A täglich. Er erzählt offen über sein Leben. Er sei ein rebellischer Jugendlicher gewesen, sagt Andy. «Ich wollte alles ausprobieren, was verboten ist.» Mit 15 war das Hasch, dann wurde der Stoff härter und irgendwann war Andy Teil der Platzspitz-Szene.
Von seinen Nachbarn und den Behörden im Kanton Schwyz sei er geächtet worden, erzählt Andy. «Zürich hat mich aufgenommen, hier war ich nie ein Aussenseiter», sagt er. Seit fast 30 Jahren ist Andy im Heroin-Substitutionsprogramm.
Die Kontaktstellen sind für Andy auch ein Ort für den sozialen Austausch. «Hier treffe ich Leute, die ich seit 40 Jahren kenne.» Angst davor, dass ihm jemand etwas verkaufe, das mit Fentanyl oder einem anderen synthetischen Opioid gestreckt sei, hat er nicht. «Ich würde das sofort merken, wenn mir jemand gepanschten Stoff verkauft», sagt Andy.
Drug Checking kein Allheilmitel
Dieses vermeintliche Sicherheitsgefühl im Umgang mit Substanzen beobachtet Meyer bei einigen seiner Klient:innen. Seit letztem Jahr gibt es regelmässig Drug Checkings in den K&A, doch auch diese seien kein Allheilmittel, meint Meyer.
«Manche konsumieren schon so lange, dass sie sich als Expert:innen sehen und dem Test-Resultat nicht trauen», sagt er. «Sie sind dann der festen Überzeugung, dass ihr Stoff einen hohen Reinheitsgrad hat – tatsächlich haben sie sich aber an die Streckmittel gewöhnt.» Und andere wiederum suchten gezielt die Wirkung, das durch Streckmittel entstehen kann.
Doch wenn sich der Drogenmarkt im Wandel befindet, greift der Zürcher Weg dann noch? Kritiker:innen sind der Meinung, dass eine Anpassung des Modells notwendig ist.
Florian Meyer ist anderer Ansicht: «Die 4-Säulen-Politik bewährt sich, und es gibt weltweit kein anderes Modell, das ähnlich erfolgreich ist.» Man müsse die Möglichkeiten aber voll ausschöpfen «und hier haben wir sicher im Bereich der Schadensminderung noch nicht das Maximum umgesetzt.»
Das Wichtigste sei, mit den Betroffenen in Kontakt zu bleiben, sagt Meyer. «Niemand will eine offene Drogenszene, niemand will einen Platzspitz 2.0. Weder die Bevölkerung, noch die Konsumierenden.»
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Nina musste als Kind mit ihrer Familie zu oft umziehen und wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie sich dem Lokaljournalismus verschrieben hat. Sie schrieb als freie Journalistin für die Zürichsee Zeitung, Bajour und jetzt für Tsüri.ch. Nina studierte Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten in Fribourg und Basel und verbrachte kurze Zeit in der Medienforschung, wo sie unter anderem auch wieder Lokaljournalismus untersuchte. Seit 2021 ist Nina Mitglied der Geschäftsleitung bei We.Publish.