Statuen, Brücken, Plätze: Wer prägt Zürichs Erinnerung?
Wer wird geehrt, wer vergessen? Im öffentlichen Raum weist die Stadt Zürich ein stark männlich geprägtes Geschichtsbild auf. Die neue Strategie Erinnerungskultur reagiert auf die Kritik und will Frauen und Minderheiten sichtbarer machen.
Zürich ordnet seine Geschichte neu. Am Montag stellte die Stadt die neue Strategie Erinnerungskultur vor. Es soll ein Leitfaden dafür sein, wie künftig mit Denkmälern, Strassennamen und historischen Orten umgegangen werden soll. Damit reagiert die Stadt auf ein Bedürfnis, die Geschichte Zürichs umfassender zu erzählen, wie es in der Strategie heisst.
Besonders im Fokus stehen dabei die Perspektiven von Frauen und Minderheiten, die im Stadtbild deutlich unterrepräsentiert sind. Aktuell sind zehn Prozent der nach Menschen benannten Zürcher Strassen Frauen gewidmet. Laut der Stadt wäre es sogar denkbar, dass Denkmäler entfernen werden könnten.
Frauen sind deutlich unterrepräsentiert
Das zeigt sich mit einem Blick auf die Denkmäler der Stadt: In einem Bericht untersuchte Georg Kreis, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Basel, 38 Monumente – nur zwei erinnern an Frauen. Eine davon ist kaum als solche erkennbar, denn es handelt sich um eine rechteckige Blockskulptur. Sie soll die letzte Äbtissin des Fraumünsters, Katharina von Zimmern ehren.
Die Kunstkommission sprach sich 2004 gegen eine Figur aus, da dies nicht mehr zeitgemäss sei. Der Gemeinderat kritisierte 2021 den Entscheid, da gerade Männer in Zürich mit Statuen geehrt werden, Frauen jedoch kaum. Das zweite weibliche Denkmal ist die Figur auf dem Lindenhof-Brunnen, die oft «Hedwig» genannt wird. Denkmäler für weibliche Persönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit fehlen.
Tatsächlich erinnern noch weitere Denkmäler an bedeutende Frauen, wie das anonyme Künstlerinnenkollektiv Hulda Zwingli auf Anfrage schreibt. Nur werden diese selten als solche wahrgenommen. Etwa der Orellibrunnen in Zürich-Fluntern, der Susanna Orelli-Rinderknecht ehrt. Sie engagierte sich früh in Hilfsvereinen und gründete später den Frauenverein, der bis heute alkoholfreie Restaurants betreibt, darunter das «Karl der Grosse». Für ihr soziales Wirken verlieh ihr die medizinische Fakultät der Universität Zürich als erste Frau die Ehrendoktorwürde.
Wie wichtig solche Denkmäler das Bewusstsein für die Rolle von Frauen in der Stadtgeschichte seien, beleuchte der Bericht eher wenig, schreibt Hulda.
Geht es Stüssi und Bullinger an den Kragen?
90 Prozent der nach Menschen benannten Strassen und 95 Prozent der städtischen Denkmäler sind Männern gewidmet. Unter ihnen finden sich etliche, die heute wohl kein Denkmal mehr bekämen. Im Leitbild der Strategie heisst es: «In Härtefällen kann eine Entfernung oder Anpassung geprüft werden.» Geht es also bald einigen männlichen Statuen an den Kragen?
Kontroverse Männer, die mit Denkmälern geehrt wurden, gibt es genug: So etwa den einstigen Zürcher Bürgermeister Rudolf Stüssi. Ihm gilt das älteste Denkmal der Stadt, der Stüssibrunnen, und die Stüssihofstatt. Stüssi riss den Alten Zürichkrieg (1436 bis 1450) vom Zaun, in dem sich die Stadt Zürich mit der gesamten Eidgenossenschaft anlegte.
Dafür suchte er sogar Unterstützung vom habsburgischen Österreich, weshalb ihm die restliche Schweiz Verrat an der Eidgenossenschaft vorwarf. Er fiel schliesslich 1446 bei der Verteidigung der Limmatbrücke. Schwer vorstellbar, dass die derzeitige Stadtpräsidentin Corine Mauch eine Statue bekäme, würde sie einen Krieg mit der restlichen Schweiz anzetteln.
Auch der einstige Bürgermeister Rudolf Brun ist umstritten: Er putschte sich an die Macht, ernannte er sich zum Bürgermeister auf Lebenszeit und unterdrückte in der «Zürcher Mordnacht» einen Gegenputsch blutig. Zudem fiel das Pogrom an der jüdischen Gemeinde im Jahr 1349 in seine Amtszeit. Bereits 1997 verlangte deshalb ein Postulat im Gemeinderat die Umbenennung der Rudolf-Brun-Brücke. Im Jahr 2022 forderte die Alternative Liste eine Umbenennung in «Frau-Minne-Brücke».
Heinrich Bullinger ist in Zürich ebenfalls prominent vertreten und prangt am Grossmünster. Dabei sprach sich der Nachfolger Zwinglis in seinem Buch «Wider die schwarzen Künste» für die Tötung von Hexen aus. In der Folge kam es zu einer «grossen Verfolgungswelle mit einer Vielzahl an Todesurteilen», wie der Kanton Zürich in einer Studie schreibt.
Auch auf Alfred Eschers Statue, die prominent am Zürcher Hauptbahnhof thront, haben es Aktivist:innen seit den «Black Lives Matter»-Protesten im Jahr 2020 immer wieder abgesehen, denn Eschers Familie gehörte eine Sklavenplantage auf Kuba. Das wirft die Frage auf, ob die Gründung der ETH, der SBB, der Schweizerischen Kreditanstalt (später Credit Suisse) und der Bau des Gotthardtunnels auch ohne koloniale Verbindungen möglich gewesen wären.
Er zog gegen die Eidgenossenschaft in den Krieg: Rudolf Stüssi. (Bild: Roland Fischer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons) Mit seinem Werk 1571 erschienen Buch «Wider die schwarzen Künste» heizte Heinrich Bullinger die Hexenverfolgung an. (Bild: Roland Fischer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons) Alfred Escher hat zweifellos viel für die Stadt Zürich getan: Doch wäre das auch ohne den kolonialen Reichtum seiner Familie möglich gewesen? (Bild: Tsüri.ch/Kai Vogt)
Diese Frauen kamen jüngst hinzu
In den vergangenen Jahren hat Zürich begonnen, das Ungleichgewicht der Geschlechter zu korrigieren. Immer öfter würdigt die Stadt bedeutende Frauen im öffentlichen Raum. So hat die Stadt erst im Oktober beschlossen, einen Platz auf dem Areal Letzibach an der Hohlstrasse in Altstetten nach der marxistischen Aktivistin und Philosophin Rosa Luxemburg zu benennen. Der Platzbenennung war ein langes politisches Tauziehen vorausgegangen.
Zudem trägt ein Spielplatz an der Lutherstrasse neben der St. Jakobs-Kirche im Kreis 4 seit April 2020 offiziell den Namen «Mentona-Moser-Anlage». Mentona Moser, geboren 1874 in Badenweiler, Deutschland, war eine Pionierin der Kinder- und Sozialfürsorge und setzte sich ihr Leben lang für bessere Lebensbedingungen, Spielplätze und Grünflächen ein.
Ebenfalls trägt der Platz an der Lang- und Josefstrasse im Kreis 5, bisher umgangssprachlich als «Dennerplatz» bekannt, seit April 2020 den Namen Emilie-Lieberherr-Platz. Emilie Lieberherr wurde 1924 in Zürich geboren, war eine Pionierin der Gleichstellung, erste Frau im Zürcher Stadtrat und langjährige Vorsteherin des Sozialamts.
Der Platz vor dem Gewerbezentrum der Stiftung St. Jakob an der Viaduktstrasse 20 im Kreis 5 trägt den Namen Marie-Bürkli-Eck. Bürkli, die 1864 geboren wurde, war eine Pionierin des Schweizer Sozialwesens und setzte sich besonders für die Eingliederung blinder Frauen und Männer ein.
Auch die geplante Velobrücke zwischen den Kreisen 4 und 5 soll einer Frau gewidmet werden und Franca-Magnani-Brücke heissen. Magnani (1925 bis 1996) war eine der ersten Journalistinnen der Schweiz. Als Kind floh sie mit ihrer Familie vor Mussolini ins Exil und wuchs in Zürich auf, wo sie früh politisch geprägt wurde. Sie schrieb für bekannte Schweizer Medien, arbeitete später als erste weibliche ARD-Auslandkorrespondentin in Rom.
Keine Warteliste für Denkmäler
Welche Projekte sind in nächster Zukunft geplant? Barbara Kieser, Projektleiterin der städtischen Strategie Erinnerungskultur, schreibt dazu auf Anfrage: «Es gibt keine eigentliche Warteliste für Denkmälern.» Drei Vorstösse liegen derzeit auf dem Tisch: ein figürliches Denkmal für Katharina von Zimmern, ein Mahnmal zur Hexenverfolgung, eines zur offenen Drogenszene. Dazu sagt Kieser: «Diese Vorstösse werden im Lichte der neuen Strategie Erinnerungskultur zu beurteilen sein.»
Sie soll festlegen, wem Zürich künftig ein Denkmal setzt und wem nicht.
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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.
Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch