Jugendkulturhaus Dynamo: Events und Kultur direkt an der Limmat
Gendersterne, Wokeness und gereizte Gemüter: Die Debatte um das Schauspielhaus zusammengefasst
Das Theaterhaus ist seit Monaten wegen niedrigen Publikumszahlen und vermeintlicher «Wokeness» Gegenstand von Diskussionen. Nun will man bei einem Publikumsgipfel eine Bestandsaufnahme wagen. Ein Versuch, die bisherige Debatte zusammenzufassen, die vor allem durch und in der NZZ geführt und in anderen Medien eingeordnet wird.
Im diesjährigen Neujahrsnewsletter des Schauspielhauses kündigten die beiden Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann einen Publikumsgipfel an. Sie erklärten, die Krisen und Konflikte unserer Zeit forderten uns heraus, die eigenen «Haltungen und Gedanken zu überprüfen und zu schärfen und ins Handeln zu kommen». Theaterhäuser könnten solche Räume und Formate zum Gedankenschärfen und Handeln bieten. Welche Formate es speziell beim Schauspielhaus sein sollen, «um sich über wichtige Themen zu verständigen», das wolle man beim Publikumsgipfel gemeinsam mit den Theatergänger:innen besprechen. Es geht um eine Bestandsaufnahme des Bisherigen und um die Frage, wohin es mit dem Theater in Zukunft gehen soll.
Der bisherige Kurs des Schauspielhauses unter der Co-Intendanz war speziell im vergangenen Herbst Gegenstand von Diskussionen. Im Mittelpunkt: Der Rückgang der Publikumszahlen und ein angeblich zu starker Fokus auf Diversität und sogenannte «Wokeness» im Haus. Letzteres führe zu Ersterem, schlussfolgern mehrheitlich bürgerliche Kritiker:innen. So fragt die NZZ im November: «Subventioniert die Stadt mit 40 Millionen ein sektiererisches Gesellschaftsexperiment?» Während in den Jahren vor der Pandemie 95 Prozent der Abonnements zur neuen Spielzeit verlängert worden seien, seien es 2022 nur 72 Prozent gewesen, stellt man fest. «Der Verdacht», so das Blatt: «Das bürgerliche Publikum fremdelt mit dem Programm und bleibt zu Hause. Es möchte Klassiker sehen.»
Dauerpräsenz von Ideologie und Schuldfragen
Im Schauspielhaus herrsche eine «Dauerpräsenz von Ideologie», heisst es weiter. Der Autor zählt zur Illustration die Neuerungen auf, die das Haus seiner Ansicht nach ganz unter dem Stern der «Wokeness» leuchten lassen: Triggerwarnungen und Gendersterne auf der Webseite und in Programmheften, eine hohe Quote von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) im Ensemble, Yuvviki Dioh in der neu geschaffenen Stelle der Diversitätsbeauftragten, die neben Ensemble-Mitglied Sebastian Rudolph «gewacht» habe, als dieser dem Tages-Anzeiger in einem Interview erklärte, er fühle sich am Schauspielhaus sehr wohl und seine vorherigen Aussagen über eine allgemeine Furcht, sich am Theater abweichend zu äussern, seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.
«Wenn ein Mann in Uniform die Bühne betritt, weiss das Publikum schon, dass diese Figur ein Arschloch ist.»
Feuilletonchef Benedict Neff in der NZZ
«Im Grunde kreist fast jedes Stück um Schuldfragen», heisst es im Artikel des NZZ-Feuilletonchefs. Meist habe die Schuld der weisse, reaktionäre Mann oder gleich die ganze Gesellschaft. Dabei sei es ein Problem, dass in den Stücken vieles zu leicht lesbar werde: «Wenn ein Mann in Uniform die Bühne betritt, weiss das Publikum schon, dass diese Figur ein Arschloch ist.» Zudem würden klassische Stücke so stark verändert und aktuellen Diskursen angepasst, dass sie kaum wiederzuerkennen seien. Gefordert wird ein offenes Theater, das «hin und wieder auch die eigenen ideologischen Muster infrage stellt und nicht bloss versucht, die eigene Haltung propagandistisch zu verbreiten».
Anfang 2022, also einige Zeit vor dem Hochkochen der Debatte, hatte das Schauspielhaus eine anonyme Befragung unter 40’000 Besucher:innen der letzten fünf Jahre durchgeführt, wie es in einem anderen NZZ-Artikel heisst. Geantwortet hatten 2000 Personen von durchschnittlich 57 Jahren, die mit dem Schauspielhaus nur zu 55 Prozent «zufrieden» oder «sehr zufrieden» gewesen seien. Das Theater habe im Vergleich zur Befragung 2016 unter Vorgänger-Intendantin Barbara Frey fast überall schlechter abgeschnitten, vor allem habe die Einschätzung der Stücke als «elitär» und «laut/schrill» zugenommen.
Sich gesellschaftlichen Veränderungen nicht verschliessen
Intendant Nicolas Stemann sah sich dazu veranlasst, ebenfalls in der NZZ eine Replik zu verfassen. Das Theater sei in seinen besten Momenten «immer ein Ort gewesen, an dem sich gesellschaftliche Debatten entzündeten, brachen, abbildeten». Man sei angetreten, dies auch im 21. Jahrhundert zu ermöglichen und das Haus für Stimmen zu öffnen, «die bislang von solchen Orten der vermeintlichen Hochkultur ausgegrenzt wurden». Bei dem, was als «Wokeness» abgekanzelt werde, gehe es immer auch um Gerechtigkeit.
«Ein Stadttheater darf nicht die Tradition pflegen, es muss Avantgarde sein.»
Regisseur Milo Rau im NZZ-Interview
Man habe sich der grossen gesellschaftlichen Veränderungen nicht verschliessen wollen, so Stemann, weshalb sie sich mit ihren Konflikten und Debatten nun auch im Haus abbildeten. Und während der Publikumsschwund die Theater- und Veranstaltungswelt gerade überall treffe, werde die Debatte darum nur in Zürich «auf derlei Ressentiment-geschwängerte Art instrumentalisiert» und mit Gendersternen und «Wokeness» verknüpft. Der Abo-Rückgang habe auch damit zu tun, dass das Publikum inzwischen deutlich jünger und vielfältiger geworden sei, was man auch mit dem Rückgang an Abonnements in Verbindung bringen könne – schliesslich hätten junge Menschen nur selten ein Theater-Abo.
Ein Prozess, der an verschiedensten Häusern stattfindet
Auch Regisseur Milo Rau, der im letzten Jahr eine abenteuerliche Fassung des «Wilhelm Tell» auf die Pfauen-Bühne brachte, verteidigt das Schauspielhaus. Ein Theater müsse Avantgarde sein und dürfe keine Traditionen pflegen, sagt er im Interview mit der NZZ. Das Schauspielhaus versuche gerade, zusammen mit einem diversen Ensemble «das eingleisige Literaturtheater zu überwinden» und sei damit in einem Prozess, der an verschiedensten Häusern Europas stattfinde. Es gehe darum, dem Trend entgegenzuwirken, dass das Theaterpublikum einem immer geringeren Prozentsatz der Bevölkerung entspreche und ein jüngeres Publikum zu gewinnen. «Wokeness» bezeichnet er als «Kampfbegriff, den man benutzt, um Reformen in Institutionen als billigen Aktionismus zu brandmarken».
Rau zufolge brauche es beides: Ein paar Klassiker und zeitgemässere, experimentellere Stücke. Die Zuschauer:innenzahlen zeigten das: Neben den Klassikern «Wilhelm Tell» und «Besuch der alten Dame» sei «Bullestress» das meistbesuchte Stück gewesen – eines, das die NZZ als «orthodoxes Woke-Stück» beschreibt.
Wenig Aussagekraft und unhaltbare Vorwürfe
Will man Einordnungen statt Debattenbeiträge, lohnt es sich, die NZZ wegzulegen. Im Branchenmedium nachtkritik.de findet sich ein nüchterner «Gang durch das Dickicht» der Geschehnisse. Darin heisst es zum Publikumsschwund, Zahlen zur Auslastung in den Spielzeiten von 2020 bis 2022 seien angesichts von Corona-Beschränkungen nur wenig aussagekräftig. Auch der Aufruf, die Abonnements für die Spielzeit 2022/23 zu verlängern, der am Ende nur zu einer Rücklaufquote von 72 Prozent geführt hatte, sei im Frühjahr 2022 in eine Zeit gefallen, in der immer wieder Vorstellungen ausgefallen seien. Die besseren Rücklaufquoten in Bern, Basel oder der Zürcher Oper könnten durchaus mit dem Programm am Schauspielhaus zu tun haben – aber auch damit, dass es das einzige reine Sprechtheater in der Reihe sei.
«Im Leitauftrag ist festgehalten, dass das Haus national und international ausstrahlen soll – das tut es.»
Theaterjournalistin Valeria Heintges auf nachtkritik.de
Im Leitauftrag der Intendanten, erarbeitet durch eine vom Verwaltungsrat beauftragte Findungskommission, sei festgehalten, dass das Haus national und international ausstrahlen solle: «Das tut es, wie Einladungen etwa an die Wiener Festwochen, die Salzburger Festspiele oder das Berliner Theatertreffen belegen». Viele Theaterkritiker:innen teilten die Meinung von Stadtpräsidentin Corine Mauch, dass es unter der neuen Intendanz «einige hervorragende Vorstellungen» gebe.
Der Vorwurf, die «Wokeness» sei Schuld am Publikumsrückgang, sei «auch aus nüchterner Instanz nicht haltbar», heisst es weiter. Man lege in der Ansprache des Publikums zwar Wert auf inklusive Sprache, und das «Diskriminierungskritische Glossar» des Stücks «Bullestress» wirke «unangenehm oberlehrerhaft», man sei aber nicht so weit, die klassischen Texte zu gendern. Der Spielplan habe Lücken hin zum Traditionellen, was sich mit der Einstellung einer weiteren Hausregisseur:in im Bereich des traditionellen Sprech- und Literaturtheaters jedoch lösen liesse.
Krise und Gereiztheit
Die Republik sieht die Theaterhäuser angesichts sinkender Zuschauer:innenzahlen generell in der Krise. Zwar gebe es immer noch Publikumsrenner wie «Wilhelm Tell», doch der Abstand zwischen diesen und den anderen Stücken vergrössere sich. Das habe mit unserem Online-Verhalten zu tun und damit, dass Algorithmen «unsere Aufmerksamkeit dahin schwenken, wo schon viele andere sind». Dass langjährige Theaterabonnent:innen Probleme mit neuen Leitungen und den damit einhergehenden Veränderungen hätten, sei dagegen nichts Neues und auch schon beim Start der Intendanz von Christoph Marthaler so gewesen.
Mit dem Theater steckt der Republik zufolge auch die Theaterkritik in der Krise, die spätestens mit der Digitalisierung «zum Minderheitenprogramm geworden ist». Diese doppelte Krise führe zu einer Gereiztheit auf beiden Seiten, noch weiter angefeuert durch aktuelle Kulturkämpfe. So seien in deutschsprachigen Medien in den letzten Monaten vermehrt Debatten um «Wokeness» am Theater entstanden, zum Beispiel in der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung.
Ob es Zeit für eine Versöhnung zwischen Theaterkritik und Theatermacher:innen ist? Der anklagende NZZ-Feuilletonchef scheint insgesamt sogar mehr mit dem Bühnengeschehen anfangen zu können als Regisseur Milo Rau. Während sich der NZZ-Mann anlässlich seiner vernichtenden Kritik am Schauspielhaus drei moderne und zwei klassische Stücke ansieht und am Ende voll des Lobes für genau einen Klassiker ist, erklärt Milo Rau pauschal: «Ich finde von zehn Stücken neun langweilig und unverständlich, eines aber rührt mich zu Tränen.» Die Intendanten von Blomberg und Stemann fanden in ihrem Neujahrsnewsletter, es brauche neue Formate für Debatten und gesellschaftlichen Diskurs, um Konsensbildungen zu ermöglichen und Gemeineinsamkeiten zu erzeugen. Kritiker und Regisseur haben bereits Gemeinsamkeiten gefunden.
Tsüri.ch präsentiert den Publikumsgipfel des Schauspielhauses im Pfauen am Mittwoch, 18. Januar um 19 Uhr.
In einer früheren Version dieses Artikels konnte der Eindruck entstehen, die Abonnementverlängerungen für die Saison 202/23 hätten alle im Frühjahr 2022 stattgefunden. Dies wurde präzisiert.
Das könnte dich auch interessieren: |
Die Beziehung zwischen Kulturschaffenden, Kulturjournalist:innen und Kulturkonsument:innen ist in Schieflage geraten. Isabel Brun und Rahel Bains haben für Tsüri.ch mit einem Journalisten gesprochen, der sich an ein neues Kulturmagazin herangewagt hat. Und mit jenen, die unermüdlich und oft vergebens versuchen, Kulturangebote an die Medien zu vermitteln: Der langsame Tod der Kulturkritik – und dessen Folgen |
Sein Studium in Politikwissenschaften und Philosophie in Leipzig brachte Steffen zum Journalismus. Als freier Journalist schrieb er für die WOZ, den Tagesspiegel oder die Schaffhauser AZ. Laut eigenen Aussage hat er «die wichtigste Musikzeitschrift Deutschlands, die Spex, mit beerdigt». Seit 2020 ist Steffen bei Tsüri.ch. Sein Interesse für die Zürcher Lokalpolitik brachte das wöchentliche Gemeinderats-Briefing hervor. Nebst seiner Rolle als Redaktor kümmert er sich auch um die Administration und die Buchhaltung.
Das mache ich bei Tsüri.ch:
Buchhaltungsordner wälzen, mich im Zürcher Gemeinderat durch's Buffet naschen und mir die Nächte beim Briefingschreiben um die Ohren schlagen. Ausserdem an meinen Abschiedsgrussformeln arbeiten.
Das mache ich ausserhalb von Tsüri.ch:
Die Agglo erkunden.
Über diese Themen schreibe ich am liebsten:
Darum bin ich Journalist:
Ich habe Interesse an fast allem und allen – die wichtigste Grundvoraussetzung für Journalismus.
Das mag ich an Zürich am meisten:
Den Beton. Und die Limmat.
Das könnte dich auch interessieren
«Nicht-professionelle Kunstformen haben einen Platz in der Kultur verdient»
Ein Projekt an der Gessnerallee in Zürich will der Jugend die Tanz- und Theaterszene näherbringen. Reinschnuppern in eine Welt, die einem sonst verborgen bleibt.
«Wir sind hier, wir sind queer, gewöhnt euch dran!»
Das Schauspielhaus Zürich bringt mit «Die kleine Meerjungfrau» eine Inszenierung auf die Bühne, die Drag und Theater vereint. Dragqueens Ivy Monteiro und Klamydia von Karma im Gespräch über Kunst, Kapitalismus und Politik.
«Fotografie ermöglicht mir, eine andere Rolle einzunehmen»
Dieses Wochenende stellen über 250 Fotograf:innen ihre Werke an der Photo Schweiz aus. Daniel Bolliger ist Lead-Kurator der Ausstellung. Ein Gespräch übers Schlussmachen und das Bild, das um die Welt ging.
«Hier soll interdisziplinäres Wabern entstehen»
Eine Gruppe Theaterschaffende will das ehemalige «Hyperlokal» in der Binz weiterführen. Weshalb sie dafür Geld sammeln, erzählen die Köpfe hinter dem Projekt, Johannes Schmidt und Kian Schwabe, im Interview.